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Game Changer Award 2023 Hoffnung made in Germany

Klimawandel, Krieg und künstliche Intelligenz - die deutsche Wirtschaft steht vor einer neuen Epoche. Um weiter erfolgreich zu sein, braucht es neue Ideen und Technologien – und Unternehmen, die sie mutig vorantreiben. Die neuen Game Changer zeigen, wo die Zukunft schon begonnen hat.
Von Claus Gorgs
aus manager magazin 5/2023
Hut ab: Der in Deutschland entwickelte Social Bot kann menschliche Emotionen wahrnehmen und darauf reagieren. Er könnte in der Pflege und zu Therapiezwecken eingesetzt werden.

Hut ab: Der in Deutschland entwickelte Social Bot kann menschliche Emotionen wahrnehmen und darauf reagieren. Er könnte in der Pflege und zu Therapiezwecken eingesetzt werden.

Foto: navel robotics GmbH

Der Besucher aus der Zukunft braust zielsicher heran und stellt sich artig vor: "Hi, ich bin Navel. Wie ist dein Name?" Der Knirps misst 72 Zentimeter, trägt eine blaue Strickmütze und blickt sein Gegenüber mit großen Augen an. Er kann Ratespiele spielen, Nachrichten vorlesen und Witze erzählen, vor allem aber kann er die Stimmung seines Gesprächspartners wahrnehmen und darauf reagieren. Er sei, so die Erfinder, ein "sozialer Roboter".

Noch ist der drollige Kunststoffzwerg ein Prototyp und nur in Werbevideos des Münchner Start-ups Navel Robotics zu bestaunen. Doch schon im kommenden Jahr soll er serienreif sein und mithilfe künstlicher Intelligenz (KI) Menschen unterhalten und ihnen Gesellschaft leisten. Nicht wie ein Gesprächspartner aus Fleisch und Blut, aber doch bewegter als ein totes Produkt. Weit mehr als eine Alexa auf Rädern.

Chancen in der Multikrise

Der technologische Fortschritt im Jahr 2023 erhöht die Drehzahl für Wirtschaft und Gesellschaft nochmals deutlich. Noch vor zwei Jahren schien es, als sei die Digitalisierung die größte Disruption seit Erfindung der Dampfmaschine. Doch spätestens seit das US-Start-up OpenAI Ende 2022 das KI-Programm ChatGPT auf den Markt brachte, das selbstständig Texte und Bilder von hoher Qualität generiert, zeichnet sich eine weitere, noch tief greifendere technische Revolution ab.

Zeitgleich zwingen die Maßnahmen zur Bekämpfung des Klimawandels Unternehmen dazu, sämtliche Produkte und Prozesse unter Nachhaltigkeitsaspekten zu überdenken, während die zunehmenden geopolitischen Spannungen die Energiepreise in die Höhe treiben und Lieferketten rissig werden lassen.

Droht Deutschland wegen zu hoher Kosten die Deindustrialisierung? Nehmen smarte Maschinen den Menschen die Arbeit weg? Wird die heimische Wirtschaft von den Techgiganten aus den USA und China abgehängt? Schon ist von einer Multikrise die Rede, und tatsächlich gibt es riskante Entwicklungen, die Politik und Unternehmen zur Selbstreflexion und zum Umsteuern zwingen. Doch wo multiple Risiken sind, bieten sich auch multiple Chancen – für diejenigen, die innovative Ideen haben und den Mut, sie umzusetzen.

So steckt im sozialen Roboter Navel – Überraschung! – jede Menge Technik aus Deutschland. Das Wahrnehmen und Dechiffrieren menschlicher Emotionen etwa haben ihm Elisabeth André (61) und ihr Team beigebracht. Die Informatikprofessorin von der Universität Augsburg forscht seit mehr als drei Jahrzehnten an Algorithmen, die die Kommunikation zwischen Menschen und Maschinen verbessern, und gilt als eine der führenden KI-Expertinnen des Landes. Für einen Abgesang auf den Technologiestandort Deutschland sieht sie keinen Anlass: "Wir müssen uns auf keinen Fall verstecken, auch nicht im internationalen Vergleich."

Maschine und Mensch: KI-Professorin Elisabeth André mit Roboter.

Maschine und Mensch: KI-Professorin Elisabeth André mit Roboter.

Foto: Daniel Delang für manager magazin

Zu den größten Stärken der deutschen Wirtschaft gehörten stets Erfindergeist und Innovationskraft. Dass sich daran nichts geändert hat, beweisen die drei diesjährigen Gewinner des Game Changer Awards. Seit 2015 verleihen manager magazin und die Strategieberatung Bain & Company die Auszeichnung an Unternehmen, die in ihrer Branche die Spielregeln grundlegend umgeschrieben haben.

Wie die Game Changer 2023 ermittelt wurden

Der Titel
Der Game Changer Award ist eine Auszeichnung für deutsche Unternehmen, die auf disruptive Weise die Spielregeln ihrer Branche verändert haben. manager magazin und Bain & Company verleihen den Preis in drei Kategorien: Customer Experience, Product & Service Innovation sowie Operations of the Future.

Der Test
Firmen können sich für diesen Preis nicht bewerben, sie werden ausgewählt. Anhand der Kriterien Innovation, Disruptionspotenzial, Nachhaltigkeit und wirtschaftlicher Erfolg werden mehr als 60.000 in Deutschland ansässige Unternehmen analysiert, die 100 besten jeder Kategorie schaffen es auf die Longlist und werden in einer vertieften betriebswirtschaftlichen Analyse (Due Diligence) durchleuchtet und nach einem Punkteschema bewertet.

Die Sieger
Pro Kategorie kommen die fünf Unternehmen mit der höchsten Punktzahl auf die Shortlist und werden von einer Jury aus erfahrenen Wirtschaftsexperten beurteilt: Wie disruptiv und nachhaltig ist das Geschäftsmodell wirklich? Wie hoch ist die Erfolgswahrscheinlichkeit? Alle sieben Juroren geben eine schriftliche Bewertung ab, in einer abschließenden Diskussion fällt die Entscheidung, welche drei Unternehmen die Auszeichnung erhalten. Die Preisverleihung fand am 27. April 2023 in Berlin statt.

So gelang es dem Medizintechnikkonzern Siemens Healthineers mit dem Einsatz künstlicher Intelligenz, die Qualität der bildgebenden Diagnostik entscheidend zu verbessern und gleichzeitig die Strahlenbelastung für die Patienten zu senken. Das Berliner Start-up Enpal ersann ein Abomodell für Solaranlagen, das es Hausbesitzern ermöglicht, die Stromversorgung einfach und ohne eigene Investitionen auf erneuerbare Quellen umzustellen – und wurde damit 2022 zum schnellstwachsenden Energieunternehmen Europas. Und ausgerechnet dem Sportwagenhersteller Porsche, dessen 911er der Inbegriff benzingetriebener Beschleunigung ist, gelang mit dem Taycan der erste technisch überzeugende Elektrosportwagen.

"Viele deutsche Unternehmen haben in den vergangenen zwei Jahren einen deutlichen Schritt nach vorn gemacht", sagt Walter Sinn (57), Deutschland-Chef von Bain & Company. Digitalisierung und Industrie 4.0 seien zu Selbstverständlichkeiten geworden. Nun jedoch stehe die Wirtschaft vor dem nächsten Wendepunkt. "Die Möglichkeiten künstlicher Intelligenz heben die Funktion des Internets in eine neue Dimension", so der Berater.

Die Jury

Bei seinen Mandanten erlebe er derzeit ein "explosionsartiges Interesse" an KI. "Wir stehen am Beginn einer rasanten Dynamik. Das Potenzial ist gewaltig." Auf rund 500 Milliarden Euro schätzt das US-Marktforschungsunternehmen IDC das die weltweiten Umsätze mit KI allein im laufenden Jahr.

Geschwindigkeit aufnehmen

ChatGPT mag derzeit noch wie eine lustige Spielerei wirken, da der Algorithmus Texte aufgrund von Wahrscheinlichkeiten generiert – und deshalb mitunter Unsinn von sich gibt. Doch der Chatbot hat erstmals einer breiten Öffentlichkeit verdeutlicht, wozu KI imstande ist. Und eine Ahnung vermittelt, wozu sie dereinst imstande sein könnte.

In Augsburg arbeiten Elisabeth André und ihr Team mit Partnern aus der Wirtschaft bereits an sehr konkreten Anwendungen: KI-gestützte Avatare zum Beispiel, die gesprochene Sprache in Echtzeit in Gebärden umwandeln und es Gehörlosen ermöglichen, Reden, Vorträgen und Gesprächen besser zu folgen. Oder smarte Diagnosehelfer, die aus Gestik und Mimik von Patienten wertvolle Hinweise für Ärzte und Psychologen ableiten.

Soziale Roboter wie Navel könnten bei der Therapie traumatisierter Kinder eingesetzt werden, die sich einem knuffigen, kulleräugigen Spielkameraden eher öffnen als einem Erwachsenen. Eines Tages, sagt KI-Forscherin André, werde ein intelligenter Roboter als Alltagsbegleiter so selbstverständlich sein wie heute ein Smartphone.

Fragt sich nur, woher solche Zukunftstechnologien dann kommen werden. Die Zuversicht in heimischen Unternehmen, dass Deutschland im KI-Geschäft eine führende Rolle spielen wird, hat zuletzt deutlich abgenommen (siehe Grafik). Während Microsoft in den USA Milliarden in OpenAI investiert und damit eine Entwicklung wie ChatGPT erst möglich macht, fehlt es in Deutschland an Risikokapital, Fachkräften und Rechnerkapazitäten. Und während Europa noch diskutiert, was künstliche Intelligenz überhaupt darf, schaffen amerikanische und chinesische Unternehmen bereits Fakten. "Wir haben an Geschwindigkeit verloren und verheddern uns in bürokratischen Strukturen", konstatiert Bain-Berater Sinn. "Die Innovationsfähigkeit unserer Industrie stimmt mich grundsätzlich optimistisch, aber wenn Unternehmen wie Biontech ihre Forschung teilweise nach Großbritannien verlegen, ist das ein Alarmzeichen." Der Mainzer Impfstoffpionier hatte 2021 den Game Changer Award gewonnen.

Politik und Wirtschaft stehen vor schwierigen Entscheidungen. Investitionen in Forschung, Entwicklung und Technologie müssen forciert werden, um mit dem hohen Tempo der weltweiten Entwicklung Schritt zu halten. Parallel dazu gilt es, Bedingungen und Standards zu definieren, unter denen diese Entwicklung stattfinden soll, wie es jüngst der Deutsche Ethikrat  getan hat. Und diese dann möglichst auch noch international durchzusetzen, damit die Technik auch in Zukunft dem Menschen dient – und nicht umgekehrt.

Die Game Changer sind bereit, ihren Teil dazu beizutragen, dass Deutschland ein Hightechstandort bleibt. "Wir sehen es als unseren Auftrag, das Gesundheitssystem effizienter zu machen", sagt Bernd Montag (54), Vorstandschef von Siemens Healthineers. Dieser Aspekt werde bisher noch zu wenig thematisiert. Enpal wäre bereit, bei einem Wiederaufbau der deutschen Solarindustrie mitzuhelfen, auch um die eigene Abhängigkeit von chinesischen Modulherstellern zu verringern. Und Porsche sorgt unter anderem mit der 800-Volt-Technik dafür, dass die Maßstäbe in der Autoindustrie auch im Elektrozeitalter wieder in Deutschland gesetzt werden.

Denn eines ist klar: Für technischen und gesellschaftlichen Fortschritt braucht es neue Ideen und Lösungen. Und die wird auch in Zukunft kein noch so smarter Algorithmus liefern.

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