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Wer hat die beste Bilanz?

Die deutsche Börse ist im Höhenrausch. Kaum ein Tag vergeht ohne neue Kursrekorde. Doch sind die hohen Aktienpreise der Konzerne wirklich gerechtfertigt? Ein Professor seziert die Bilanzen.
Von Christoph Seeger
aus manager magazin 8/1998

Seit Jahresbeginn hat der Deutsche Aktienindex (Dax) knapp 40 Prozent zugelegt. Der Index nimmt auf der Hitliste der bedeutenden Handelsplätze einen Spitzenplatz ein. Die Musik, so scheint es, spielt bei den großen deutschen Konzernen.

Doch Größe allein ist kein Garant für dauerhaften Erfolg. Ein Blick in die Bilanzen beweist allen Kursrekorden zum Trotz, daß keineswegs alle Dax-Werte in Bestform sind.

Exklusiv für das manager magazin hat Jörg Baetge, Professor an der Universität Münster und einer der führenden deutschen Betriebswirte, die Bilanzen von 24 Aktiengesellschaften des Dax intensiv geprüft. Das Ergebnis des wissenschaftlich fundierten Ratings zeigt Licht und Schatten (siehe Tabelle Seite 94).

Börsenstar Adidas, der erst vor gut einem Monat in den Dax aufgenommen wurde, landet auf dem vorletzten Rang. An letzter Stelle steht - wie bereits im Vorjahr - der Handelskonzern Metro; unter anderem wegen der unbefriedigenden Eigenkapitalquoten und der im deutschen Vergleich schlechten Renditekennziffern.

Spitzenreiter ist wie seit Jahren schon die Softwarefirma SAP. Das Walldorfer Unternehmen erreicht erneut mit Abstand Platz eins. Als einziger Blue chip erhält SAP von Baetge daher das Gütesiegel AA für ausgezeichnete Bilanzqualität.

Deutlich fällt dagegen der Abstieg des Chemieriesen Hoechst auf. 1993 war das Unternehmen zusammen mit den Konkurrenten BASF und Bayer in der Spitzengruppe vertreten. Heute liegen Welten zwischen den Wettbewerbern. Hoechst rangiert nur noch auf Rang 22, sechs

Plätze schlechter als im Vorjahr. Zu den Verlierern gehören außerdem das Maschinenbauunternehmen MAN, das vom 12. auf den 18. Platz absackte, und der Frankfurter Mischkonzern Degussa auf Platz 19.

Zu den Aufsteigern des Jahres zählen die Pharmafirma Schering und Autohersteller Volkswagen. Den größten Sprung nach vorn machte allerdings die Deutsche Lufthansa, die sich von Platz 15 auf Rang 9 verbessern konnte (siehe Graphiken Seite 95).

Baet- ges Rating ist eine der anerkanntesten Un- tersuchungen dieser Art. Schon seit 1980 arbeitet der Bilanz- experte an seiner Methode zur Früherkennung von Unternehmensrisiken. Anhand einer Datenbank mit über 200 000 Jahresabschlüssen analysieren der Professor und seine Mitarbeiter die Bilanzen gesunder wie insolventer Unternehmen.

Anhand eines Katalogs von 209 Unternehmenskennzahlen testete ein neuronales Netz - das ist ein computergestütztes Analyseverfahren - die Aussagekraft dieser Bewertungshilfsmittel. Ziel der Analyse war es, diejenigen Kennziffern herauszufiltern, die eine Gefährdung des Unternehmens am besten vorhersagen. Das Ergebnis sind 14 Kennzahlen, die nach Baetge die Vermögens-, Finanz- und Ertragslage am zutreffendsten beschreiben. Dazu gehören die Fremdkapitalquote, die Finanzkraft und die Cash-flow-Kennzahlen (siehe Tabelle Seite 96).

Die 14 Indikatoren des Baetge- Bilanzratings wurden an Tausenden von Jahresabschlüssen überprüft und zum sogenannten N-Wert verdichtet. Sechs Güte- und vier Risikoklassen geben auf einen Blick Auskunft über die Situation der Gesellschaft (siehe Tabelle Seite 95).

Je höher der positive Wert der Su- perkennzahl N-Wert ist, um so robuster und krisenfester ist das untersuchte Unternehmen. Je negativer der Wert ausfällt, um so eher sind Sorgen um den Bestand der Firma angebracht. Insolvenzgefährdete Unternehmen kann Baetge durch diese Methode mit einer Trefferquote von 91,5 Prozent rechtzeitig vor dem Konkurs entdecken.

Daß dieses Rating zuverlässig arbeitet, belegt zum Beispiel der Fall Escom. Schon Jahre vor der Pleite errechnete sich aus der Bilanz der Computerfirma ein N-Wert von minus neun. Damit wurde Escom in die Risikoklasse IV eingeordnet, als ein Unternehmen mit sehr hoher Bestandsgefährdung. Das Risiko eines Konkur- ses war 15mal höher als bei einem deutschen Durchschnittsunternehmen, dessen Risiko, pleite zu gehen, bei einem Prozent liegt.

Baetges Rating ist praxiserprobt. Zahlreiche Banken und Versicherungen verwenden speziell auf ihre Bedürfnisse zugeschnittene Versionen. Wichtig ist das Rating zum Beispiel bei der Bewertung von Kreditrisiken.

Aber auch für Wirtschaftsprüfer kann das Rating eine große Hilfe sein. Nach dem Gesetz zur Kontrolle und Transparenz im Unternehmensbereich müssen die Prüfer demnächst die Bestandsrisiken ihrer Mandanten bewerten (siehe Kasten Seite 98).

Auch durch Bilanztricksereien, durch das Ausnutzen von Wahlrechten bei der Bilanzierung, wird das Ergebnis des Ratings nicht beeinflußt. "Gegen kreative Bilanzierung setzen wir kreative Analyse ein", kontert Baetge.

Als die Commerzbank zum Beispiel durch das sogenannte Sale-andlease-back-Verfahren ihr altes Frankfurter Verwaltungsgebäude verkaufte und anschließend anmietete, hätte das erheblichen Einfluß auf die übliche Eigenkapitalquote gehabt. Baetge korrigiert seine Eigenkapitalquote aber um die Position Grundstücke und Gebäude. Die Superkennzahl N-Wert bleibt so von Gestaltungsspielräumen und Bilanzpolitik unbeeindruckt.

Auch die Wahl der Rechnungs- legungsstandards, ein Thema, das in Deutschland zur Zeit heiß diskutiert wird (siehe Interview Seite 111), bewirkt kaum eine Veränderung des N-Werts. Bei Hoechst, Bayer, Schering und Henkel, die nach den International Accounting Standards (IAS) bilanzieren, und bei Veba, Telekom und Daimler-Benz, die sich am US-Standard GAAP orientieren, ergeben sich im Vergleich zu deren deutschen HGB-Abschlüssen nur kleine Unterschiede, die zu vernachlässigen sind.

Die Ergebnisse des Ratings haben um so mehr Gültigkeit, als Baetge allen geprüften Unternehmen Gelegenheit gegeben hat, die reine Datenerfassung für die Jahre 1993 bis 1997 gegenzuchecken. Änderungswünsche der Finanzvorstände wurden allerdings nur akzeptiert, wenn sie anhand der Angaben in den Geschäftsberichten für den Bilanzexperten auch tatsächlich nachvollziehbar waren.

Baetges Untersuchung greift sehr tief. In seinen Berichten über die einzelnen Unternehmen werden die Bilanzen praktisch seziert. Bis zu 20 Seiten umfaßt eine Bilanzexpertise. Sie gibt Auskunft, welche Kennzahlen und damit welche Bilanzposten den N-Wert beeinflussen. Denn nicht alle 14 Kennzahlen wirken gleich stark auf die Bilanzbonität.

Wichtigster Grund für den Erfolg des Aufsteigers Lufthansa war zum Beispiel der Anstieg der Umsatzrentabilität. Die Fluggesellschaft konnte ihre Umsatzerlöse um 11 Prozent auf über 23 Milliarden Mark steigern. Der Personalaufwand, eine der größten Aufwandspositionen, wuchs nur um 5 Prozent. Auch die gestiegenen Cashflow-Kennzahlen sorgten für einen höheren N-Wert. Die Renditekenn- ziffern der größten deutschen Flug- gesellschaft liegen nun nur noch knapp unter dem deutschen Durchschnitt. Beim Autobauer Volkswagen wirkt die Verbesserung der Fremdkapitalquote am stärksten auf den N-Wert. VW weist bei diesem Maß für die Verschuldung eines Unternehmens einen Wert von 50 Prozent auf.

Zum Vergleich: Der Schnitt bei deutschen Unternehmen liegt bei 65 Prozent. Aber auch Renditekennzahlen trugen zum besseren Abschneiden von Volkswagen bei: eine direkte Folge des um 800 Millionen Mark gestiegenen ordentlichen Betriebsergebnisses.

Der Pharmakonzern Schering glänzt mit höheren Cash-flows. Dank erfolgreichen Präparaten gelang es dem Berliner Unternehmen, die Umsatzerlöse um fast eine Milliarde Mark auf über 6,2 Milliarden Mark zu steigern. Die ebenfalls verbesserte Finanzkraft Scherings, also die Möglichkeit, Schulden zu tilgen, hat den zweitstärksten Einfluß auf den N-Wert.

Ganz anders sieht es bei Hoechst aus. Die Eigenkapitalquote 1 aus Baetges Rating sank auf nur noch 10 Prozent. Verantwortlich für diese Entwicklung ist der Anstieg der Geschäfts- und Firmenwerte, die wegen der Vergleichbarkeit nicht angerechnet werden, sowie die um gut fünf Milliarden Mark erhöhten Verbindlichkeiten. Die Pläne des Vorstandsvorsitzenden Jürgen Dormann, aus dem Chemieriesen einen sogenannten Life-Science-Konzern zu machen, kosten viel Geld.

Die jüngste Akquisition, der Kauf noch ausstehender Anteile der französischen Pharmatochter Roussel Uclaf Anfang 1997, schlug mit 5,4 Milliarden Mark zu Buche. Der Erwerb des US-Pharmakonzerns Marion Merrell Dow vor drei Jahren hatte bereits rund zehn Milliarden Mark gekostet. Auch wenn Hoechst durch den Verkauf einiger Sparten, etwa der Spezialchemikalien an die schweizerische Firma Clariant, frisches Geld zufloß, summieren sich die Finanzschulden in der aktuellen Bilanz auf 16,6 Milliarden Mark.

Beim Maschinenbauer MAN hapert es dagegen hauptsächlich an der Rendite. Ursache dafür ist unter anderem der niedrige ertragswirtschaftliche Cashflow. Die Umsatzrendite von MAN ist nur ein Viertel, die Cash-flow-Zahlen sind kaum halb so gut wie der bundesdeutsche Durchschnitt.

Der Mischkonzern Degussa schließlich verdankt seine schlechtere Plazierung einer ungünstigeren Eigenkapitalquote. Verantwortlich dafür ist der gleichzeitige Anstieg der Bilanzsumme um mehr als eine Milliarde Mark und des Geschäfts- und Firmenwerts um knapp 130 Millionen Mark, da Degussa im vergangenen Jahr erstmals drei Tochterunternehmen voll konsolidierte. Die 130 Millionen Mark rechnet Baetge aus dem wirtschaftlichen Eigenkapital heraus. Eine höhere Verschuldung als 1996 sorgte dafür, daß Degussa auch bei der Fremdkapitalquote schlecht abschnitt.

Auch wenn etliche Gesellschaften aus dem Dax künftig aufmerksam beobachtet werden müssen, bleibt nach Baetges Rating doch ein positiver Gesamteindruck. Keiner der 24 untersuchten Konzerne mußte in eine Risikoklasse eingestuft werden. Eine akute Bestandsgefährdung von Deutschlands Vorzeigeunternehmen besteht daher nicht. Christoph Seeger

Lesen Sie bitte weiter auf Seite 111.

[Grafiktext]

Die Bilanzbonität der Blue chips aus Industrie und Handel Gewinner und Verlierer im Bonitätsrating Bilanzbonität nach zehn Kategorien

[GrafiktextEnde]

Lesen Sie bitte weiter auf Seite 111.

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