Führungskultur Wieso Chefs nicht zu lange im Amt bleiben sollten

Marcus Diekmann
Johannes Kliesch
Die Kolumne "Digitale Zwillinge" von Marcus Diekmann und Johannes Kliesch
Niemand besitzt die Managementskills, ein Unternehmen in allen Phasen der Entwicklung optimal führen. Darum sollten wir die Amtszeit von Führungskräften begrenzen – und häufiger freiwillig abtreten.
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Foto: Jordan Strauss / Invision for The Television Academy / AP Images / picture alliance

Keine Zeit? Hier die Executive Summary:

  • Unternehmen haben in jeder Phase ihres Lebenszyklus andere Herausforderungen und Probleme. Dass wir den Reifegrad bei der Wahl des Führungspersonals kaum beachten, ist ein Fehler.

  • In aller Regel ist ein Personalwechsel notwendig, wenn ein Unternehmen in eine neue Phase eintritt: Kaum jemand beherrscht Management-Skills für mehr als eine, geschweige denn für alle Phasen.

  • Start-ups sind beim Missachten eines Phasenwechsels besonders gefährdet: Sie sind noch zu wenig gefestigt, um Fehler zu verzeihen. Insofern sollten Gründer und Gründerinnen mit einem Plan antreten, rechtzeitig den Platz frei zu machen.

Digitale Zwillinge
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privat

Digitalunternehmer Marcus Diekmann ist Beirat von Rose Bikes und parallel Investor, Johannes Kliesch ist Co-Gründer der Lifestyle-Modemarke Snocks. Gemeinsam haben sie mit prominenten Partnern die Founders League gegründet, eine Plattform für Businessangels und Investoren im deutschsprachigen Raum. In ihrer Kolumne schreiben sie regelmäßig zu Tech- und Start-up-Themen.

Zur Kolumne "Digitale Zwillinge"

Beginnen wir mit einem Vergleich: Der professionelle Erziehungs- und Lernprozess eines Menschen gliedert sich in verschiedene Phasen – Kindergarten, Vorschule, Grundschule, Oberschule, Berufs- oder Hochschule, gefolgt von Praktika, Fortbildungen, Coachings undsoweiter, jedenfalls idealtypisch gesehen. Nicht im Traum würde es uns einfallen, all diese unterschiedlichen Phasen der Entwicklung in die Hände ein und desselben Berufszweigs zu geben geschweige denn einer einzigen Person.

Im Lebenszyklus von Unternehmen spielen die Frage, wem die Führung – die Erziehungsarbeit – zu übertragen ist, gar keine Rolle! Immer dieselben Gesichter.

Gründer, Geschäftsführer, Vorstände kleben an ihren Mandaten ohne Rücksicht auf das Entwicklungsstadium der Firma, die sie entwickeln sollen. Wir messen Erfolge nach Umsatz- und Stückzahlen, nach Ebit-Margen und Aktienkursentwicklungen, und das sind auch gute, sinnvolle KPIs. Aber auch immer letztlich rückwärtsgewandte Betrachtungen, die ein proaktives Steuern von Unternehmensführung nur bedingt zulassen. Warum ist das so?

Die sechs Phasen im Leben eines Unternehmens

Auch Unternehmen durchlaufen einen Reifeprozess, der sich in verschiedene Phasen gliedert. Es gibt viele Modelle, um die abzubilden, wir mögen das von Larry E. Greiner aus dem Jahr 1972. Greiner sieht sechs Phasen, die unterschiedlich lang sein mögen, aber immer aufeinanderfolgen und immer dieselben Dynamiken und Herausforderungen besitzen.

1. Phase: Wachstum durch Kreativität – Gründerzeit, alles ist informell, die Entwicklung im Start-up ist stark abhängig von der Ursprungsidee, kreatives Chaos. Die Herausforderung: Das Chaos muss gebändigt werden.

2. Phase: Wachstum durch Führung – die Stammmannschaft aus der Gründerzeit treibt den Kurs und spezialisiert sich, erste Kernprozesse sind etabliert, neue Hierarchieebenen werden eingezogen. Die Herausforderung: Der Übergang vom Generalistentum zur Spezialisierung muss gemeistert werden

3. Phase: Wachstum durch Delegation – die Unternehmenshierarchie verzweigt sich weiter, wird gestaffelter, Wesenheiten und Unterschiede von Abteilungen differenzieren sich aus und agieren zunehmend eigenständiger. Die Herausforderung: Der Zusammenhalt des Unternehmens muss bewahrt bleiben.

4. Phase: Wachstum durch Koordination – mehr Abteilungen, mehr Prozesse, mehr Bürokratie, Entscheidungswege werden länger. Die Herausforderung: Die Flexibilität aus der Anfangszeit muss erhalten bleiben

5. Phase: Wachstum der Kooperation – zu starre Strukturen werden aufgebrochen, Agilität gefördert. Die Herausforderung: Die Komplexität dieser team-übergreifenden Kollaboration darf nicht in Überblickverlust münden.

6. Phase: Wachstum durch Vernetzung – das Unternehmen sucht über die eigenen Grenzen hinweg nach Allianzen und Kooperationen. Die Herausforderung: abermals Transparenz und Identität

Ja, diese Phasen mögen nicht trennscharf sein, und man kann trefflich über jede einzelne von ihnen streiten. Unübersehbar aber ist doch, dass jede Phase andere Kompetenzen von ihren Führungsmannschaften erfordert. Heißt: Unternehmerinnen und Manager, die in Phase 1 brillieren, werden aller Wahrscheinlichkeit nach in Phase 3 (oder jeder anderen) underperformen. Auch wenn es weh tut: Du magst ein Unternehmen erfolgreich gründen können. Aber es wird Bessere als Dich geben, Dein Baby an die Börse zu bringen.

Diese Erkenntnis ist brutal wichtig, wenn man Unternehmen, jungen allzumal, optimales Wachstum ermöglichen möchte. Kümmert nur irgendwie niemanden.

Vertragsverlängerungen? Bitte nicht!

Was folgt daraus? Wir müssen anfangen, uns mehr Gedanken über Lebenszyklen und Entwicklungsdynamiken zu machen. Wir müssen anfangen, Führungspersonal gezielt nach den Erfordernissen von Unternehmensphasen auszusuchen – und auszuwechseln. Wir müssen anfangen, unsere Stühle für die oder den nächsten freizumachen, wenn wir unser Etappenziel erreicht haben. Alles Gute geht einmal zu Ende.

Für Konzerne gilt das ebenso wie für Start-ups. Aber für die ist das wichtiger. Weil sie krisenanfälliger und damit gefährdeter sind: Wenn ein Dax-Konzern seine Führungsmannschaft falsch aufstellt, wird es ungemütlich; der Kurs schaut mal im Keller vorbei, und irgendwann schmeißt der Aufsichtsrat dann hoffentlich die Vorstände raus. Nicht schön, aber zu managen, buchstäblich. Wenn ein Start-up seine Führungsmannschaft falsch aufstellt, ist es pleite.

Also, wie wäre es, wenn wir Spitzenpositionen nur zeitlich begrenzt vergeben würden? Und Vorstandsverträge nur einmal verlängert werden dürften? Wenn VCs ihren Gründerteams den Wechsel in den Verantwortlichkeiten als Milestone mitgäben? In der Politik gibt es aus gutem Grund zeitlich limitierte Mandate, in anderen Ländern noch mehr als in Deutschland. Warum nicht auch in der Wirtschaft?

Wie wäre es, wenn wir damit anfingen, Managerinnen und Manager, ob selbständig oder angestellt, eine Phasen-Bezeichnung mitzugeben, für die sie besonders gut geeignet sind? Dann würden wir von "Delegationsvorstand" oder "Kooperations-CEO" sprechen. Was wir sagen wollen: In dem Moment, wo sich Führungskräfte als Interimsmanager begreifen, sind wir einen großen Schritt vorwärtsgekommen. Entscheidend dabei ist, dass das Loslassen nicht nur in der Email-Signatur passiert, sondern ein wirkliches Abgeben von Entscheidungsgewalt ist: Sonst werden Nachfolger inthronisiert, die bloß zu Frühstückmanagern degradiert sind.

Es gibt sie: Beispiele, die Schule machen sollten

Ist das unrealistisch? Vielleicht, aber Wirtschaft und vor allem die Gründerszene lebt ja von Visionen. Und es gibt sie, die Beispiele, die zeigen, wie so ein geordnetes, phasenbedingtes Abgeben von Führungsfunktionen erfolgreich aussehen kann.

Katrine Lee Larsen, die Gründerin des Bade-und Sportmodenherstellers Copenhagen Cartel war viereinhalb Jahre als CEO tätig, in der Anfangsphase ihres Start-ups, in der es um Wachstum durch Kreativität ging. Ende 2022 trat sie von diesem Amt zurück und – Achtung, bewusst gewähltes Wort – dient ihrem Unternehmen nun als Chief Visionary Executive. Sie macht also das, was sie am besten kann: Visionen auszuarbeiten. Weiterhin wichtig, aber nicht mehr an oberster Stelle.

Ein paar Ligen drüber wäre da etwa Reed Hastings. Netflix' Langzeitchef ist seit Anfang dieses Jahres nicht mehr CEO, sondern Executive Chairman. Seine Worte dazu: "Our board has been discussing succession planning for many years (even founders need to evolve!)” Evolve. Even founders. Und da wären wir wieder.

Die Frage: "Was braucht das Unternehmen künftig am meisten – und kann ich es ihm bieten?" hilft nicht nur, egomanische Verirrungen (DaimlerChrysler, remember?) zu reduzieren. Wir hätten quasi im Vorübergehen den miesesten Fallstrick eines jeden Karrierewegs entfernt: länger im Amt zu bleiben, als für einen selbst gut ist. Die Kunst des rechtzeitigen Aufhörens ist nirgendwo weit verbreitet, und sie schadet kaum jemanden mehr als der Person, die nicht rechtzeitig aufhört. Und auf den eigenen Vorteil bedacht zu sein, das sollten wir Kapitalisten doch irgendwie schaffen, oder?

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