
Menschenskinder Wo sind Ihre Manieren geblieben?


Wartezustand: Viel zu oft kommt am Ende gar keine Rückmeldung – sowohl von Bewerberseite als auch von Unternehmen
Foto: Bartek Szewczyk / iStockphoto / Getty ImagesIch bin ja normalerweise keine, die sich ein "Zurück" in die vermeintlich guten alten Zeiten wünscht. Doch ich will heute mal eine Ausnahme machen – und ein Plädoyer für das gute alte Benehmen halten.
Keine Sorge, ich habe nicht vor, mich für die Nachfolge von Herrn Knigge ins Spiel zu bringen, könnte ich auch gar nicht (sorry, Mama). Aber haben Sie auch schon festgestellt, dass die Umgangsformen inzwischen nicht nur in den sozialen Medien sehr zu wünschen übrig lassen, sondern auch im realen Arbeitsalltag?
Die Eingangstür aufhalten, wenn eine andere Person dicht hinter einem kommt? Fehlanzeige. Im Aufzug zuerst diejenigen einsteigen lassen, die vorn stehen, statt einfach loszudrängeln? Von wegen. Und ich spiele jetzt gar nicht auf die "Ladies first"-Faustformel an, die ich auch als bekennende Feministin schätze, sondern beobachte das ganz geschlechtsneutral. Selbst beim Weltwirtschaftsforum in Davos und anderen Branchentreffen – wo sich doch vermutlich 99 Prozent der Anwesenden als gut erzogen und bildungsbürgerlich bezeichnen würden und der Begriff "Elite" noch salonfähig ist – wird gedrückt und geschoben, was das Zeug hält. Über die Dreistigkeit von "Herrn und Frau Wichtig" bin ich zunehmend erstaunt.
Liegt es an den Jogginghosen?
Und was ist eigentlich aus der guten alten Debattenkultur geworden? In Meetings wird inzwischen bei Meinungsverschiedenheiten nicht sachlich weiter argumentiert, sondern sofort mit emotionalen Drohszenarien gepoltert, um dann beleidigt auseinanderzugehen. Widerspruch als eine Form der Diskussions- und Entscheidungskultur zu sehen, ist nicht mehr erwünscht.
Was ist da passiert? Haben die Lockdowns, das wochenlange Tragen von Jogginghosen und die fehlenden Sozialkontakte uns so aus der Bahn geworfen, dass alles verlernt wurde, was in der zwischenmenschlichen Interaktion früher als normal und sozial kompatibel gilt? Sind die ständigen Krisen unserer Zeit so energiefressend, dass für alles andere keine Bandbreite mehr zur Verfügung steht? Warum fällt es noch so schwer, zu einem normalen Miteinander zurückzukehren, wo kontroverse Diskussionen und Rücksichtnahme dazugehören? Wer ab und an ein Lifestylemagazin in der Hand hält, kennt die Artikel, in denen der Trend zu mehr "Self Care" beschrieben wird. Es scheint mir, als hätten manche das als Aufruf zu mehr Ellbogen, mehr Egoismus und mehr Ignoranz missverstanden.

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Janina Kugel ist Multiaufsichtsrätin und Senior Advisor. Die ehemalige Siemens-Vorständin interessiert sich für Leadership, den Arbeitsmarkt und vor allem Menschen.
Erstaunt bin ich auch über die neuerdings in Mode gekommenen Entlassungen per E-Mail. Gerne dort, wo kurz zuvor noch das "great place to work" gepredigt wurde. Sollte wirklich jemand wirtschaftliche Verantwortung für ein Unternehmen tragen, der oder die dieses eine letzte Gespräch mit Mitarbeiter*innen scheut?
Nun wird neuerdings auch noch "ge-ghosted". Bitte was? Das Problem kannte Knigge offensichtlich noch nicht, aber Wikipedia erklärt es so: "Unter dem Begriff Ghosting versteht man in einer zwischenmenschlichen Beziehung (Partnerschaft oder Freundschaft) einen vollständigen Kontakt- und Kommunikationsabbruch ohne Ankündigung." Tja, und das passiert nun immer häufiger nicht nur nach schlechten Dates, sondern auch in laufenden Recruitingprozessen.
Neulich rief mich ein Freund an, der sich gerade beruflich umorientiert: "Ich habe den Job! Gerade kam der Anruf: sie schicken mir einen Vertragsentwurf." Die Freude war groß. Doch dann: geschah nichts. Es kam kein Vertrag. Und noch schlimmer: keine Erklärung. Seine Nachfragen verliefen im Nichts.
Dreistes Schweigen
Und so etwas passiert mittlerweile auf beiden Seiten. Bewerber*innen oder Unternehmen stellen sich plötzlich tot. Und dann gibt es noch diejenigen, die einen Arbeitsvertrag unterschreiben, aber am ersten Arbeitstag einfach nicht aufkreuzen. Natürlich ohne vorher abgesagt zu haben. Mal abgesehen davon, dass das nicht gerade der optimale Weg ist, um sich im Ranking der beliebtesten Arbeitgeber nach oben zu katapultieren oder als Kandidat*in auf die "Rehire anytime"-Liste zu kommen. Es ist schlicht und ergreifend dreist.
Auch im Trend, so höre ich, sind Kündigungen, die nie schriftlich eingereicht werden. Die Leute kommen einfach nicht mehr. Neulich las ich in einem der sozialen Netzwerke, wie ein junger Mensch (ernsthaft) fragte, ob eine förmliche Kündigung überhaupt notwendig sei. Ich erspare Ihnen die Bandbreite der Kommentare – aber ja, es waren auch einige darunter, die fanden, das müsse man nicht. Später wurde der Beitrag übrigens gelöscht. Vielleicht dämmerte der Person, dass das für die eigene Karriere klüger ist.
Ich gehe mal davon aus, es gibt gute Gründe für jede dieser Entscheidungen. Vielleicht kam ein besseres Angebot dazwischen oder ein plötzlicher Budgetfreeze aus dem Headquarter, der alle geplanten Neueinstellungen verkompliziert. Aber: Miteinander zu sprechen und genau das einmal zu erklären, ist in so einem Fall doch das Mindeste. Das sind zugegebenermaßen nicht immer einfache Gespräche, doch auch unangenehme Botschaften müssen überbracht werden. Das ist Teil des Jobs, Teil des Lebens. Und in beiden Fällen trifft man sich bekanntlich immer zweimal. Die Welt ist zu klein, um sich schlecht zu benehmen.