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Traumjobs für Mutige

IT-Branche: Sind Sie Pfarrer, Chemiker oder Jurist? Kein Hindernis für eine steile Karriere in der neuen Wirtschaft. Dort gibt es 75 000 freie Stellen - die Gelegenheit für fachfremde Einsteiger und Umsteiger. Trauen Sie sich, und zeigen Sie, was sie drauf haben.
Von Silke Gronwald und Claus G. Schmalholz
aus manager magazin 3/2000

Jost Große Meininghaus (35) war ein schwieriger Fall. Nach dem Abitur studierte er das, worauf er Lust hatte: Chemie. Sechs

Jahre später hatte er sein Diplom -

aber null Chancen auf einen Job. Niemand brauchte 1995 einen Chemiker.

Auch Thomas Becker (38) nicht. Der Leiter der Produktentwicklung bei Buhl Data Service suchte einen kreativen Kopf für seine neue Geschäftsidee: virtuelle Reiseführer. Doch so einer war am Arbeitsmarkt nicht zu finden. In seiner Not setzte Becker auf Risiko und stellte Meininghaus ein. Einen, der weder von Programmierung noch von Geografie Ahnung hatte.

Der arbeitslose Chemiker hatte andere Qualitäten. Er begeisterte sich für die neuen Medien und versprach, mit voller Kraft das Projekt voranzutreiben. Und tatsächlich - nach ein paar Monaten präsentierte der Risikokandidat ein Produkt, das alle Erwartungen übertraf.

Mittlerweile hat Meininghaus sein Spektrum erweitert. Seine Finanzsoftware unter dem Logo der ZDF-Wirtschaftssendung Wiso landet bei Tests regelmäßig auf den Spitzenplätzen. Chemiker Meininghaus ist inzwischen zum Chefentwickler avanciert.

Zugegeben: So einer wie Meininghaus braucht auch immer ein Quäntchen Glück. Dennoch ist seine Karriere nicht ungewöhnlich: Noch nie hatten Neueinsteiger so gute Aussichten in der IT-Industrie wie heute; noch nie waren Quereinsteiger aus anderen Berufen so gefragt; noch nie war es für Umsteiger aus anderen Branchen einfacher, im E-Business Karriere zu machen und - alles ist möglich - rasch bis in den Vorstand aufzusteigen.

Mindestens 75 000 Arbeitsplätze seien derzeit nicht besetzt, schätzt Bitkom, der Bundesverband der IT-Unternehmen. Europaweit gebe es sogar 370 000 offene Stellen. Und das sind nicht nur Programmiererjobs.

Vor allem in den klassischen Unternehmensbereichen wie Marketing, Vertrieb und Controlling suchen die Personalchefs verzweifelt Leute. Auch in neu entstandenen Berufen wie Screen-Designer, Webmaster oder Info-Broker gibt es bedeutend mehr Stellen als Bewerber. Manche Firma sieht im Nachwuchsproblem ein ernstes Handikap für die langfristige Entwicklung. "Viele deutsche Unternehmen können gar nicht so wachsen, wie sie wollen. Darum humpeln sie im weltweiten Wettbewerb hinterher", klagt Richard Seibt (47), Vorstand beim Börsenliebling 1&1, der gerade zu United Internet umfirmiert.

Die wunderbare Jobvermehrung hält an. Allein in den nächsten vier Jahren sollen 100 000 zusätzliche Arbeitsplätze in der virtuellen Welt rund ums Internet entstehen. Detailwissen von Bits und Bytes ist nur bei einer Minderheit der Stellen nötig, rund einem Drittel. Die Mehrzahl der begehrten Kandidaten muss beraten, verwalten oder verkaufen können.

Gesucht werden vor allem Wirtschafts- und Naturwissenschaftler mit IT-Know-how, aber auch Geistes- und Sozialwissenschaftler, selbst Studienabbrecher haben glänzende Chancen.

Doch - man mag es kaum glauben - kaum einer nutzt die Möglichkeiten.

Warum nicht? Wie kann es zu der paradoxen Situation kommen, dass knapp 200 000 arbeitslose Akademiker frustriert in den Fluren der Arbeitsämter hocken, während bei den IT-Firmen die Arbeit liegen bleibt?

Wie kann es sein, dass sich bei den traditionellen Unternehmen wie Deutsche Bank, DaimlerChrysler oder BASF die Bewerbungsmappen meterhoch stapeln - hingegen die Briefkästen der aufstrebenden Internet-Firmen leer bleiben? Zumal deren Anforderungen an die Bewerber längst nicht so starr sind wie bei den etablierten Multis?

IT-Studium, gute Noten, stringenter Lebenslauf? Nein, das ist bei den Jungen nicht so entscheidend. Wegen der großen Personalnot sind sie zu Kompromissen bereit. Bei ihnen haben auch fachfremde Bewerber beste Chancen, interessante und gut bezahlte Jobs zu finden.

Bei manchen IT-Unternehmen ist die Verzweiflung schon so groß, dass ihre Jobangebote Hilferufen gleichen. Die Softwarefirma Tobit offeriert sogar Bewerbern einen Platz, für die sie im Moment gar keine Stelle frei hat. Auf der Tobit-Homepage ist folgendes zu lesen: "Es ist zur Zeit nichts Passendes für Sie dabei? Macht nichts. Sie sollten sich dennoch an uns wenden. Für hoch motivierte Menschen haben wir immer ein freies Büro. Schreiben Sie uns einfach, was Sie besonders gut können." Die ehemalige Jurastudentin Andrea Brinkmeier (28) hat eine Erklärung für den Bewerbermangel: "Viele Hochschulabsolventen haben die IT-Branche einfach nicht auf dem Radarschirm." Brinkmeier wagte den Schritt in die neue Geschäftswelt schon während des Studiums. Sie absolvierte diverse Praktika. Heute ist sie Texterin bei der Hamburger Multimediaagentur SinnerSchrader.

Brinkmeier ist die Ausnahme. Der Großteil ihrer Kommilitonen pflegt weiter seine Vorurteile. Viele denken bei Informationstechnologie immer noch an bleichgesichtige Computerfreaks, die einsam über ihren Kisten brüten; an struppige Hacker, die zwischen Pizzaresten und leergefutterten Chipstüten hocken und sich an ihren genialen Programmcodes berauschen. Die IT-Branche als Sperrgebiet für weltfremde Fachidioten?

Welch ein Irrtum. "Keine andere Branche ist so aktuell und verändert sich so schnell. Nirgendwo sonst kann man so viel bewegen und gestalten", sagt Markus Kerber (36).

Wie ernst der Mann das meint, zeigt sein eigener Werdegang. Einst arbeitete er als Investmentbanker bei der renommierten Morgan Grenfell. Heute ist er Finanzvorstand beim Start-up GFT Technologies, das individuelle Firmensoftware für den E-Commerce herstellt.

Dass er für diesen Karrieresprung aus dem quirligen London ins beschauliche Schwarzwald-Städtchen St. Georgen wechseln musste, nahm Kerber gern in Kauf: "Ich will bei dieser rasanten Entwicklung des Internet-Geschäfts dabei sein."

Die IT-Unternehmen verdoppeln und vervielfachen ihre Umsätze innerhalb von Monaten, ihre Börsenkurse explodieren, sie fusionieren, kaufen andere Firmen auf, wollen die Weltmärkte erobern. Und sie schaffen jede Menge neue Jobs.

SinnerSchrader ist ein gutes Beispiel für die Dynamik der Branche. Seit 1996 wuchsen die Zahl der Mitarbeiter, der Umsatz und der Gewinn jedes Jahr mit dreistelligen Raten. Noch beeindruckender sind die Sprünge der Großen, wie der DaimlerChrysler Services (Debis) AG. Das Dienstleistungsunternehmen hat für die beiden Geschäftsbereiche Financial Services und IT Services allein in den vergangenen drei Jahren 14 000 neue Mitarbeiter eingestellt. "Und auch in diesem Jahr wollen wir wieder kräftig zulegen", sagt Norbert Bensel, Personalvorstand bei Debis. Dieses Tempo lässt keine Zeit für behäbige Bewerberauswahl. Wer mit dicken Mappen, per Post verschickt, Eindruck schinden will, kann es gleich vergessen. Die Bewerbung von heute wird online zum Arbeitgeber gejagt: pfeilschnell, praktisch, preiswert. Überzeugt wird nicht mit Topnoten, sondern mit einem Link zur selbstgestalteten Homepage.

"Selbst wenn wir wollten, könnten wir nicht nur nach Zeugnissen auswählen. Für unsere Jobs gibt es noch gar keine Ausbildung", erklärt Thorsten Rauser (27) von der Reutlinger IT-Firma Rauser Advertainment, die Unterhaltungssoftware und Managementsimulationen produziert.

Für Rauser qualifiziert sich, wer medienbegeistert ist, wer Leidenschaft für die Branche mitbringt. Wie sich das überprüfen lässt? Ganz einfach. "Das sind Leute, die gern ins Kino gehen und sich für eine einzige Kameraeinstellung begeistern können", sagt Rauser.

Motivation ist wichtiger als Fach-Know-how. Und weil sich das wahre Wissen sowieso erst im Beruf bildet, verlangen die jungen Unternehmen von ihren Mitarbeitern vor allem Engagement und Eigeninitiative. Zeit für behutsame Einarbeitung, für lange Trainee-Programme können sie ihren Schützlingen nicht zugestehen.

Schlechte Bedingungen für Befehlsempfänger, aber traumhafte Verhältnisse für Machertypen wie Frank Stähler (22). Der einstige kaufmännische Angestellte beim Deutschen Roten Kreuz ging zum Telekommunikationsunternehmen Teldafax. Dort konnte er endlich seine wahren Qualitäten zeigen. Er fing ganz klein in der Kundenbetreuung an und erkämpfte sich innerhalb von nur drei Monaten seinen Traumjob in der Abteilung Investor Relations.

Jetzt berichtet er direkt an den Vorstand, verhandelt eigenständig mit Analysten und ist mit seinen 22 Jahren der jüngste Finanzexperte am gesamten Neuen Markt.

Doch der rasante Aufstieg hat seinen Preis. Wenn die Teldafax-Aktienkurse plötzlich fallen, klingeln bei Stähler sofort die Telefone. Wie im vergangenen Jahr, als sich der Kurs des Unternehmens gesechstelt hatte.

Da eskalierte so manches Gespräch, das Stähler mit aufgebrachten Großaktionären führen musste. Was genau sie in den Hörer brüllten, will er nicht preisgeben, nur so viel: "Bei Verlusten in Millionenhöhe bleibt eben keiner locker."

Lange muss er sich die Beschwerden nicht mehr anhören. Stähler macht den nächsten Karrieresprung. Er wechselt die Seiten und geht zur US-Firma Morgen Walker Scior als Investor-Relations-Manager für die Frankfurter Geschäftsstelle. Dort betreut er junge Internet-Unternehmen beim Gang an die Börse.

Woher hat er das nötige Know-how für den Beruf? Er sei ein Autodidakt, und die Börse habe ihn schon immer fasziniert, sagt er.

Schön für Stähler. Aber auch diejenigen, die nicht so wagemutig sind wie der Selfmademan, haben eine Chance. Sie können sich zum Beispiel in zahlreichen Last-Minute-Ausbildungen schnell und dennoch ausreichend qualifizieren. Eine zehnmonatige MacroMedia-Fortbildung qualifiziert Lehrer zu Experten für Lern-Software. In Hannover hat die Dekra Akademie in einem Pilotprojekt 15 Teilnehmer zu Kommunikationsberatern im Groupware-Bereich ausgebildet. Alle Absolventen konnten sofort vermittelt werden.

Wie offen die IT-Branche für Quereinsteiger ist, zeigt besonders plas- tisch der Werdegang von Walter Wedl. Der 38-Jährige hatte eine hervorragende Ausbildung und ein schönes Einser-Diplom. Leider waren die Einstellungschancen auf seinem speziellen Arbeitsmarkt denkbar schlecht. Wedl ist Theologe.

Da half kein Jammern und kein Beten. Wedl musste sich etwas Neues überlegen. So ging er erst einmal zum Arbeitsamt. Und siehe, ihm ward geholfen. Er traf dort auf einen fähigen Berufsberater, der Wedls heimliche Begabung erkannte und ihm eine einjährige Umschulung zum DV-Fachmann vermittelte.

Kurze Zeit später hatte Wedl eine neue Berufung gefunden: 1989 stieg er beim Computerhersteller Hewlett-Packard in der Kundenschulung ein.

Der Kleriker machte flugs Karriere. Schon nach drei Jahren wurde er europäischer Verkaufsmanager, nach weiteren drei Jahren stieg er schließlich zum europäischen Produktmanager auf. Seit 1997 ist er Worldwide Marketing Manager for E-Services-Security.

Rückblickend sagt Wedl, dass ihm vor allem seine Neugier und sein offener Geist zu diesem Erfolg verholfen hätten. "Natürlich fühlt man sich als Geisteswissenschaftler unter Technikspezialisten oft wie ein Vogel im Aquarium", erzählt er. Aber genau das habe ihn animiert, möglichst keine Fehler zu machen. Lohn der Mühe: Jetzt rufen schon mal Headhunter an, und der ehemals schwervermittelbare Akademiker spürt, dass er unversehens zum High Potential avanciert ist. Da steigt das Selbstvertrauen - und das Gehalt.

Einsteiger sollten sich gleichwohl von einem weit verbreiteten Irrglauben verabschieden: Man wird in der IT-Branche nicht automatisch über Nacht zum Millionär, jedenfalls nicht immer.

Gutes Geld kann man zwar schon verdienen. Programmierer, die 200 000 Mark pro Jahr und mehr kassieren, gibt es wirklich. Für Branchenneulinge sieht die Welt aber anders aus. Wer als Quereinsteiger schon im Vorstellungsgespräch überzogene Gehaltsforderungen stellt, befördert sich schnell ins Aus. Anfänger müssen zunächst einmal beweisen, was sie können. Erst dann schraubt sich das Gehalt in sechsstellige Höhen (siehe Tabelle Seite 242).

Die Branche bietet weitere monetäre Vorteile: Fast alle IT-Unternehmen belohnen ihre Mitarbeiter mit Aktienoptionen. Sie geben ihnen das Recht, Anteile am eigenen Unternehmen zu einem Vorzugspreis zu kaufen. In den USA ist diese Art der Motivationsförderung vor allem bei jungen Gründerfirmen längst üblich. Inzwischen erfasst dieser Trend immer mehr deutsche Unternehmen. Manch einer ist auf diese Weise mit etwas Glück innerhalb weniger Jahre zum Millionär geworden. Zusätzlich ködern die Unternehmen die Bewerber mit attraktiven Arbeitsbedingungen, etwa flachen Hierarchien und lockerem Arbeitsklima.

Wer sich von derlei Bedingungen angezogen fühlt, sollte jetzt einsteigen. Die IT-Branche boomt und wird für ihr rasantes Wachstum auch weiterhin Mitarbeiter brauchen, die nicht unbedingt ein Informatikstudium absolviert haben. Besonders offen für begeisterungsfähige Bewerber sind die jungen Start-ups, bei denen persönliches Engagement mehr zählt als ein Einser-Examen.

Diese Art von Unternehmertum animiert zunehmend auch erfahrene Manager zum Schritt in das E-Business. Führungskräfte, die in den Konzernen an die unsichtbare Glasdecke stoßen und nicht jahrelang auf den nächsten Karriereschritt warten wollen, haben bei den Jungen glänzende Chancen.

Die brauchen die Erfahrung und das Management-Know-how der Alten. Wie Dean Hawkins (38), der von Adidas zum Internet-Shop boo.com wechselte. Wie Reto Braun (58), ehemaliger Konzernchef der Schweizer Post, der jetzt Chef der Multimediafirma The Fantastic Corporation ist.

Wie können solche Umsteiger die passenden Start-up-Unternehmen finden? Durch den Kontakt zu Venture-Capital-Gesellschaften zum Beispiel. Die wissen, welche Gründer dringend Management-Know-how brauchen und betätigen sich schon mal als Jobvermittler. Auch auf die IT-Branche spezialisierte Headhunter beackern diesen Markt bereits mit großem Eifer.

Bei Ex-Metro-Mann Hans-Werner Scherer (42) lief es allerdings anders. Er wurde eines Tages von seinem ehemaligen Mitarbeiter Mehrdad Piroozram angesprochen. Der 28jährige gebürtige Iraner hatte sein eigenes Unternehmen Pironet gegründet und brauchte dringend einen Finanz- und Managementprofi. Mit Scherer hatte er ihn endlich gefunden. Der hatte nach sechs Jahren keine Lust mehr auf seinen Job beim Metro-Konzern: "Zu viel Routine".

Den Wechsel vom Handelsriesen zu der jungen Internet-Firma, in der rund 150 Mitarbeiter webbasierte Kommunikations- und Informationssysteme entwickeln, schildert Scherer noch immer voller Begeisterung. "Das war die beste Entscheidung meines Lebens", sagt er, "jetzt bin ich Vorstandsvorsitzender, und die Arbeit mit einem so jungen Team macht einfach riesigen Spaß."

Silke Gronwald/ Claus G. Schmalholz

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