Streit unter Forschern Das Rätsel um den Russland-Rückzug westlicher Firmen

Wie viele westliche Unternehmen haben Russland nach Beginn des Krieges wirklich verlassen? Darüber streiten aktuell die Gelehrten: Forscher aus der Schweiz gegen Wissenschaftler der US-Eliteuni Yale. Es geht um die Interpretation der Kriegsfolgen.
Übernahme: Wo früher eine McDonald's-Filiale stand, wirbt in Moskau nun eine russische Kette um Kunden. Der US-Konzern hat das Land verlassen.

Übernahme: Wo früher eine McDonald's-Filiale stand, wirbt in Moskau nun eine russische Kette um Kunden. Der US-Konzern hat das Land verlassen.

Foto: Alexander Zemlianichenko / AP

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Es klingt eigentlich nach einer simplen Frage: Wie viele westliche Unternehmen haben Russland seit Beginn des Angriffskrieges gegen die Ukraine verlassen? Man sollte denken, das ließe sich zählen – schließlich haben sich Konzerne wie die Deutsche Telekom, die Baumarktkette Obi, der Autobauer Renault oder die US-Unternehmen McDonald's und Starbucks aus Protest gegen die Aggressionspolitik des Kreml gut nachvollziehbar aus Russland zurückgezogen. Doch wie so oft in Zeiten des Krieges ist die Antwort auf simple Fragen mitunter kompliziert.

Das offenbart sich gerade an einem hitzigen Streit, den sich Wissenschaftler aus europäischen und amerikanischen Elitehochschulen liefern. Beide haben Datenbanken ausgewertet, um die Frage zu beantworten – und kommen zu unterschiedlichen Ergebnissen. Mehr noch: Die einen werfen den anderen gezielte Irreführung vor.

Auf der einen Seite stehen Simon Evenett, Wirtschaftsprofessor an der renommierten Universität St. Gallen, und Niccolò Pisani, Wirtschaftsprofessor an der Lausanner Wirtschaftshochschule IMD. Sie hatten kürzlich in einer Studie analysiert , dass sich seit Kriegsbeginn lediglich 8,5 Prozent der westlichen Unternehmen aus Russland zurückgezogen haben. Sie widerlegten damit den Eindruck der Öffentlichkeit von einem Rückzug im großen Stil. Medien weltweit zitierten die Studie, auch das manager magazin griff die Ergebnisse auf.

Auf der anderen Seite stehen Jeffrey Sonnenfeld, Professor an der Yale School of Management, und seine Co-Autoren von der Kyiv School of Economics und dem Yale Chief Executive Leadership Institute. Auch sie beschäftigen sich mit der Frage des Rückzugs. Schon in den ersten Wochen des Krieges, also lange vor der Schweizer Studie, hatten sie zusammengetragen, dass über 1000 Unternehmen ihren Rückzug angekündigt hätten – sie sehen darin einen Beleg für einen "Massenexodus". Seither führen sie kontinuierlich eine Liste  darüber, welche Unternehmen Russland inwieweit verlassen haben und welche geblieben sind.

Nach der Veröffentlichung der europäischen Forscher, deren Daten ein ganz anderes Bild zeichnen, wurde Kritik laut, Sonnenfeld & Co hätten den Massenexodus womöglich nur erfunden; 1300 multinationale Konzerne hätten Russland nie wirklich verlassen. Die US-Forscher ihrerseits kritisierten die Schweizer Studie aufs Schärfste und konterten mit neuer, eigener Forschung. In Wahrheit hätten sich viel mehr Unternehmen aus Russland zurückgezogen, legt ihr Gastbeitrag  im amerikanischen Wirtschaftsmagazin "Fortune" nahe. Die Analyse von Evenett und Pisani beruhe "auf falschen Daten", die den Rückzug untertreiben; sie sei daher "irreführend".

Ab wann ist ein Unternehmen westlich?

So lautet ein Vorwurf, dass die Auswahl der Basisdaten, die der Schweizer Studie zugrunde liegen, die Ergebnisse verzerren würden. Basis sei nicht eine Liste von 1404 rein westlichen Unternehmen, wie Evenett und Pisani behaupteten, sondern eine Liste mit auch russischen Unternehmen und Privatpersonen, im wesentlichen russische Oligarchen und Putin-Kumpanen. Klar, dass die kein Interesse daran hätten, sich aus Russland zurückzuziehen.

Ein Beispiel: In den Daten der Schweizer Studie finde sich etwa der russische Rennfahrer Oleg Kharuk, der Leomax leitet, eines der größten Internet-Unternehmen in Russland. Zwei russische Tochtergesellschaften von Leomax, Internet Technologies und Domashnii, seien neben seinem Namen aufgeführt, jedoch eingestuft als "westliche multinationale Unternehmen". Auch Yandex, das russische Google, tauche in der Liste auf. Noch eine ganze Reihe von weiteren Beispielen haben die Yale-Forscher zur Untermauerung ihrer Anschuldigungen in einem Dokument  zusammengetragen. "Diese eklatante Datenfälschung ist für jeden sofort erkennbar, der die Datei mit den Daten  öffnet", schreiben Sonnenfeld und Co.

Die Autoren der Schweizer Studie weisen die Vorwürfe zurück. Die Auswahl der Unternehmen in der von ihnen verwendeten Datenbank richte sich nach dem geografischen Standort des obersten globalen Eigentümers (Global Ultimate Owner, GUO). Das ist das Unternehmen oder die Person, die einen Anteil von mindestens 50,01 Prozent kontrolliert. So würden auch in Russland ansässige Unternehmen in die Analyse mit einfließen, wenn der kontrollierende Eigentümer in einem EU- oder G7-Staat ansässig ist, wie Evenett und Pisani in einer Stellungnahme erklären. Genau das sei auch bei Yandex der Fall. Das Unternehmen gehöre zu einer Holdinggesellschaft, der Yandex N.V., mit Sitz in Amsterdam in den Niederlanden.

Viele westliche Firmen tauchen nicht in Analyse auf

Ein weiterer Vorwurf der Yale-Forscher bezieht sich auf die mangelnde Vollständigkeit der Daten. Viele westliche Konzerne fehlten schlicht in den Daten der Schweizer Forscher und seien somit nicht für die Analyse berücksichtigt worden, wie Sonnenfeld und seine Kollegen kritisieren. Das betreffe Hunderte von Großunternehmen, etwa Amazon, Airbus, Boeing, Chevron, Citigroup, Commerzbank, Deutsche Bank, Goldman Sachs, Marriott und Wells Fargo. Stattdessen befänden sich zahlreiche irrelevante Unternehmen in den Daten.

Darauf entgegnen Evenett und Pisani, dass die genannten Konzerne aus dem Raster ihrer Analyse gefallen seien, weil sie nicht den zuvor festgelegten Kriterien entsprochen hätten. Einige hätten etwa keinen Sitz in EU- oder G7-Staaten. Einige seien als EU-Firmen nicht über eine Beteiligung an einer Tochtergesellschaft in Russland tätig gewesen. Bei einigen habe man eine vollständige Veräußerung der russischen Tochtergesellschaft nicht überprüfen können. Und einige seien schlicht nicht in der von ihnen ausgewählten Datenbank aufgeführt gewesen.

Die Yale-Forscher verweisen dazu darauf, dass es sich um eine russische Datenbank handele. Für sie ist es aufgrund dieser "ernstzunehmen Fehler", wie sie es nennen, nur logisch, dass das Ausmaß des Russland-Rückzugs in der Schweizer Studie so gering ausfällt.

Yale-Forscher legen mit eigener Studie nach

Um ihre eigene These zu belegen, sahen sich die Yale-Forscher gezwungen, jetzt noch einmal nachzulegen. Im Rahmen einer neu verfassten Studie  versuchen sie zu beweisen, dass der Rückzug im großen Stil tatsächlich stattgefunden hat und nicht nur aus leeren Versprechungen bestand. Ihr Paper liest sich wie ein flammendes Plädoyer – doch auch in ihren Ergebnissen fällt der Anteil der wirklich vollzogenen Rückzüge westlicher Unternehmen aus Russland erstaunlich gering aus. Bis zum Februar 2023 haben demnach lediglich 179 Unternehmen Russland komplett verlassen – das entspricht 12,7 Prozent der von ihnen zugrunde gelegten Gesamtzahl aller westlichen Firmen.

Diese Zahl liegt am oberen Ende der Spanne, die auch Evenett und Pisani in ihrer Studie nannten. "Je nachdem, wie die öffentlichen Angaben der Unternehmen verwendet und interpretiert werden, sind jedoch auch Schätzungen zwischen 5 und 13 Prozent vertretbar", stellten die Schweizer Forscher damals und jetzt noch einmal in einem Beitrag  klar. "Es ist offensichtlich, dass unterschiedliche methodische Ansätze zu unterschiedlichen Ergebnissen führen können", schrieb Pisani auf Anfrage des manager magazins. Aber keine andere Studie – jene von Herrn Sonnenfeld und seinen Co-Autoren eingeschlossen – hätten einen wesentlichen anderen Prozentsatz festgestellt.

Die Yale-Forscher lassen sich von ihrer These jedoch nicht abbringen. Sie sehen sich darin bestätigt, dass der Massenexodus stattfindet. Weitere 23 Prozent der Unternehmen befinden sich schließlich noch im Prozess, Russland zu verlassen. Auf eine Anfrage des manager magazins dazu, reagierten sie nicht.

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