Internes Papier Nestlé hält den Großteil seiner Lebensmittel für ungesund

Ein internes Papier kompromittiert offenbar den Nestlé-Konzern. Einem Bericht zufolge bezeichnet der weltgrößte Lebensmittelkonzern darin mehr als 60 Prozent der eigenen Produkte als ungesund.
Nestlé-Produkte im Mitarbeiter-Supermarkt der Zentrale im schweizerischen Vevey: Ein Großteil der Lebensmittel und Getränke des Konzerns ist der Gesundheit nicht förderlich

Nestlé-Produkte im Mitarbeiter-Supermarkt der Zentrale im schweizerischen Vevey: Ein Großteil der Lebensmittel und Getränke des Konzerns ist der Gesundheit nicht förderlich

Foto: DENIS BALIBOUSE/ REUTERS

Geht es um die Gesundheit seiner Mitarbeiter, so schreckt Nestlé-Chef Mark Schneider (55) offenbar vor keinem Aufwand zurück. Auf dem Höhepunkt der Corona-Pandemie lief er eigenen Angaben zufolge persönlich mit dem Smartphone durch die Konzernzentrale und dokumentierte, wo die Sicherheitsmaßnahmen noch verbessert werden könnten. "Wahrscheinlich gibt es kaum einen sichereren Ort als unsere Zentrale in Vevey", sagte Schneider seinerzeit in einem exklusiven Gespräch mit dem manager magazin . "Jeder, der hier durch die Tür kommt, bekommt automatisch einen Temperaturscan, muss sich die Hände desinfizieren, seine Daten hinterlegen und eine Maske aufsetzen."

Die Gesundheit seiner Kunden dagegen bereitet dem Konzernchef offenbar nicht ganz so viel Kopfzerbrechen. Zumindest nimmt er in Kauf, dass sie durch den größten Teil der Produkte, die Nestlé verkauft, potenziell beeinträchtigt wird. Diesen Schluss lässt ein internes Papier aus dem Nestlé-Konzern zu, über das die "Financial Times " berichtet.

Mehr als 60 Prozent der Speisen und Getränke, die der weltgrößte Nahrungsmittelkonzern vertreibt, erfüllten nicht die "anerkannte Definition von gesund", heißt es laut "FT" in der Nestlé-internen Präsentation, die unter Führungskräften des Unternehmens verbreitet worden sei. Einige Produktkategorien würden auch niemals die Kriterien für die Bezeichnung "gesund" erfüllen können, so das Dokument demnach weiter - ganz gleich, welche Anstrengungen Nestlé zu diesem Zweck unternehme.

Dem Bericht zufolge, zu dem von Nestlé zunächst keine Stellungnahme zu bekommen war, erhalten lediglich 37 Prozent aller Lebensmittel und Getränke von Nestlé eine Bewertung von 3,5 Sternen oder mehr von möglichen fünf Sternen beim australischen "Health Star Rating", einem allgemein anerkannten Bewertungssystem für Lebensmittel. Besonders schlecht kommen dabei - wenig überraschend - die Bereiche Süßigkeiten sowie Getränke weg. Nestlé zufolge könne ab 3,5 Sternen von "gesund" gesprochen werden, so die "FT".

Nestlé verfehlt eigene Ziele zur Zuckerreduzierung

Wie die Zeitung weiter berichtet, sind in den Daten, die der Präsentation zugrunde liegen verschiedene Produktbereiche von Nestlé nicht eingeschlossen, wie beispielsweise Babynahrung, Tierfutter oder speziell für Menschen mit Gesundheitsproblemen hergestellte Nahrung. Die Zahlen stünden daher insgesamt für etwa die Hälfte des Nestlé-Jahresumsatzes von rund 92,6 Milliarden Schweizer Franken (84,4 Milliarden Euro).

Die Zahlen erscheinen bemerkenswert in einer Zeit, in der gesunde Ernährung und der Kampf gegen Fettleibigkeit eine zunehmende Bedeutung erlangen. Laut "FT" wollen die Verantwortlichen bei Nestlé noch in diesem Jahr entscheiden, wie sich der Konzern in dieser Hinsicht verbessern kann.

Die Anstrengungen, die Nestlé diesbezüglich in der Vergangenheit unternommen hat, haben offenbar nicht ausreichend gefruchtet. Seit Jahren versucht der Konzern, den Anteil an Zucker, Salz und ungesunden Fetten in seinen Lebensmitteln zu reduzieren. In den vergangenen beiden Jahrzehnten etwa sei der Gehalt an Zucker und Natrium in den Nestlé-Produkten um etwa 14 bis 15 Prozent reduziert worden, zitiert die "FT" aus der Präsentation.

Zuletzt jedoch wurden die selbst gesteckten Ziele zumeist verfehlt, wie der Konzern auf der eigenen Website eingesteht . So sei der Zuckergehalt in Nestlé-Produkten seit 2017 im Schnitt um 4,5 Prozent reduziert worden. Ein Minus von 60.000 Tonnen Zucker, wie der Konzern berechnet hat - aber weniger als geplant. Ursprünglich wollte Nestlé den Zuckergehalt im fraglichen Zeitraum um 5 Prozent senken.

Nestlé-Aktionäre erwarten Milliardenumsatz

Noch drastischer hat Nestlé das selbst gesteckte Ziel beim Salzgehalt verfehlt: 10 Prozent weniger sollten es seit 2017 ursprünglich werden - am Ende gelang eine Reduzierung um lediglich 3,8 Prozent. Lediglich beim Kampf gegen ungesunde gesättigte Fette sieht sich Nestlé auf Kurs: Seit 2017 konnten diese wie geplant um 10 Prozent reduziert werden.

Dass das Nestlé-Angebot trotz aller Bemühungen des Konzerns nach wie vor nicht gesünder daherkommt, hat allerdings einen einfachen Grund. Der Weltkonzern muss seinen Aktionären Jahr für Jahr Milliardenumsätze und Gewinne liefern, wofür das Massengeschäft die Grundlage ist. Wenn Nestlé-Chef Schneider wissen will, was ihm möglicherweise blüht, wenn ihm dies nicht gelingt, muss er nur zum Konkurrenten Danone schauen: Bei dem französischen Nahrungsmittelkonzern musste kürzlich Vorstands- und Verwaltungsratschef Emmanuel Faber (57) gehen, weil aktivistische Investoren unzufrieden mit seinem Kurs und seinen Geschäftszahlen waren.

Das heißt: Nestlé verkauft Lebensmittel, die so viele Menschen wie möglich konsumieren - und das ist im Zweifel Junkfood mit hohem Gehalt an Zucker, Salz oder Fett. Zwar mischen Großkonzerne wie Nestlé oder Unilever längst auch im stark wachsenden modernen Geschäft mit vegetarischer Küche mit. Ein Ersatz für den Massenmarkt ist das aber kaum - eher schon ein "Veggie-Abenteuer", wie es Nestlé-Chef Schneider formulierte .

"Ein smarter Konzern ... aber er hat ein Problem"

"Nestlé ist ein smarter Konzern ... aber er hat ein Problem", bringt es eine Nahrungsmittelforscherin gegenüber der "FT" auf den Punkt. "Wissenschaftler haben Jahre nach einer Lösung gesucht, wie sich Salz und Zucker ersetzen lassen, ohne den Geschmack zu verändern, und Überraschung: Das ist schwierig."

Das gilt insbesondere bei Produkten, die per se nicht darauf ausgerichtet sind, die Gesundheit zu fördern. Wie zum Beispiel ein "Nesquik" mit Erdbeergeschmack, das Nestlé in den USA verkauft. Laut "FT"  enthält eine 14-Gramm-Portion des Getränkepulvers nicht weniger als 14 Gramm Zucker. Laut Nestlé ist die Nesquik-Variante dennoch "perfekt für das Frühstück, um Kinder auf den Tag vorzubereiten".

cr
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