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Laufen, bis die Berge glühen

Alpen-Trekking: Zum Reisetrend mit zweistelligen Zuwachsraten hat sich das Fernwandern entwickelt. manager magazin hat die Kult-Alpenroute von München nach Venedig ausprobiert.
aus manager magazin 7/2004

Schweiß, Schmerz, stures Stapfen. Steil aufwärts geht es durch struppiges Latschenkieferdickicht, über holprige Pfade, Gesteinsbrocken, Wurzelwerk, Firnschneeplacken. Die Beine sind noch schwer vom Aufstieg am Tag zuvor. Da fällt der Blick auf das Holzkreuz, das hoch in den blauen Himmel ragt.

Der Heimatroman lebt, hier oben auf 1801 Meter über null. Der höchste Punkt der Benediktenwand ist der nördlichste Alpengipfel, man glaubt, auf eine Kitschpostkarte zu blicken. Die Berge ringsum haben ihr feinstes Dirndl angelegt. Mit extra weitem Dekolleté bietet es Einblicke in üppigste Natur: unten aufgeräumtes Voralpenland samt Seen, in der Ferne die Türme von München. Und im Süden die zahnweißschimmernde Alpenkette vom Großglockner-Massiv bis zur zackigen Zugspitze.

Wie im Heimatfilm ruft auch von der Benediktenwand der Berg: Unter dem Kreuz haben sich ein paar Frühwanderer versammelt, drei jugendliche Bläser trompeten auf ihrem Blech Jubelhymnen in den Strahlehimmel. Musik liegt in der Luft.

Solcherart Wechselbäder für Leib und Gemüt bietet eine Trekking-Strecke, die seit 30 Jahren von einer wachsenden Schar von Drauf- und Drübergängern als Geheimtipp gehandelt wird. Und inzwischen - vom Reiseblatt "Geo Saison" mit einer Goldenen Palme ausgezeichnet und zwei neuen Büchern (siehe Kasten Seite 177) begleitet - Kultstatus erlangt hat.

Die Route: Vom Marienplatz in München bis zum Markusplatz in Venedig, 520 Kilometer und 20 000 Höhenmeter in 28 Tagesetappen quer über die Alpen. Auf dem Marsch liegen 33 Joche, Scharten und Pässe von bis zu 3125 Metern Höhe. Und etliche Fernblicke mit Postkarten-Panorama.

Erdacht und erstmals ausprobiert hat den "Traumpfad" der gelernte Gebirgsjäger und Gartenbauingenieur Ludwig Graßler, 1925 im fränkischen Amberg geboren. Jetzt ist der umtriebige kleine Mann mit dem weißen Vollbart - Hobbys: Abfahrtski, Studium der bayerischen Geschichte an der Uni München - wieder unterwegs, freilich in Etappen. Schließlich feiert er im kommenden Jahr seinen 80. Geburtstag mit einem Festessen in den Mauern der Serenissima auf der Lagune.

Bei zwei der 28 Wegetappen - von Bad Tölz über die Benediktenwand in die Jachenau - begleiten ihn die 37-jährige Grit und ihre achtjährige Tochter Lena (die im vergangenen Jahr die gesamte Strecke bereits allein gegangen sind). Mit dabei Lillith, Australian Shepard, weiblich, vier Monate jung.

Sicher, man kann bequemer von München nach Venedig reisen. In 60 Minuten mit dem Flieger. Oder in sechs Stunden mit dem Auto. Aber zu Fuß ist der Erlebnisfaktor ungleich höher.

Das leuchtet sofort ein, als der Marsch morgens um halb acht in Bad Tölz beginnt. Wie frisch gewaschen und gebügelt liegen die Bauernweiler der Isar-Auen in der Morgensonne, umgeben von butterblumengelben Wiesen, hinter Arzbach führt ein Weg am Wildbach in die Berge, erst Fichtenwald, dazwischen ein paar Tannen, bald darauf die ersten Almwiesen. Voller Sumpfdotterblumen, Mehlprimeln, Nieswurz. Der Büroalltag ist schon nach wenigen Kilometern vergessen.

Vor allem unter Managern erfreut sich deshalb das Wandern und Klettern in den Bergen zunehmender Beliebtheit. Prominenteste Business-Seilschaft: Der Similaun-Kreis um Reinhold Messner, dem Reitzle, Schrempp und Zumwinkel angehören.

Nach Erhebungen der Marburger Forschungsgruppe Wandern finden gegenwärtig vor allem die 25- bis 39-Jährigen Gefallen am Trekken im eigenen Lande. In Profilstudien wurden die Antworten von mehr als 5000 Befragten ausgewertet.

"Es sind die jungen, gebildeten Aufsteiger, die derzeit das Wandern neu entdecken", so Rainer Brämer, Professor für Natur-Soziologie an der Marburger Universität. Ein "gigantischer Markt", der sich - nahezu unbemerkt - "seit Jahren über zweistellige Zuwachsraten freuen" darf.

Anstrengung bis zur Qual ist die Essenz des Trekkings. Man wandert nicht mehr gemütlich von Weinausschank zu Fresstempel, wie es der Schriftsteller Kurt Tucholsky einst mit Freunden im Spessart exerzierte. Oder Leo Brawand, einst Chefredakteur des manager magazins, in einem neuen Buch beschreibt. Die Wanderer von heute suchen "die zeitlich aus- gedehnte, intensivierte, zelebrierte, kontemplative Auseinandersetzung mit Landschaften, Flora und Fauna", heißt es in einem jüngst erschienenen Handbuch.

Übersetzt in die Praxis, bedeutet das: Über lange Distanzen und Zeiträume in schwierigem Gelände unter schwerem Gepäck eine Gegend und - vor allem - sich selbst zu erkunden, besser: zu bezwingen. Hunger aushalten, Müdigkeit bekämpfen, Konzentration üben, Ängste bewältigen. Für Trekking-Autor Bernhard Rudolf Banzhaf ist Trekking "Psychohygiene", er empfindet dabei "Seelenbad und Läuterung".

Derlei Einkehr bleibt auch allerhöchster Segen nicht versagt. So lobte Heinz Schulte, Jesuitenpater und Philosphie-Dozent an der Münchener Universität, selbst ausgewiesener Weitwanderer, bereits vor einem Dutzend Jahren in einer Fachschrift ausdrücklich den Graßler-Weg als ideale Alpenüberquerung - nachdem er sie selbst unternommen hatte. "Bereits der erste Tag ist eine Wucht", staunte der Kirchenmann ganz weltlich.

So sieht es auch Ludwig Graßler. Als er mit seinen Begleitern unten im Tal losgeht, grünt und blüht alles. Bis zum Kamm steigt er dann Monat um Monat auf der Klimatreppe rückwärts. Oben angekommen, ist es Februar. Oder - geografisch betrachtet - Nordschweden. Graßler zückt seinen Höhenmesser: 1250 Meter.

Von hier fällt der Blick tief ins Tal auf die Türme von Benediktbeuern, dem beschaulich in der Ebene gelegenen Kloster. Dessen Bewohner versuchen seit alters, den wilden Bajuwaren christliche Gesittung nahe zu bringen.

Ludwig Graßler erzählt die Geschichte der Abtei und auch gleich noch die des nahebei gelegenen Klosters Andechs, vormals Sitz eines Fürstengeschlechts, das ein Gebiet von Oberbayern bis an die Adria beherrschte. Auch die Unterweisung in Kulturgeschichte ist fester Bestandteil des Trekkings.

"Ein Märchenwald", sagt Graßler. Und abwärts geht es zwischen bizarr gewachsenen, bemoosten Fichten, die sich hier, dicht an dicht zusammengedrängt, gegen die Witterung stemmen. Bis, endlich, in einer Senke unmittelbar unter dem 500 Meter hoch bedrohlich aufragenden Felsabsturz der Benediktenwand, umflossen von eisigem Schmelzwasser, das Tagesziel auftaucht - die Tutzinger Hütte.

Drinnen, in der schlichten Gaststube, gibt es Bier und Wein, Tiroler Speckknödel und Linseneintopf, garniert von einfachen Weisen, vorgetragen von jungen Leuten auf Konzertflöte und Zither.

Punkt halb sieben am nächsten Morgen weckt Ludwig Graßler seine Begleiter mit den Klängen einer Bambusflöte: Auf, du junger Wandersmann ...

Die Trekking-Freunde, die zwischen sieben und acht Uhr die Serpentinen durch Schnee und Eis zur Paßhöhe angehen, sind fast alle Mitte 20. Nachher berichten sie im Internet über ihre Erlebnisse. Zum Beispiel eine Bremerin, die ihre "nicht enden wollende Sehnsucht nach dem einfachen Leben" auf dem Bergpfad befriedigt fand. Oder jener Student, der seine Tour mit dutzenden Fotos dokumentiert hat.

Wer keine Bilder und Sehnsüchte ins Netz stellt, der meldet sich auf den einschlägigen Websites zumindest mit Kritik und Tipps zu Wort. Zum Beispiel ein Roland, der die erste Etappe entlang der Isar "nur zwecks Vollständigkeit gemacht" hat, sie aber nicht wirklich weiterempfehlen kann: "nicht so der Brüller".

Der Abstieg vom Gipfel der Benediktenwand in das einsame Alptal des Jachen hingegen ist ein Brüller. Aus den Latschenkiefern führt der enge Pfad kurvig-steil bergab an die Quelle des Glasbachs.

Das Wasser springt, eben noch gurgelnd aus moorigem Grund unter Moospolstern hervorgequollen, kristallklar über weißen Fels, immer dicht am Ansichtskartenkitsch. Sammelt sich in mannstiefen Wannen und stürzt in mächtigen Kaskaden zischend in die Tiefe. Fließt durch weite stille Wiesen mit Enzianblüten, Fettkraut und Frauenschuh.

Graßler und Lena ziehen die Stiefel aus und waten im Bach.

Und so geht es weiter und immer weiter: durchs Rißtal über den Karwendel, das Tuxer Joch und den Piz Boe, vorbei an Civetta und Schiara hinunter in die Piave-Ebene. Richtung Lagune.

Bis man schließlich, 24 Tage später, auf dem Markusplatz vor dem "Caffè Florian" sitzt. Vor einem auf dem Silbertablett der berühmte Espresso mit der Karaffe Wasser steht. Und die Kapelle im Rücken schmachtende Vivaldi-Klänge schmalzt.

Klaus Ahrens

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Service

Alpenüberquerung: Hardcore-Marschierer zieht es durchaus nach Nepal zum Everest-Trek. Oder nach Sikkim zum Kangchenjunga-Trek. Oder nach Peru zum Ausangate-Trek. Wer es langsam angehen möchte, ist mit dem Alpen-Trek von München nach Venedig gut bedient: 28 Tage Laufen in der dünnen Luft von 20 000 zu überwindenden Höhenmetern.

Ratgeber: Ein Lockmittel für die Tour ist der Bildband des Routen-Erfinders Ludwig Graßler, "Zu Fuß über die Alpen"; Bruckmann Verlag, 144 Seiten, 39,90 Euro; unentbehrlicher Wegbegleiter für den Marsch ist der Wanderführer "Traumpfad München - Venedig", Bruckmann Verlag, 144 Seiten, 11,90 Euro.

Adressen: Geführte Touren (auch in vier handlichen Etappen) bietet der Summit Club des Deutschen Alpenvereins an: www.davsummitclub.de. Informationen zur Tour gibt es unter: www.muenchenvenedig.de

Blick zurück: Einer, der die eher gemütliche Variante des Wanderns seit rund 40 Jahren pflegt, ist der ehemalige Chefredakteur des manager magazins, Leo Brawand. Der hat seine Eindrücke und Abenteuer jetzt in einem launig geschriebenen Erinnerungsband zu Papier gebracht, die Einkehr bei Wirtschaftsgrößen von einst wie Hermann Josef Abs, Willy Schlieker und Berthold Beitz inklusive. Leo Brawand, "Im Frühtau zu Berge. Was Wandern so vergnüglich macht"; Bruckmann Verlag, 142 Seiten, 19,90 Euro.

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