Selbstorganisation Die Illusion der großen Freiheit

Marcus Diekmann
Johannes Kliesch
Die Kolumne "Digitale Zwillinge" von Marcus Diekmann und Johannes Kliesch
Wer ein Start-up gründet, darf nicht auf die große Selbstverwirklichung hoffen. Sachzwänge bestimmen den Alltag – ähnlich wie bei Führungskräften in Unternehmen und Konzernen. Wir empfehlen daher: fünf goldene Regeln für mehr persönlichen Freiraum.
"Sichere Dir Freiräume trotz aller Sachzwänge"

"Sichere Dir Freiräume trotz aller Sachzwänge"

Foto: Westend61 / Getty Images

Keine Zeit? Hier die Executive Summary:

  • Die Freiheit der Gründerin oder des Gründers ist eine Illusion. Ein Start-up hochzuziehen, heißt, Sachzwänge zu managen, von früh bis spät.

  • Im Gegensatz zu anderen Formen der Selbstständigkeit kennen Start-ups keine Plateauphase, in der Raum für Selbstverwirklichung ist.

  • Um im Alltag weniger fremdgesteuert zu sein, lohnt es sich, die fünf goldenen Regeln zu befolgen: Viele Leute einstellen, Fokus, nicht mehr als 6 Direct Reports, tote Zeit killen – und gnädig mit sich selbst sein.

Das Autoren-Team
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Marcus Diekmann und Johannes Kliesch (l.) schreiben seit Januar 2023 regelmäßig eine Kolumne zu Tech- und Start-up-Themen für das manager magazin. Digital-Unternehmer Diekmann ist Beirat von Rose Bikes, wo er lange Co-CEO war; er ist parallel Investor und engagiert bei Unternehmen wie Shopware oder Scala. Kliesch ist Co-Gründer der Lifestyle-Modemarke Snocks, mit speziellem Fokus auf Social-Media-Branding. Gemeinsam haben sie mit prominenten Partnern die Founders League gegründet, eine Plattform für Business-Angels und Investoren im deutschsprachigen Raum.

Mach dein eigenes Ding. Verwirkliche dich. Sei dein eigener Chef. Es sind Poster-Sprüche wie diese, die ganz sicher bei jeder Gründung eine Rolle spielen. Klar, es geht immer auch ums große Geld – niemand zieht ein Business auf, um am Ende mit 100.000 brutto nach Hause zu gehen. Aber in jeder Gründung steckt mehr drin als nur das Streben nach Reichtum: der Wunsch nach Freiheit.

Der Wille zur Selbstverwirklichung im Beruf ist verständlich. Und natürlich kann und sollte gerade das Gründen eines Unternehmens ein zutiefst erfüllender Akt sein – kaum jemand wird seinen ersten Notarbesuch vergessen und das beschwingte Gefühl, wenn man mit der Gründungsurkunde dessen Hallen wieder verlässt. Aber die Wahrheit ist: Diese große Freiheit existiert nicht.

Die Ohnmacht – und wie man mit ihr klarkommt

Gründen heißt erst einmal, ohnmächtig sein. Natürlich, du hast eine geile Idee und eine noch geilere Vision, das Ding ist nur: Die Wirklichkeit interessiert sich nicht dafür. Die Wirklichkeit bietet Sachzwang, Sachzwang, Sachzwang. Kundinnen und Kunden, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, Behörden – alle wollen was von dir, alle zerren an dir, und ratzfatz schnurrt dein Gestaltungsspielraum auf die Entscheidung zusammen, welche Slack-Nachricht du jetzt zuerst beantwortest.

Und wer tatsächlich einen Investor findet, hat plötzlich wieder eine Chefin oder einen Chef. Denn natürlich benimmt sich der neue Mitgesellschafter sehr dominant, auch wenn ihm nur 25 Prozent der Firma gehören sollten. Wenn er anruft, geht man ran. Ganz einfach. Und ganz bestimmt nicht selbstbestimmt. Einer von uns, Johannes, hat erst Jahre nach der Gründung überhaupt wieder den ersten Urlaub gemacht – ein Wochenende mit der Freundin in New York. Nachts um 4 saß er dann vor dem Rechner, weil sein Investor eine Präsentation von ihm haben wollte.

Und ja, Sachzwänge gibt es überall. Aber Start-ups spielen nach anderen Regeln. Start-ups sind kein normales Business – sie sind Durchgangsstationen. Sie sind nie fertig, sind nie gut genug, nie angekommen. Wo "normale" Selbstständige hoffentlich irgendwann ein Plateau erreichen, auf dem sie sich halbwegs zufrieden der Selbstverwirklichung widmen können, geht das hier nicht. Gründerinnen und Gründer, die sich zurücklehnen, fallen zurück.

Warum wir darauf so Rumreiten? Weil darüber kaum jemand spricht. Und dies tatsächlich die größte Illusion des Gründerdaseins ist. Wer ihr erliegt, wird sich schneller nach einer Konzernkarriere umschauen, als er "Finanzierungsrunde" sagen kann. Wir empfehlen daher, sich trotz aller Sachzwänge und Verpflichtungen Freiräume zu sichern oder zurück zu erobern. Und zwar entlang unserer fünf goldenen Regeln, die so ähnlich selbstverständlich auch für Führungskräfte im Mittelmanagement großer Unternehmen gelten:

Die fünf goldenen Regeln unternehmerischer Freiheit

  1. Stell so früh Leute ein, wie es geht. Das kostet zwar Geld, aber du kannst nun mal nicht alles selbst machen. Spare eher an deinem eigenen Gehalt als am Personal. Dein Leben (und dein Business) wird es dir danken.

  2. Fokus! Erledige Dinge hintereinander, nicht gleichzeitig. Das wirkt zwar langsamer, ist letztlich aber effizienter. Das Gleiche gilt für Deine Leute: Gib ihnen genau eine Tätigkeit. Kommt eine neue Aufgabe hinzu, siehe 1. Gib deinem Start-up genau ein Betätigungsfeld. Kommt ein neues hinzu, siehe 1.

  3. Führe Teams, keine Mannschaften. Wenn du mehr als sechs Direct Reports hast, hast du zu viele. Ändere das. Wie? Siehe 1.

  4. Kill tote Zeit. Schau dir deinen Kalender der vergangenen Woche an: Was davon musste wirklich sein? Und was hat dich vorangebracht? Alles andere ist: tote Zeit. Nutze sie lieber für Dinge, die Leverage haben. (Achtung, Disclaimer: Das ist leicht gesagt, aber brutal schwer umzusetzen. Dauerhaft die Marie Kondō der eigenen Zeiteinteilung zu sein, ist die Königsdisziplin der Selbstorganisation.)

Sei gnädig. Vor allem zu dir selbst. Du wirst die ersten vier Regeln nicht immer einhalten können, niemand kann das. Und wenn du das nicht aushalten und dir verzeihen kannst, wirst du dich kaputt machen.

Extra-Tipp: Manchmal hilft es schon dabei, freier zu werden, wenn man sich die Freiheiten ins Gedächtnis ruft, die man rein theoretisch hat – und sie ab und an, bei wichtigen Gelegenheiten, voll auskostet. Du hast einen wirklich ätzenden Kunden? Trenn dich von ihm. Es wird deinem Unternehmen nicht das Genick brechen. Dein Investor stresst dich hart? Sag ihm einfach mal ab. Was soll er tun? Dich rauswerfen? Dann muss er jemanden finden, der besser ist als du. Viel Glück damit.

Machen wir uns nichts vor: Selbst wenn du alle Regeln mantramäßig befolgst, wird sich an der Grundkonstellation kaum etwas ändern – dein Leben wird von Sachzwängen durchgetaktet werden, die nur begrenzt in deinem Einflussbereich liegen. Das muss man wissen. Und das muss man wollen. Wir kennen keine Gründerin und keinen Gründer, der mehr Sport macht als vor der Gründung. Keinen, der noch alle Freunde von früher hat. Keinen, dessen Beziehung nicht zumindest zeitweise unter der Gründung gelitten hätte. Die entscheidende Frage lautet also: Willst du das? Wenn ja – dann los.

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