Baustelle Deutschland Der Fluch der kurzen Arbeitszeiten
Michael Sommer, der Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB), hat einen denkwürdigen Vorschlag in die Welt gesetzt: Jeder Arbeitnehmer solle doch einmal prüfen, ob er sich vorstellen könne, die Arbeitszeit zu reduzieren und auf einen Teil seines Einkommens zu verzichten.
"Wenn rund eine Million Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ihre Arbeitszeit um durchschnittlich 20 Prozent reduzieren", so Sommer, "könnten wir 250.000 neue Arbeitsplätze schaffen." Natürlich müssten dafür "die Arbeitgeber" ihre "Teilzeitblockade" aufgeben und "die durch Arbeitszeitverkürzung freiwerdenden Mittel eins zu eins einsetzen, um neue, existenzsichernde Arbeitsplätze zu schaffen".
Wer gut verdiene, der solle verzichten, um denen, die keine Arbeit haben, etwas abzugeben. Anders gehe es nicht mehr. Arbeit sei nun mal knapp, da müssten alle Opfer bringen.
Eine Idee, die vielen Deutschen einleuchten dürfte. Seit Jahrzehnten praktizieren Gewerkschafter und Politiker der großen Volksparteien die Umverteilung von Arbeit. Arbeitsplatzbesitzern müsse genommen, den Arbeitslosen gegeben werden - eine Robin-Hood-Doktrin.
Tarif- und Sozialpolitiker haben ganze Arbeit geleistet: In kaum einem Land arbeiten die Beschäftigten weniger Stunden im Jahr (1467), verfügen sie über mehr Urlaubstage (30), gehen sie früher in den Ruhestand (im Durchschnitt mit 60 Jahren). 35-Stunden-Woche, Teilzeit-Initiativen, Vorruhestand, Frührente, Altersteilzeit - all diese Programme sollten die Arbeitslosigkeit senken. Und doch haben sie ihr Ziel nicht erreicht. Im Gegenteil.
Der Beschäftigungsfatalismus
Dennoch halten die Gewerkschaften eisern an der Theorie fest, es gebe eine bestimmte Menge von Arbeit, die nur auf mehr Köpfe verteilt werden müsse. Immer noch versuchen sie, in den Industriebetrieben der maladen neuen Bundesländer die 35-Stunden-Woche durchzusetzen; im Westen wird gelegentlich sogar das Ziel einer 32-Stunden-Woche diskutiert - oder der erwähnte freiwillige Arbeitsverzicht der Besserverdienenden. Weniger Beschäftigung, so das Credo, soll zu mehr Beschäftigten führen.
Die Gewerkschaften und die Arbeitnehmerflügel der großen Volksparteien stehen mit dieser Haltung nicht allein. Drei Jahrzehnte steigender Massenarbeitslosigkeit haben in Deutschland einen eigentümlichen Beschäftigungsfatalismus verbreitet, wie er sonst wohl nur noch in Frankreich zu finden ist. Die Ökonomen sagen: Wer mehr Wohlstand will, muss die Beschäftigung erhöhen. Die Bürger entgegnen: Woher sollen die zusätzlichen Jobs denn kommen?
Dass Arbeit immer knapper wird, ist inzwischen zur kollektiven Gewissheit geworden. Motto: Die Urgewalten des Fortschritts machen die Menschen in der Ökonomie zunehmend überflüssig. Und was kann man schon gegen Urgewalten ausrichten - bestenfalls lassen sich ihre Folgen mindern. Doch ist dem wirklich so? Könnte die gewerkschaftliche Robin-Hood-Strategie nicht vielmehr ein Teil des Problems sein?
Kürzlich besuchte ich einen Autozulieferer im Hessischen. Der Chef, ein Niederländer, der lange in Amerika gelebt und gearbeitet hat (und der nicht namentlich zitiert werden möchte, weil er den Zorn seines Betriebsrats fürchtet), erzählte mit großer Begeisterung, welch tolle Fabriken er in den USA und China baue, wie er gerade dabei sei, den indischen Markt aufzurollen, und welch gewaltige Chancen sich in Osteuropa ergäben.
Die nach unten gerichtete Spirale
"Und was wird aus Ihrem Standort in Deutschland?", fragte ich ihn. Den habe er im Grunde abgeschrieben, sagte er. Möglicherweise werde das alte Stammwerk irgendwann ganz überflüssig, dann verlege er wohl auch den Firmensitz dorthin, wo die Steuern am niedrigsten und das Leben am angenehmsten seien.
"Aber sind die deutschen Industriewerker denn nicht mehr so gut, dass sie hohe Löhne und Steuern rechtfertigen?", wandte ich ein. Er dachte einen Moment nach. Dann antwortete er: Von ihrer Ausbildung her schon - aber sie seien ja nie da.
Der Ärger sprudelte nur so aus ihm heraus: Wie schwierig es regelmäßig sei, Leute für die Samstagsschichten zu gewinnen, weil sie dann illegalen Nebenbeschäftigungen nachgingen; welche Probleme sich ergäben, weil dringend benötigte Spezialisten wochenlang im Urlaub seien; wie viele seiner Leute mit dem Kopf bei der Schwarzarbeit, ihrem Hobby oder wo auch immer seien, nur nicht bei der Arbeit. Glauben Sie nicht, sagte er, dass es mit der Motivation weit her ist. "Die Deutschen verwirklichen sich außerhalb des Jobs."
Hier offenbart sich die betriebliche Dimension: Immer weniger zu arbeiten und zu verdienen steigert nicht unbedingt die Motivation und die Produktivität.
Volkswirtschaftlich gesehen bedeutet das: Arbeitszeitverkürzungen mindern Einkommen, Beschäftigung und inländische Nachfrage. Sie führen die Wirtschaft in eine nach unten gerichtete Spirale.
Arbeitszeitverkürzungen mögen in Rezessionen sinnvoll sein - es ist besser, die Leute bei schwacher Auftragslage weniger arbeiten zu lassen und sie später, bei anziehender Konjunktur, wieder zunehmend und flexibel zu beschäftigen, als sie zu entlassen, nur um später neue Arbeitskräfte teuer einstellen und einarbeiten zu müssen. Arbeitszeitverkürzungen mögen auch dann eine Berechtigung haben, wenn - wie in den achtziger Jahren - geburtenstarke Jahrgänge das Angebot an Arbeit plötzlich ansteigen lassen.
Der Quell wirtschaftlichen Wachstums
Vorübergehende kollektive Verkürzungen der Jahres- und Lebensarbeitszeit können helfen, den Angebotsschock auf dem Arbeitsmarkt leichter zu verdauen. Als Dauerstrategie taugen Arbeitszeitverkürzungen jedoch nicht. Bei langfristiger Betrachtung, also von zyklischen Konjunkturschwankungen abgesehen, führt nämlich kein Weg an der Erkenntnis vorbei, dass menschliche Arbeitskraft die wichtigste Quelle wirtschaftlichen Wachstums ist.
Wer arbeitet, schafft (wirtschaftlich verwertbare) Güter und Leistungen; er trägt zur Mehrung des Wohlstands der Gesellschaft bei. Wer nicht arbeitet, schafft keine (wirtschaftlich verwertbaren) Güter und Leistungen.
Natürlich kann er oder sie dennoch wertvolle Dienste für die Gesellschaft leisten - die Erziehung von Kindern, die Pflege von gebrechlichen Familienmitgliedern, ehrenamtliche Tätigkeiten, Nachbarschaftshilfe und vieles mehr. Weil auch diese Aufgaben erledigt werden müssen, ist es weder möglich noch sinnvoll, die individuelle Arbeitszeit bis an die Erschöpfungsgrenze auszuweiten.
Aber von dieser Erschöpfungsgrenze sind die allermeisten Deutschen heute weit entfernt. Es liegt auf der Hand: Mehr Wohlstand und mehr Jobs entstehen nicht, wenn immer mehr Menschen dem - freiwilligen oder unfreiwilligen - Müßiggang frönen, wenn sie weder einer Erwerbs- noch einer unentgeltlichen Sozialarbeit nachgehen. Insbesondere in alternden und schrumpfenden Gesellschaften wie den europäischen müssen die Bürger tendenziell mehr arbeiten, nicht weniger, um ihren Lebensstandard zu sichern oder gar weiter zu steigern.
Die Zahl der Beschäftigten geht künftig auf natürliche Weise zurück. Hingegen steigt der Anteil derjenigen, die von den Arbeitenden mitgetragen werden. In den kommenden Jahrzehnten werden die europäischen Gesellschaften ihren Wohlstand nur halten können, wenn jeder, der arbeitsfähig ist, auch arbeitet - und zwar möglichst viel.
Die Regierungen der EU-Staaten haben das längst erkannt. Im Frühling des Jahres 2000 setzten sie sich in Lissabon das ehrgeizige Ziel, die Beschäftigung bis zum Jahr 2010 drastisch zu erhöhen. 70 Prozent der Bürger im erwerbsfähigen Alter (15 bis 64 Jahre) sollen dann einer Erwerbsarbeit nachgehen, 60 Prozent der Frauen, 50 Prozent der Älteren.
Die falschen alten Fortschrittsängste
Ein richtiger Ansatz. Das Ziel, die Arbeitslosigkeit zu senken, führt an der eigentlichen Aufgabe vorbei: Primär muss es darum gehen, die Beschäftigung zu erhöhen. Was nicht heißen soll, dass Arbeitslosigkeit kein großes Problem ist: Wer seinen Job verliert, durchleidet eine schlimme Lebenskrise, das zeigen alle einschlägigen sozialwissenschaftlichen Untersuchungen.
Wer arbeiten will, aber nicht gebraucht wird, fühlt sich überflüssig. Wer arbeiten muss, aber keine Beschäftigung findet, erleidet Armut. Die Frage ist aber: Wie kann die Wirtschaftspolitik den Arbeitslosen am besten helfen? Die Antwort: Indem sie Bedingungen schafft, unter denen die Beschäftigung steigt.
Weniger zu arbeiten ist kein Akt der Solidarität, wie DGB-Chef Sommer meint. Im Gegenteil, mehr zu arbeiten ist gesellschaftlich sinnvoll - Arbeit kommt von Arbeit.
Gedanklich wurzelt die Doktrin der Arbeitszeitverkürzung im typisch deutschen Jobpessimismus. Angeblich rationalisiert der technische Fortschritt die Menschen aus den Betrieben weg, wandern die meisten arbeitsintensiven Tätigkeiten sukzessive an Niedriglohnstandorte in Osteuropa oder Asien ab.
Technisierung und Globalisierung errichten eine Schreckensherrschaft - der Mensch verliert seine Erwerbsgrundlage und seinen Platz im Leben. Es sind die alten Ängste, die schon vor 100 Jahren die Menschen umtrieben und die Charlie Chaplin in "Moderne Zeiten" verbildlichte - das Individuum, eingeklemmt im Zahnräderwerk der Fabrik.
Glücklicherweise stimmt diese Analyse nicht. Im langfristigen Trend ist die Beschäftigung kräftig gestiegen. Gerade in Phasen, in denen viel investiert wird, steigt der Bedarf an qualifizierten Beschäftigten sprunghaft.
Die Auswirkungen der Globalisierung
Während des deutschen Wirtschaftswunders der fünfziger und der sechziger Jahre, als ein Investitionsboom die Kapitalausstattung der Bundesrepublik verbesserte, kam es zu einem derart gravierenden Arbeitskräftemangel, dass Millionen von Gastarbeitern aus Südeuropa nach Deutschland gebeten wurden. Längst vergangene Zeiten?
Auch in der Hightech-Ära bleibt die Behauptung falsch, dass der Fortschritt Arbeit vernichtet. Während des weltweiten Investitionsbooms der späten neunziger Jahre, als die westlichen Länder Billionen Euro in technisches Gerät steckten, insbesondere in Computer, Software, Netzwerke und Handys, lockte die Wirtschaft immer mehr Menschen in die Erwerbstätigkeit.
Auch die Globalisierung hat die Arbeitsmärkte in den reichen Hochlohnländern nicht zusammenbrechen lassen, allen Ängsten vor den Heeren ausgehungerter Billigarbeiter zum Trotz. In den neunziger Jahren - dem Jahrzehnt der Grenzöffnungen, als der Eiserne Vorhang fiel, als Osteuropa, die ehemalige Sowjetunion, China, Indien und Lateinamerika sich in die Weltwirtschaft integrierten - stieg die Zahl der Beschäftigten auch in den etablierten Volkswirtschaften kräftig. Sogar in Deutschland.
Zwischen 1991 und 2000 nahm die Beschäftigung in den OECD-Ländern durchschnittlich um 1 Prozent jährlich zu, in den USA sogar um 1,6 Prozent. Auch die Bundesrepublik brachte es immerhin auf einen Zuwachs an Beschäftigten um 0,1 Prozent - wobei allerdings auf Grund der Arbeitszeitverkürzungen das Arbeitsvolumen schrumpfte. Unter den führenden Industrieländern erreichten nur Japan und die Schweiz ähnlich schlechte Werte, allerdings auf deutlich höherem Beschäftigungsniveau.
Die Folgen der Robin-Hood-Strategie
Die Arbeitsmarktdynamik der neunziger Jahre konzentrierte sich vor allem auf die zweite Hälfte des Jahrzehnts. In Irland stieg die Beschäftigung zwischen 1996 und 2000 um 24 Prozent, in Spanien um 14 Prozent, in den Niederlanden um 12 Prozent. Und in Deutschland? Um ganze 3,3 Prozent, weniger als in jedem anderen EU-Staat - insbesondere weil hierzulande die Investitionstätigkeit äußerst schwach blieb. Der "Terror" der Globalisierung fällt in Deutschland milde aus.
Richtig ist, dass in der ersten Hälfte der neunziger Jahre in den meisten Ländern die Arbeitslosigkeit stieg - Folge der Rezessionen von 1991 (Amerika) und 1993 (Europa), aber auch der Anpassung an den verschärften internationalen Wettbewerb. Den meisten reichen Volkswirtschaften gelang es jedoch, die Arbeitslosigkeit im Laufe des Jahrzehnts abzubauen, und zwar bis auf ein Niveau, das man getrost als Vollbeschäftigung bezeichnen kann.
In Deutschland jedoch verfestigte sich die Massenarbeitslosigkeit. Insbesondere nahm die Zahl der Langzeitarbeitslosen Besorgnis erregend zu, die Zahl der Menschen also, die ein Jahr oder länger arbeitslos sind und von denen in Deutschland eine Mehrheit auch nach zwei Jahren noch keinen Job gefunden hat, wie Untersuchungen zeigen. Der so genannte Sozialstaat Bundesrepublik gehört zu den Ländern mit dem höchsten Anteil von Langzeitarbeitslosen.
Ähnlich schlecht wie die deutschen Arbeitsmarktbilanzen sehen auch diejenigen Frankreichs und Italiens aus. In allen drei großen kontinentaleuropäischen Volkswirtschaften verfestigte sich die Arbeitslosigkeit, Beschäftigte wurden und werden dauerhaft aus dem Arbeitsmarkt gedrängt. Interessanterweise verfolgen alle drei Länder ähnliche wirtschaftspolitische Doktrinen: Umverteilung von Arbeit, großer Sozialstaat.
Offensichtlich stimmt mit dieser Doktrin etwas nicht. Die Robin-Hood-Strategie, den Arbeitsplatzbesitzern zu nehmen und den Joblosen zu geben, führt zu einem absurden Ergebnis: Verzicht auf Arbeit vermehrt die Arbeitslosigkeit.
Am Ende steht die Gesellschaft als Ganze schlechter da.