Risiken in der Schifffahrt Große Pötte, größere Probleme

Die Havarie der "Ever Given" war spektakulär - tatsächlich aber geht die Zahl der Schiffsverluste und schweren Schiffsunfälle zurück. Doch die Risiken steigen mit der Größe der Schiffe. Zugleich stellt die Pandemie die Reeder vor neue Herausforderungen.
"Golden Ray": Mit mehr als 4000 Kraftfahrzeugen an Bord havarierte das Transportschiff im September 2019 in der Bucht von St. Simons Sound auf dem Weg zum Hafen von Baltimore - die Bergung dauerte mehr als ein Jahr und war enorm kostspielig

"Golden Ray": Mit mehr als 4000 Kraftfahrzeugen an Bord havarierte das Transportschiff im September 2019 in der Bucht von St. Simons Sound auf dem Weg zum Hafen von Baltimore - die Bergung dauerte mehr als ein Jahr und war enorm kostspielig

Foto: Stephen B. Morton/ AP

Die internationale Seeschifffahrt ist für gut 90 Prozent des Welthandels verantwortlich. Auch aus diesem Grund ist die Sicherheit der Schiffe und Verkehrswege von besonderer Bedeutung. Die gute Nachricht: Die Reeder hatten im vergangenen Jahr den Verlust von lediglich 49 Schiffen zu beklagen, womit sich die Zahl der Totalverluste (2019: 48) nahe dem "Mindestniveau" stabilisiert habe, berichtet der Allianz-Schiffsversicherer AGCS in seinem Report "Saftey & Shipping Review 2021" .

Zum Vergleich: 2011 waren noch 98 Schiffsverluste zu beklagen, im Schnitt der vergangenen zehn Jahre waren 88 Schiffe mit mehr als 100 Bruttoregistertonnen als Totalverlust gemeldet worden.

Erfreulich auch: Die Zahl der Schiffsunfälle sank im vergangenen Jahr weiter um 4 Prozent auf 2703. Einen Grund für die Entwicklung sieht AGCS unter anderem in verbesserten Schiffskonstruktionen, verbesserter Schiffstechnologie sowie in einem besseren Risikomanagement.

Doch damit haben sich die Risiken für einen der wichtigsten Wirtschaftszweige keineswegs erledigt. Auch wenn die Covid-19-Krise die Schifffahrt vergleichsweise moderat traf - das Seehandelsvolumen fiel 2020 lediglich um 3,6 Prozent, und der Containerumschlag hat in den ersten Monaten 2021 das Vorkrisenniveau bereits wieder überschritten -, stellt die Pandemie gleichwohl große Herausforderungen an Schiffseigner und Besatzungen:

  • Gerade mit Blick auf die Besatzungen spricht die Studie von einer "humanitären Krise". Ende März dieses Jahres befanden sich noch rund 200.000 Seeleute an Bord von Schiffen, die wegen Covid-19-Beschränkungen nicht in die Heimat zurückkehren konnten. Mentale Ermüdung und körperliche Probleme durch ausgesetzte Crew-Wechsel konnten und könnten sich weiterhin auf die Sicherheit auswirken. Die Gewinnung neuer Crew-Mitglieder angesichts solcher Arbeitsbedingungen gestalte sich schwierig und könne zu einem echten Problem werden, wenn der internationale Handel verstärkt anziehe.

  • Störungen bei wichtigen Wartungs- und Instandhaltungsarbeiten während der Pandemie hätten das Risiko von Maschinenschäden erhöht, sagt Justus Heinrich, Leiter der AGCS-Schifffahrtsversicherung in Zentral- und Osteuropa. Ein Mangel an Ersatzteilen ebenso wie nicht ausreichend verfügbare Werftflächen erhöhten das Risiko von Maschinenschäden und damit auch von Unfällen.

  • Im Zuge von weiteren Covid-Beschränkungen könnten sich gesetzlich vorgeschriebene Schiffsbesichtigungen und Hafeninspektionen verzögern oder gar ausfallen. Defekte Ausrüstung oder die Sicherheit gefährdende Praktiken blieben so womöglich unentdeckt.

  • Covid-19-bedingte Verzögerungen in Häfen und Probleme beim Management der Schiffskapazitäten hatten schon in der Vergangenheit zu Staus und einem Containermangel geführt, berichten die Studienautoren. Im Juni dieses Jahres etwa hätten rund 300 Frachtschiffe auf die Einfahrt in überfüllte Häfen gewartet. Die Zeit, die Containerschiffe beim Warten auf Hafenliegeplätze verbringen, hat sich seit 2019 mehr als verdoppelt, was auch mit der Größe der Schiffe zu tun hat.

Große Schiffe, größere Probleme

So richtete jenseits der unmittelbaren Pandemie-Risiken zuletzt die Blockade des Suez-Kanals durch die "Ever Given" noch einmal die Aufmerksamkeit auf eine problematische Entwicklung: Der Drang der Reedereien nach Größenvorteilen und Treibstoffeffizienz lässt die Schiffe immer größer werden, zugleich wachsen die Häfen nicht schnell genug mit. Größere Schiffe aber bergen besondere Risiken. Die Reaktion auf Zwischenfälle mit diesen Riesen der Meere ist viel aufwendiger und teurer.

Auch wenn das Nadelöhr der Weltschifffahrt durch die "Ever Given" für einige Tage blockiert war und der Frachtverkehr zwischen Europa und Asien stockte - waren die Folgen dieser Havarie noch vergleichsweise überschaubar. Das Wrack des großen Autotransporters "Golden Ray", der im Herbst 2019 vor dem US-Hafen von Brunswick mit mehr als 4000 Fahrzeugen an Bord gekentert war, konnte erst im Frühjahr dieses Jahres beseitigt werden und hatte mehrere Hundert Millionen Dollar gekostet. Schwer vorzustellen, wie lange es gedauert hätte und wie hoch der Schaden ausgefallen wäre, wenn die rund 18.000 Container der "Ever Given" auf andere Schiffe oder Fahrzeuge hätten umgeladen werden müssen.

Immer mehr Container gehen über Bord

Auch wenn die Zahl der Totalverluste bei Schiffen niedrig ist und die der Schiffsunfälle leicht rückläufig, die Zahl der Containerverluste auf hoher See steigt deutlich - auf den höchsten Stand seit sieben Jahren, stellt AGCS fest. In den Weltmeeren vagabundierende Kisten sind ein Risiko für die Umwelt aber auch ein Navigationsrisiko für die Schiffe. Mehr als 3000 Container gingen im vergangenen Jahr über Bord, mehr als 1000 waren es bereits im ersten Quartal dieses Jahres. Zum Vergleich: Im Schnitt der vergangenen Jahre gingen laut Studie rund 1380 Container verloren, bei durchschnittlich rund 6000 in Betrieb befindlichen Containerschiffen.

Für den Anstieg sieht AGCS ein ganzes Bündel an Faktoren, die teils ineinandergreifen: Extremere Wetterbedingungen, steigende Frachtraten, größere Schiffe und parallel falsch deklarierte Ladungsgewichte, die zum Einsturz von Container-Türmen an Bord führen können. Dabei gehen die Schäden schnell in zweistellige Millionenhöhe.

Auffällig sei aber insbesondere die "Zunahme teurer und komplexer Schäden im Zusammenhang mit größeren Schiffen". Chemikalien und Batterien werden zunehmend in Containern verschifft und stellen dann eine Brandgefahr dar, wenn sie falsch deklariert oder verstaut werden. Rund 200 gemeldete Brände gab es im vergangenen Jahr, ein Anstieg um fast ein Sechstel.

rei
Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren