Corona-Impfstoff Die Serie der Pannen und Missgeschicke von Astrazeneca

Hoffnung der Welt: Vorbereitung einer Impfung mit dem Oxford/Astrazeneca-Impfstoff in Nepal
Foto: NARENDRA SHRESTHA/EPA-EFE/Shutterstock"Wir machen das ja nicht mit Absicht." Im Streit mit der Europäischen Union um die verzögerten Lieferungen des Corona-Impfstoffs geht Astrazeneca-Chef Pascal Soriot (61) einerseits auf harten Konfrontationskurs, wirbt andererseits aber auch um Verständnis. Dass die Produktion nicht so schnell in Gang komme, sei auch "einfach Pech". Sowas komme vor, wenn man einen komplexen Prozess, der sonst Jahre dauere, in wenigen Monaten und beispielloser Größe aufziehe.
Tatsächlich ist der Erwartungsdruck enorm. Der von Astrazeneca und der Universität Oxford entwickelte Impfstoff AZD1222 galt lange als größter Hoffnungswert für das Ende der Corona-Pandemie - und könnte diesen Status immer noch haben. Schließlich ist für kein Vakzin eine so große Produktionskapazität aufgebaut worden. Vor allem die Versorgung armer Länder, ohne die das Virus weiter grassieren und mutieren kann, hängt stark an dem kostengünstigen und logistisch einfachen Mittel. Aber auch die Impfstrategie in weiten Teilen Europas basiert darauf, dass dieses Vakzin auch Ältere in Pflegeheimen erreicht, weil es keine komplizierte Tiefkühllogistik braucht. Umso schwerer wirken die Enttäuschungen. Und davon gibt es eine Reihe. Hier ein Überblick:
Messfehler in Oxford
Messfehler passieren - auch an einer Eliteuniversität wie Oxford. Im Mai 2020, so hat es die Nachrichtenagentur Reuters aus wissenschaftlichen Dokumenten rekonstruiert, erhielten die Briten kurz nach dem Abkommen mit Astrazeneca und unmittelbar vor Start der klinischen Tests eine Lieferung des Wirkstoffs von dem italienischen Hersteller IRBM/Advent.
Sie kontrollierten mit ihrer eigenen Methode die Konzentration und fanden die Lösung doppelt so stark, wie von den Italienern gemeldet. Daher wurde den ersten Probanden die halbe Menge gegeben - im irrtümlichen Glauben, es handle sich um die volle Impfstoffdosis. Offenbar hatte ein Inhaltsstoff mit dem ultravioletten Licht der Oxford-Instrumente reagiert.
Als der Fehler bemerkt wurde, lief die groß angelegte Studie bereits. Mit den Behörden wurden die bereits mit halber Dosis Geimpften nachträglich als neue Gruppe ins Studiendesign eingefügt, für alle anderen sollte der ursprüngliche Plan gelten.
Lange Pause in Amerika
Kaum hatte die Weltgesundheitsorganisation das Projekt als Vorreiter gelobt, musste Astrazeneca die globale klinische Studie der abschließenden Studie III am 6. September 2020 unterbrechen. Eine Probandin hatte nach der Impfung eine seltene Nervenerkrankung namens transverse Myelitis entwickelt. Sicherheit geht vor Schnelligkeit, so war damals noch der Konsens. Entsprechend dem normalen Verfahren ließen die Behörden abklären, ob es sich um eine Nebenwirkung der Impfung handeln könne.
In Brasilien, Großbritannien, Indien und Südafrika gab es nach wenigen Wochen Entwarnung und die Tests konnten fortgesetzt werden. Auch der Tod eines brasilianischen Probanden an Covid-19 am 21. Oktober blieb eine Randnotiz: Offenbar hatte er das Placebo erhalten und nicht den Impfstoff. Die US-Behörde FDA ließ die Pause aber bis zum 23. Oktober dauern. Die Folge: Die US-Ergebnisse der eigentlich global mit mehr als 42.000 Teilnehmern angelegten Studie fehlen bis heute.
Mehr Fragen als Antworten
Nachdem die jungen Biotechfirmen Biontech und Moderna mit ihrer revolutionären mRNA-Technologie schon im November Erfolg melden konnten, zogen Astrazeneca und Oxford am 23. November nach - mit Zwischenergebnissen aus den Studien ausschließlich in Brasilien und Großbritannien. Mit einer Wirksamkeit von 90 Prozent konnten sie fast mithalten, aber nur nach der versehentlichen britischen Dosierung von einer halben, gefolgt von einer zweiten Dosis. Zwei volle Dosen, wie planmäßig in Brasilien und den anderen britischen Teilnehmern gegeben, brachten nur 62 Prozent Wirksamkeit.
Schon der Durchschnittswert (70 Prozent) sorgte für maximale Verwirrung. Doch dann warf die von Astrazeneca-Chef Pascal Soriot gefeierte "Siegerformel" noch weitere Fragen auf. Unter anderem stellte sich heraus, dass die bessere Dosis nur Teilnehmern unter 55 Jahren verabreicht worden war, die Studie also nichts über den Erfolg unter den wichtigen älteren Risikogruppen aussagte. Über die Gründe für die unterschiedliche Wirkung mochten die Impfstoffmacher nur spekulieren.
Streit der Projektpartner
In den folgenden Wochen entbrannte zudem ein Streit zwischen den Projektpartnern. Während Astrazeneca-Forschungsvorstand Mene Pangalos einen Irrtum einräumte und von "Serendipity" (glücklichem Zufall) sprach, widersprach die Universität Oxford offen: Das Vorgehen sei natürlich wissenschaftlich korrekte Absicht gewesen. Soriot sah sich am 26. November gezwungen, eine zusätzliche Studie in Aussicht zu stellen, um die Ergebnisse zu bestätigen - also noch mal eine monatelange Warteschleife, wenn auch nicht so lang wie beim ersten Versuch.
Pakt mit Putin
Die erste Veröffentlichung einer Corona-Impfstoffstudie mit wissenschaftlicher Peer Review am 8. Dezember im Fachblatt "Lancet" brachte nur einen Teilerfolg, denn die unabhängigen Gutachter verwiesen auf die vielen noch offenen Fragen.
In dieser Lage öffnete sich Astrazeneca am 11. Dezember einer Kooperation mit dem russischen Staatsinstitut Gamaleya. In der Sache womöglich hilfreich, ähneln sich doch AZD1222 und das Gamaleya-Vakzin "Sputnik V" und könnten in Kombination noch stärker wirken. Das Image des führenden westlichen Pharmakonzerns, der mit den eben noch für ihren schnellen Impfstart entgegen wissenschaftlicher Standards verrufenen Russen paktiert, bekam jedoch Risse.
Kontinentale Hilfe im Brexit
Die Zulassung schien in die Ferne zu rücken, doch Großbritannien erteilte sie am 30. Dezember in der Not der zweiten Pandemiewelle trotzdem. Von einem "Triumph der britischen Forschung" schwärmte Premier Boris Johnson (56). Ein Triumph der britischen Industrie war es noch nicht: Anfangs musste Astrazeneca inmitten des Brexit-Wirrwarrs fertige Impfdosen mit deutscher Vorleistung aus einem belgischen Werk auf die Insel liefern, weil die britische Produktion noch nicht recht in Gang kam.
Flut und Feuer
Als sie auf Touren lief, wäre sie fast schon wieder gestoppt: Am 20. Januar 2021 ging ein natürliches Unwetter über Nordwales nieder und überflutete das Gelände des Zulieferers Wockhardt in Wrexham, wo die Impfdosen für Großbritannien abgefüllt werden. Der Katastrophenschutz konnte die systemrelevante Anlage gerade noch retten.
Am 21. Januar brach ein Feuer im Werk des Impfstoffherstellers Serum Institute of India in Pune aus, wo das Oxford-Vakzin mit Astrazeneca-Lizenz unter dem Namen Covishield gefertigt wird - mit Produktionsziel von einer Milliarde Dosen pro Jahr um Längen größer als alle anderen Anlagen. Von dort wird ein Großteil der Welt beliefert. Serum-Insitut-Chef Adar Poonawalla beeilte sich zu versichern, der Schaden sei zwar immens, betreffe aber nicht die Produktion des Corona-Mittels. Fünf Menschen starben.
Impf-Zoff mit Europa
Wie eine Katastrophe schien es wohl auch den versammelten EU-Gesundheitsministern vorzukommen, als Astrazeneca-Chef Soriot ihnen am 22. Januar ein Problem in der Lieferkette beichtete: Offenbar schafft der Zulieferer Novasep im belgischen Seneffe noch nicht die erhofften Erträge beim Züchten des Wirkstoffs, ähnlich wie zuvor in Großbritannien. Nur gibt es diesmal keinen Ersatz von anderswo, daher kürzte Astrazeneca seinen Lieferplan für die EU im ersten Quartal kurzerhand um 60 Prozent. Das Mittel sollte in Europa endlich Entlastung bringen, weil auch Biontech und Pfizer vorübergehend weniger liefern als geplant. Daher lagen die Nerven blank.
Trau keinem unter 65
Als das Mittel am 29. Januar schließlich in Europa zugelassen wurde, zog die deutsche Ständige Impfkommission eine neue Barriere ein: Empfohlen wurde das Vakzin nur in der Altersgruppe unter 65 Jahren. Praktischer Vorteil: So könnte schneller mit dem Impfen des medizinischen Personals und Risikogruppen begonnen werden, ohne zu warten, bis die Impfgruppe 1 der Älteren komplett versorgt ist. Begründet wurde der Schritt mit dem Mangel an Daten - was aber weithin missverstanden wurde, es sei doch etwas dran an den zuvor lancierten Medienberichten, Astrazeneca wirke gar nicht bei Älteren.
Sieg der Mutanten
Dass ein ganzes Land den Impfstoff verweigert, ist eine Premiere - und dem Siegeszug des mutierten Coronavirus geschuldet. Südafrika entschied am 7. Februar, die Impfkampagne mit Astrazeneca zu stoppen, als die erste Million Dosen gerade eingetroffen und eine weitere halbe Million unterwegs war. Laut einer neuen, wenn auch kleinen Studie bietet der Impfstoff keinen ausreichenden Schutz gegen die in Südafrika verbreitete Virusvariante B.1.351. Die senkt zwar auch die Wirksamkeit der anderen Vakzine deutlich, aber nur die von Astrazeneca fällt unter die kritische Schwelle von 50 Prozent.
Dass das Mittel immer noch spürbar gegen schwere Verläufe hilft und Krankenhausaufenthalte vermeidet - laut einer neuen schottischen Studie sogar besser als die Alternativen -, ging dagegen unter. Vergeblich appellierte die Chefwissenschaftlerin der Weltgesundheitsorganisation, Soumya Swaminathan (61): "Nehmen Sie es. Warten Sie nicht auf etwas Besseres."
Die größte denkbare Verschwendung
Genau dieses Warten auf etwas Besseres setzte sich auch im reichen - und noch mutantenarmen - Europa im Lauf des Februar durch. Besonders in Deutschland blieb nach Berichten über starke Impfreaktionen der Großteil der verfügbaren Astrazeneca-Dosen liegen, weil vor allem im medizinischen Personal viele die Spritze ablehnten und Impfwilligen aus anderen Gruppen kaum Termine angeboten wurden. Zum Monatsende lagen mehr als 1,6 Millionen ungenutzte Impfdosen in deutschen Kühlschränken - die größte denkbare Verschwendung. "Das ist irgendwie schlecht gelaufen", räumte Impfkommissionschef Thomas Mertens (70) am 26. Februar ein. Die Beteuerungen von Spitzenpolitikern, Astrazeneca sei "sehr gut", keineswegs ein "Impfstoff zweiter Klasse", und sie würden ihn selbst nehmen, wenn sie denn nur dürften, wirkten auch nicht gerade wie aus dem Lehrbuch der Reklame.
Hoffen auf Entwicklungshilfe aus Indien
Zu viel und gleichzeitig zu wenig - dieses Paradox folgte zeitgleich aus Meldungen, auch im zweiten Quartal könne Astrazeneca in Europa nur halb so viel liefern wie geplant. Die wurden zwar schnell dementiert. Es gebe Pläne, die versprochenen 180 Millionen Dosen zu liefern - dafür werde man die "globale Kapazität" nutzen. Anscheinend läuft die Produktion in Belgien noch immer nicht ganz rund, und das Serum Institute of India (SII) könnte die Lücke füllen - wenn es denn darf. SII-Chef Adar Poonawalla (40) bat die "lieben Länder und Regierungen" am 21. Februar um Geduld. Nachdem er dem ebenfalls vom belgischen Werk abhängigen Kanada Rettung versprach, sei er nun von der indischen Regierung angehalten worden, den Bedarf Indiens zuerst zu decken.
Erzwungener Vertragsbruch
Australien bekam am 4. März den Groll der EU-Regierungen über die Lieferprobleme zu spüren. Die italienische Regierung von Mario Draghi (73) verhängte erstmals die von der EU neu eingeführte Exportsperre für den Astrazeneca-Impfstoff. Australien, wo die Pandemie annähernd unter Kontrolle ist, brauche den Impfstoff gar nicht so dringend - darin sind sich beide Seiten einig. Trotzdem löst der harte Eingriff ein diplomatisches Zerwürfnis aus, das weitere Folgen für die Handelspolitik haben könnte - und bringt Astrazeneca in die Bredouille: Weil die EU ihren Vertrag mit dem Konzern verletzt sieht, zwingt sie ihn, seinen Vertrag mit Australien zu brechen.