Kultur, Hierarchie, Prozesse Wo Start-ups von Konzernen profitieren können



"Dass Kultur etwas ist, bei dem Start-ups Big Business voraus sind, ist ein Mythos": Beim Thema Identität können Start-ups von Konzernen lernen
Foto: Annette Riedl / dpaKeine Zeit? Hier die Executive Summary:
Ziel eines jeden Start-ups ist es, kein Start-up mehr zu sein. Dieser Wachstumsprozess ist voller Tücken – und es ergibt Sinn, sich beim Wachsen Hilfe von denen zu holen, die es bereits geschafft haben.
Unabhängig vom strategischen Fit gibt es eine Vielzahl von Bereichen, in denen sich Gründerteams Schützenhilfe aus der Konzernwelt holen und Corporates offensiv ihre Unterstützung anbieten sollten.
Der tatsächliche Wissenstransfer muss individuell erarbeitet und umgesetzt sein. Wichtig – für beide Seiten – ist vor allem, dass diese Chance aktiv angegangen wird.

privat
Digitalunternehmer Marcus Diekmann ist Beirat von Rose Bikes und parallel Investor, Johannes Kliesch ist Co-Gründer der Lifestyle-Modemarke Snocks. Gemeinsam haben sie mit prominenten Partnern die Founders League gegründet, eine Plattform für Businessangels und Investoren im deutschsprachigen Raum. In ihrer Kolumne schreiben sie regelmäßig zu Tech- und Start-up-Themen.
Wenn Konzerne wie Start-ups agieren wollen, beginnt oftmals eine lange Reise der Enttäuschung, an deren Ende Millionen versenkt, Karrieren beendet und alle Beteiligten um harte Erfahrungen reicher sind. Wie diese Endstation zu vermeiden ist, haben wir letztes Mal an diesem Ort beschrieben. Die zentrale Frage war: Was können Konzerne von Gründerteams lernen? Dieses Mal drehen wir die Perspektive um: Was kann sich ein Start-up von einem Konzern abschauen?
Mag sein, dass uns die deutsche Gründerszene nun mit milde-irritierten Gesichtern ansieht: Wie jetzt? Aber letztlich ist die Frage so nachvollziehbar wie relevant: Ziel eines jeden Start-ups ist es, kein Start-up zu bleiben, sondern zu einem ausgereiften Unternehmen heranzuwachsen. Und es wäre nicht nur irrig-arrogant anzunehmen, ein Start-up wäre per se in allem besser, weil es jung ist und schnell und digital und so. Mit zunehmendem Reifegrad wandeln sich typische Stärken nämlich gerne in Schwächen. Weil das Start-up nicht gelernt hat zu wachsen, jedenfalls nicht über den Umsatz hinaus.
Wir glauben zwar, dass Konzerne die Start-ups viel mehr brauchen als andersherum. Aber auch umgekehrt können die vermeintlich bräsigen und latent uncoolen Dickschiffe beim Hochziehen einer Gründung eine wertvolle Hilfe sein, mittelbar oder unmittelbar. Es ergibt also durchaus Sinn, als Gründerin oder Gründer gestandene Unternehmen der eigenen Branche kennenzulernen und sich nach Dingen umzusehen, die man übernehmen könnte. Unabhängig vom strategischen Fit sollten Start-ups sich insbesondere die folgenden Bereiche anschauen.
Umgekehrt sind das natürlich genau die Felder, in denen Konzerne mit Hilfsangeboten punkten können. Die frühen Kontakte können – ob schon mit oder ohne konkreten M&A-Gedanken – später hilfreich sein. Wer mehr als "Shitloads of Money" bieten kann, dürfte mehr Glück bei einem Übernahmeversuch haben.
In diesen zehn Feldern können Start-ups von Konzernen lernen:
Prozesse: Seit Beginn dieser Kolumne predigen wir: Das Operative wird überschätzt. Stimmt nach wie vor. Aber kein Wachstum ohne Struktur, kein mittelfristiger Erfolg ohne Prozesse. Und bei den meisten Start-ups sind die in einem Zustand, der, nun ja, Potenzial besitzt. Das ist in Ordnung für den Anfang, aber irgendwann kostet semi-professionelles Herumeiern zu viel Energie und am Ende auch Geld.
Hierarchie: Was uns sofort zum nächsten Punkt bringt. "Flache Hierarchien" sind ein tolles Buzzword, wollen alle haben, feiern alle ab. Aber wenn du erst einmal 30, 40 Leute hast, dann funktioniert das nicht mehr. Als Gründerin oder Gründer kannst du nicht für alles und jeden verantwortlich sein, zu viele Direct Reports killen jede Produktivität. Also, zieh zusätzliche Ebenen ein und hole dir nicht nur Fach-, sondern auch echte Führungskräfte ins Team.
Budgets: Der Beginn ist immer gleich: Es gibt ein Firmenkonto und davon gehen alle Ausgaben runter. Wozu also Budgets für Projekte, für Teams, für alles? Weil man erst dann checkt, wie viel Geld man tatsächlich für einzelne Posten ausgibt – und hinterfragen kann, ob das wirklich nötig ist.
Ziele: Und wenn wir schon dabei sind, Ordnung zu schaffen – lasst uns Ziele einführen! Nicht nur für den Vertrieb, für alle. Software-Entwicklung hat die Angewohnheit, länger zu dauern und teurer zu werden als gedacht; eine Zielvereinbarung mit entsprechendem Incentive kann da durchaus kleine Wunder wirken. Teamleads sind nur dann gut, wenn sie Teams fordern und fördern – eine 360-Grad-Beurteilung der Führungsqualitäten, die Boni direkt ans Erreichen von Mindestwerten koppelt, hilft dabei, ihnen genau diese Aufgabe zu verdeutlichen.
Marketing: Unternehmen scheitern, wenn ihr Produkt/Preis-Verhältnis nicht stimmt – oder wenn ihre Markenarbeit Schrott ist. Bei vielen Start-ups ist genau das der Fall: Weil das Marketing nur mitläuft, nicht ordentlich budgetiert ist, sich auf simples KPI-Checken im Ad Manager von Facebook beschränkt oder die Zielgruppen unscharf definiert sind. Man kann umfangreiche Corporate-Identity-Leitfäden, Persona-Dossiers und Mediapläne belächeln, ist dann aber selbst schuld. Marketing richtig aufgezogen – unter anderem mit Budgets und Zielen (siehe oben) – ist echtes Handwerk mit messbarem Erfolg. Konzerne beschäftigen dafür ganze Abteilungen. Sicherlich nicht, um in ihnen nur Geld zu verbrennen.
Kundenkenntnis: Eng mit Marketing verbunden, aber nicht ganz das Gleiche. Konzerne geben in aller Regel erheblich mehr Geld für Marktforschung aus als das Start-ups tun (können). Die Erweiterung eines Start-up-üblichen "Trial and Errors" um einen empirisch belastbaren, datengetriebenen Ansatz, der sich noch dazu auf jahrelange Erfahrungen stützen kann – wäre das nicht was? Und wetten, dass du noch nicht alle Insights aus den Daten deines Online-Shops gezogen hast, die darin schlummern?
Supply Chains: Das Thema mag für Software-Gründungen verhältnismäßig egal sein, für alle anderen gewinnt es mit zunehmender Größe an Wichtigkeit. Wer seine Produkte in aller Welt fertigen lässt, mit verschiedenen Zulieferern jongliert und womöglich halbfertige Produkte von einer Stätte zur anderen transportiert, damit dort an ihnen weitergeschraubt wird, der wird schnell merken, was für Alpträume in Lieferketten stecken können. Gibt nichts Besseres, als von Profis zu lernen.
HR: Es gibt ein paar Breakpoints im Wachstumsprozess eines Start-ups, die mit der größer werdender Belegschaft zusammenhängen. 20, 50, 100, 500 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter – mit Überschreiten dieser Zahlen geht in der Regel ein spürbarer Wandel der Kultur und der erforderlichen Team-Strukturen einher. Um die negativen Folgen dieses Wandels abzufedern, braucht es Leute, die sich darum kümmern. Auch hier gilt wieder: Konzerne wissen große Zahlen von Mitarbeitenden zu managen, von der Lohnbuchhaltung über Benefits bis hin zu Employer Branding.
Identität: Dass Kultur etwas ist, bei dem Start-ups Big Business voraus sind, ist ein Mythos: Firmenkultur ist nur dann leicht aufrechtzuerhalten, wenn die ganze Firma in ein mittleres Großraumbüro passt. Danach ist es richtig Arbeit, und in aller Regel lassen sich große Unternehmen diese Arbeit mehr kosten als Firmen, die erstmal einen positiven Jahresabschluss hinlegen müssen. Identität aber ist ab einer bestimmten Größe nicht nur Mitarbeitermagnet, sondern der Schmierstoff, der alles am Laufen und geschmeidig hält.
Skalierung: Klar, hört sich erst einmal an wie der fleischgewordene Widerspruch: Start-ups sollen etwas auf ihrem ureigensten Fachgebiet von Konzernen lernen können? Ja sicher, jedenfalls dann, wenn sie eine entsprechende Größe erlangt haben. Es erfordert ein völlig anderes Skillset, ein Unternehmen von 0 auf 50 Millionen Euro zu bringen als von 200 auf 250 Millionen Euro.
Die Vorteile sind kein Zufall
Und, was gemerkt? Genau, diese Liste deckt so ziemlich jeden Bereich ab, den es in einem Unternehmen gibt. Das ist kein Zufall: Konzerne sind deshalb dort, wo sie sind, weil sie ihre eigenen Wachstumsprozesse – bilanziell, strukturell, kulturell – wenn nicht gemeistert, dann zumindest überstanden haben. Sie haben Erfahrungen, die per definitionem Start-ups fehlen. An diesen Erfahrungen teilzuhaben oder teilhaben zu lassen, ist – für beide Seiten – eine wertvolle Gelegenheit.
Die Möglichkeiten dazu sind vielfältig: sei es durch theoretischen oder praktischen Wissenstransfer, Personalwechsel, Übernahme von und Andocken an funktionierende Strukturen, Inanspruchnahme vorhandener Ressourcen undsoweiterundsofort. Wie genau sich profitieren lässt, muss letztlich individuell geklärt werden – auf jeden Fall aber bieten sich in und mit Konzernen Wege, die Wagniskapitalgeber kaum bieten können.