Baustelle Deutschland
Rosskur für die neuen Länder
Ostdeutschland bleibt eine Problemzone. Jedes Jahr überweist der Westen mehr als vier Prozent seines Sozialprodukts an die neuen Länder. Die ökonomischen Kosten dieser Transfers sind enorm, weil sie private Initiative ersticken in Ost wie West. Es gibt nur eine Lösung: mehr Föderalismus wagen.
1990 arbeitete ich ein halbes Jahr als Reporter in Rostock. Unmittelbar nach der deutsch-deutschen Währungsunion traf ich dort im Juli ein. Aus nächster Nähe erlebte ich den Beginn der ökonomischen Katastrophe mit, besuchte die großen Werften an der Küste, in Rostock, Stralsund und Wolgast, recherchierte im heruntergekommenen Greifswalder Kernkraftwerk, sprach mit den Kombinatschefs, allesamt SED-Kader, die damals noch im Amt waren, besuchte landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaften (LPGs), redete mit Bürgerrechtlern, Neupolitikern und Existenzgründern.
Niemand wusste damals, wie es weiter gehen sollte. Was sollte aus einer Region werden, in der es keine großen Städte gab und die von Landwirtschaft und Schiffbau geprägt war, beides Branchen, die in allen wohlhabenden Ländern des Westens zu den Sorgenkindern der Ökonomie gehören?
Diese Frage stellte ich damals Alfred Gomolka (CDU), dem ersten Ministerpräsidenten von Mecklenburg-Vorpommern. Wir saßen bei ihm zuhause in der Küche im Greifswalder Vorort Eldena und tranken Kaffee. Gomolka ist ein bedächtiger Mann mit leiser Stimme, der nicht eben zu Euphorie neigt.
Er zog an seiner Pfeife. In den kommenden zehn Jahren, also bis zum Jahr 2000, so glaubte er damals, werde sich sein Land zu einer Mischung aus Hightech- und Tourismus-Region entwickeln. Wohlhabend, natürlich, integriert in die Märkte des Ostseeraums.
Das schlechte Geld aus dem Westen
Daraus ist leider nicht viel geworden. Sicher, rund um die Universitäten Rostock und Greifswald sind ein paar bescheidene Technologiefirmen gegründet worden; im Tourismus an der Küste, vor allem auf den Inseln Rügen und Usedom, sowie an der Müritz ist einiges Neues entstanden.
Ansonsten aber kämpft das Land Mecklenburg-Vorpommern um seine blanke Existenz: Weil sie keine Perspektive sehen, ziehen so viele Menschen fort, dass das Bundesland möglicherweise am Ende dieses Jahrzehnts mit anderen fusionieren muss, einfach weil die Verwaltung eines derart entleerten Landstrichs nicht mehr finanzierbar sein wird.
Wieder einmal zeigt sich, dass man auch mit noch so viel Geld die Grundregeln der Ökonomie nicht außer Kraft setzen kann. In einer dünn besiedelten Region wie Mecklenburg-Vorpommern wird Hightech nie eine wirkliche Chance haben.
Aus einer solchen Region ziehen die Menschen fort in die Zentren. Mit üppigen, überwiegend aus dem Westen bezahlten Sozialgeldern wurde versucht, sie am Wegziehen zu hindern.
Letztlich hat diese Strategie den Niedergang der Region allenfalls vorübergehend aufgehalten, nicht aber umgekehrt - eine ganze Generation wurde um ihre Zukunft gebracht, weil ihnen die Vision einer glorreichen Perspektive vorgegaukelt wurde. Eine Perspektive, die faktisch keine Realisierungschance hatte.
Neben den materiellen und mentalen Verwüstungen, die der Sozialismus hinterlassen hat, ist dies das größte Entwicklungshindernis für die neuen Länder: Es gibt kaum Ballungsräume.
Die Folgen der Gießkannen-Politik
Die gesamte Nordhälfte - Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg, Sachsen-Anhalt -, ist so dünn besiedelt, dass ihre Entwicklungsperspektiven äußerst bescheiden sind. Als "Wachstumspole" gelten lediglich sieben Städte: Leipzig, Dresden, Halle, Erfurt, Jena, Chemnitz und Berlin. Dies sind die einzigen Orte in den neuen Ländern, die überhaupt auf eine kritische Masse an Menschen und Know-how hoffen lassen. Aber auch sie haben sich bislang enttäuschend entwickelt.
Schuld ist die Politik. Mit der Gießkanne wurden und werden die Gelder übers Land verteilt, statt sie in den wenigen aussichtsreichen Zentren konzentriert einzusetzen. Und: Ein gleichmacherisches Wirtschafts- und Sozialsystem verbietet den Ostländern, ihre Stärken auszuspielen.
In Deutschland versucht der Staat regionale ökonomische Unterschiede einzuebnen. Dieses Ziel genießt sogar Verfassungsrang. Das Grundgesetz formuliert die Verpflichtung, die "Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse" herzustellen - in der gesamten Bundesrepublik. Unterschiede werden nicht akzeptiert.
Verrückterweise tut das deutsche System aber alles, um bestehende Differenzen - unter Einsatz gewaltiger Geldbeträge - zu zementieren.
Wie? Indem überall die gleichen Steuersätze und Sozialversicherungsbeiträge zu zahlen sind und indem Sozialleistungen bundesweit nur wenig differenziert werden. Die Folge: Rückständige Regionen verlieren ihren größten potenziellen Wettbewerbsvorteil - niedrige Kosten.
Ihrer Stärken beraubt, werden sie zu Dauerempfängern von Transferzahlungen. Diese Politik schädigt nicht nur die schwachen, sondern auch die wirtschaftlich starken Regionen, die nun Staatseinnahmen generieren müssen, die nicht in den Zentren hochproduktiv investiert werden, sondern stattdessen in der Fläche versickern. Wer rückständigen Gebieten wie den neuen Bundesländern helfen will, sollte auf drei Strategien setzen.
Strategie 1 - Konkurrenz erlauben
1. Wettbewerb der Systeme
Die Konkurrenz der Regionen zuzulassen und ihnen zu ermöglichen, ihre jeweiligen Vorteile auszuspielen - das wäre eine sinnvolle Alternative zum heutigen gleichmacherischen System. Die Vorschriften der öffentlichen Verwaltung, vor allem aber die Erhebung wichtiger Steuerarten wie Einkommen-, Vermögens-, Grund- und Gewerbesteuer sollten in die Kompetenz der einzelnen Länder gelegt werden.
Dann würde ein produktiver Wettbewerb um das beste Preis-Leistungs-Verhältnis öffentlicher Leistungen entbrennen. Dürfte zum Beispiel Brandenburg auf die Erhebung der Einkommensteuer ganz verzichten, so würde es nur wenige Jahre dauern, bis sich eine Vielzahl an Hightech-Firmen mit ihren hoch bezahlten Mitarbeitern im Berliner Umland ansiedelten.
Das Beispiel ist nicht so abwegig: Amerikanische Bundesstaaten wie Texas und New Hampshire erheben ebenfalls keine Einkommensteuer; dort werden lediglich die Steuern fällig, die unmittelbar an Washington abzuführen sind.
Föderale Staaten wie die USA oder die Schweiz belegen auch, dass ein solcher Wettbewerb nicht zu einem gnadenlosen Unterbietungswettbewerb führt, wie in Deutschland häufig behauptet wird.
New Hampshire zum Beispiel grenzt an den Hochsteuerstaat Massachusetts, der seinen Bürgern und Unternehmen ein weitaus höheres Niveau an öffentlichen Leistungen bietet. Beide leben in friedlicher Koexistenz. Die niedrige Steuerlast in New Hampshire allerdings verhindert ein wirtschaftliches Abrutschen dieses ländlich geprägten Staates.
Welche Kompetenzen verblieben in einem solchen Wettbewerbsföderalismus beim Bund? Die Zentralebene sollte sich darauf konzentrieren, überregionale Verkehrswege und eine sozialstaatliche Basisabsicherung bereitzustellen.
Strategie 2 - Clusterbildung fördern
2. Clusterbildung unterstützen
Neben dem Wettbewerb der Systeme kann der Staat regionale Stärken unterstützen, insbesondere durch Investitionen in spezielle Infrastruktur.
Exemplarisch für eine solche Strategie steht in Deutschland der Großraum München, wo über Jahrzehnte eine hochklassige Landschaft der Naturwissenschaft aufgebaut wurde.
Mehr noch: Die einschlägigen Institute und Einrichtungen residieren gebündelt in direkter, fußläufiger Nachbarschaft. So haben sich die "Life-Science"-Disziplinen Medizin, Biochemie und Genforschung (neben anderen) um das Großklinikum Großhadern am Münchener Stadtrand angesiedelt.
Das benachbarte Martinsried wurde Ende der neunziger Jahre zum Standort für Biotech-Firmen, die von jungen Wissenschaftlern aus den Instituten gegründet wurden.
Geld in die Infrastruktur der Zentren zu investieren ist das eine.
Aber der Staat kann noch mehr tun: Er kann derartige Cluster unterstützen, indem er wichtige Akteure einer solchen Szene zusammenbringt, ihnen Foren zur Kommunikation und zum Austausch zur Verfügung stellt. Das kostet nicht viel, ist aber womöglich sehr wirksam.
Mitte der neunziger Jahre setzte der BioRegio-Wettbewerb des damaligen Forschungsministers Jürgen Rüttgers (CDU) erstmals in Deutschland auf dieses Konzept - mit beachtlichem Erfolg. Zur Förderung von Clustern gehören natürlich auch Investitionen in Verkehrswege, die diese Cluster bestmöglich an die Außenwelt anbinden.
Strategie 3 - Passiv sanieren lassen
3. Passive Sanierung
Das Postulat von der "Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse" geht implizit von der Voraussetzung aus, die Bürger seien immobil. Weil die Menschen den jeweils herrschenden Lebensverhältnissen nicht ausweichen könnten, sollen unterdurchschnittlich entwickelte Regionen aufgepäppelt werden.
Tatsächlich hört man oft das Argument, es sei doch zu begrüßen, wenn die Bürger immobil seien. Was solle schließlich aus Vorpommern werden, wenn alle wegzögen?
Eine zynische Argumentation: Schließlich ist die Politik nicht für Landschaften da, sondern für Menschen.
Wenn sie durch einen Fortzug ihre Chancen auf Selbstverwirklichung, Beschäftigung, Wohlstand, Erfolg und Anerkennung verbessern können - ihre Chancen darauf, überhaupt einen Job zu bekommen -, dann sollten sie gehen.
Niemand sollten sie daran hindern. Im Gegenteil: Sie sollten Mobilitätshilfen bekommen (die inzwischen in den neuen Bundesländern auch gezahlt werden).
Weil die aktive Sanierung rückständiger Gebiete kaum jemals funktioniert, sollte die Politik akzeptieren, dass sich manche Regionen entleeren (im Fachjargon "Passive Sanierung") und andere durch Zuzug gewinnen - nicht nur, weil es ökonomisch effizient ist, sondern auch, weil es den Bürgern gegenüber fair ist.