Lächelnd nach oben ... oder doch lieber Kante zeigen? Was bei der Führungskräfte-Auswahl schief läuft

Von Michaela Bürger
"Nimm den bloß nicht ... der ist anstrengend": Manchmal warnt die innere Stimme im Bewerbungsgespräch - doch der glatteste Bewerber ist nicht immer der beste

"Nimm den bloß nicht ... der ist anstrengend": Manchmal warnt die innere Stimme im Bewerbungsgespräch - doch der glatteste Bewerber ist nicht immer der beste

Foto: Corbis

Marktmanipulation, Manager-Prozesse, Machtspiele in der Öffentlichkeit. Fehlentscheidungen, Führungskrisen, fragwürdige Personalbesetzungen - der Eindruck verstärkt sich: Werden Haltungsschäden in der Wirtschaft langsam chronisch? Es scheint wohl immer weniger Führungspersönlichkeiten mit Haltung zu geben. Menschen, die den Mut haben, auch gegen den Strom zu schwimmen, für ihre Überzeugungen einzustehen, Vordenker zu sein und einer Vorbildfunktion gerecht zu werden. Heute macht man offensichtlich leichter Karriere, wenn man "rund" und angepasst ist.

Das gilt für alle Menschen, die Verantwortung für Inhalte und für strategische Entscheidungen übernehmen.

Dabei brauchen wir heute mehr denn je Führungskräfte, von denen wir lernen können, wie wir in unserer komplexen, schnelllebigen Welt nachhaltig gute Entscheidungen treffen und somit eine Richtung für die Zukunft vorgeben.

Keine Angst vor der Wahrheit - auch wenn sie unbequem ist

Wir brauchen Menschen, die sich nicht scheuen, die Wahrheit zu sagen - auch wenn diese unbequem sein mag - und die mutig für das eintreten, was für sie richtig und wichtig ist, auch wenn es zu ihrem Nachteil sein könnte. Denen es um Gerechtigkeit und das Ausloten aller denkbaren Möglichkeiten, auch jenseits ihrer Karriereambitionen, geht und die somit nicht in erster Linie die Erweiterung ihrer persönlichen Macht im Fokus haben. Gibt es die überhaupt (noch)?

Es gibt sie. Doch oft sind sie gerade in hierarchisch geprägten Strukturen und Unternehmen nicht gewollt. Obwohl Charakterstärke erkannt und insgeheim bewundert wird, vermeiden es Chefs und Personalverantwortliche in letzter Konsequenz oft, genau diesen Persönlichkeiten Machtpositionen zu geben und sich somit auch mit der Klarheit ihrer Worte und ihrer Haltung auseinandersetzen zu müssen.

Wir haben zu wenig Nachschub in der Pipeline

Das führt zur Frage: Nach welchen Kriterien wurden die jetzigen und werden die zukünftigen Führungskräfte ausgewählt? Und damit sind nicht die Leitbilder, Führungsrahmen und Kompetenzmodelle der Unternehmen gemeint, die sich im Foyer der Unternehmenszentralen oder auf den Hochglanzbroschüren finden lassen, sondern es geht darum, welche Charaktertypen tatsächlich Karriere machen.

Sind es die Unbequemen, die Eckigen, die, die auch gelegentlich anders denken, konsequent handeln, offen und klar kommunizieren, sich selbst nicht so wichtig nehmen, sondern um eine Sache kämpfen und eine innere Unabhängigkeit ausstrahlen, so dass der Entscheider beim Auswahlgespräch oder Potentialentwicklungsgespräch insgeheim Beklemmungen bekommt? Oder sind es die, die in der Regel nicht sagen, was sie wirklich denken, die ausführen und nachplappern, die internen Politik- und Machtspielchen studiert haben und beherrschen?

Um ein Unternehmen oder einzelne Aufgaben gemeinsam zum Erfolg zu führen, braucht es Menschen mit Haltung und Charakter. Wir haben zu wenig Nachschub an solchen Potentialen in der Pipeline. Woran liegt das?

Sinnfrage und Midlife-Crisis

Offensichtlich hat es sich herumgesprochen, dass Menschen mit einer klaren Haltung nicht befördert werden, weil sie nicht "rund" genug sind. Nun scheint es dieser aussterbenden Spezies zu anstrengend geworden zu sein, täglich gegen den Strom zu schwimmen und gegen die strukturellen und organisatorischen Windmühlen anzukämpfen.

Irgendwann - meist in der Mitte des Lebens - stellen Mann und Frau sich dann auch noch die "Sinnfrage", und wenn die Finanzen üppig und das Ego gesund sind, suchen sich gerade Menschen mit Charakter andere Betätigungsfelder, wo sie ihren Wirkungsradius steigern können und Sinn in dem sehen, was sie tun.

Dieses Verhalten ist gerade bei Frauen, die auf dem Sprung ins Top Management sind, verbreitet, aber auch bei Männern, die der Mut verlassen hat, weil sie sich zu sehr von den sogenannten "kompetenzarmen Quotenfrauen" und den "angepassten Haltungslosen" umzingelt fühlen. Denn es braucht Mut, echtes Interesse und Antriebskraft, aufzustehen und zu sagen: "Ich bin anderer Meinung und für die stehe ich ein!"

Wer sich verbiegt, geht für sich und andere ein höheres Risiko

Der Generation Y fehlten die Vorbilder, heißt es in einem aktuellen Artikel des Magazins Fortune. Was auch dazu führe, dass nur noch ein Drittel der nachwachsenden Generation überhaupt Ambitionen hat, Führungsaufgaben zu übernehmen.

Und so stellt sich unweigerlich die Frage, wo der Führungsnachwuchs, den wir mittel- und langfristig in unseren Unternehmen für Führungsaufgaben vorbereiten wollen, herkommen soll?

Gerade unsere Traditionskonzerne und der namhafte Mittelstand, die Flaggschiffe der deutschen Wirtschaft, die vor enormen Herausforderungen im internationalen Wettbewerb stehen, brauchen Führungskräfte, die in profilierter Weise für etwas stehen.

Es mag manchmal auf den ersten Blick einfacher erscheinen, die Karriereleiter zu erklimmen, wenn man sich anpasst und durchschlängelt. Tatsächlich gehen viele Führungskräfte diesen Weg höchst erfolgreich und vermitteln nach außen auch Zufriedenheit. Doch um welchen Preis?

Den eigenen Blickwinkel überdenken

Wer sich ständig verbiegt, geht nicht nur für andere, sondern auch für sich selbst ein höheres Risiko ein. Neueste Untersuchungen zeigen deutlich, dass oft nicht die hohe Arbeitsbelastung alleine gesundheitsgefährdend ist, sondern das Gefühl, nichts zu bewegen, alles hinnehmen zu müssen, Entscheidungen und unfähigen Führungskräften quasi ohnmächtig gegenüber zu stehen und schlussendlich keine Spuren im eigenen Wirkungsbereich zu hinterlassen. Erfolge lassen sich dann kaum spürbar genießen, weil das Gefühl, aktiv und selbstbestimmt etwas beigetragen zu haben, zu schwach ist.

Richtig ist aber auch: Die Souveränität, die erforderlich ist, um eine gefestigte Persönlichkeit und Haltung zu entwickeln, wird im Laufe des (Berufs-)Lebens und mit wachsender Erfahrung gefestigt. Erfolge und Misserfolge, eine solide Bildung, der Austausch mit anderen und vielfältige Lernerfahrungen führen im Idealfall - wenn sie reflektiert werden - dazu, dass der Mensch zu einer Haltung findet, die es ihm ermöglicht, Situationen, Herausforderungen und Fakten selbstständig einzuordnen und zu bewerten.

Dabei ist es wichtig, sich die Bereitschaft zu erhalten, den eigenen Blickwinkel immer wieder zu überdenken und sich durch gute Argumente auch überzeugen zu lassen, die eigene Haltung zu modifizieren.

Wir sind auch verantwortlich für das, was wir nicht tun

Charakterstark sein bedeutet nicht, verbohrt und rücksichtslos zu sein, im Gegenteil: "Sich selbst treu bleiben" bedeutet, im ehrlichen Austausch mit anderen den eigenen Vorstellungen und Überzeugungen zu vertrauen und für diese einzustehen.

Wer sich traut, Profil zu zeigen, bringt sein Team, sein Projekt, sein Unternehmen und letztendlich auch sich selbst voran, weil nur so Klarheit, Offenheit, Respekt und gewollte Meinungsvielfalt sowie die gerne zitierte Mitunternehmerschaft nicht nur Modewörter des Führungsalltags sind, sondern wirklich gelebt werden.

Bei der Suche nach geeigneten Führungsnachwuchskräften sollten sich Führungskräfte und HR-Verantwortliche gegenseitig befeuern, genau diese Talente besonders zu fördern und zu unterstützen. Heute werden sie aussortiert und frustriert - morgen sollen sie ausgewählt und motiviert werden, ihre Charakterstärke aktiv und sichtbar einzubringen. Nur so bauen wir eine neue Führungskultur der Offenheit und Vielseitigkeit auf, die gelebt wird.

"Nimm den bloß nicht ... der ist anstrengend"

Und selbst wenn beim Besetzungsgespräch "Beklemmungen" auftreten und eine innere Stimme warnt: "Nimm den bloß nicht, der ist fordernd, anstrengend… irgendwie anders… und wird nicht leicht zu steuern sein!" Was soll denn passieren, wenn man es trotzdem wagt? Mehr Aufwand? Mehr Unruhe im Team? Wird man als Chef vielleicht sogar fachlich und persönlich mehr gefordert?

Die Antwort lautet: sehr wahrscheinlich ja. Aber ist es nicht weitaus gefährlicher, es nicht zu tun? Man bedenke die Worte von Molière, dem französischen Dramatiker, der im 16. Jahrhundert bis zum Tod für seine Überzeugungen in Bezug auf menschliche Verhaltensweisen und deren Auswüchse in der Gesellschaft kämpfte: "Wir sind nicht nur verantwortlich für das, was wir tun, sondern auch für das, was wir nicht tun."

Michaela Bürger war viele Jahre als Spezialistin und Führungskraft bei der Siemens AG tätig. Bis 2008 verantwortete sie die Personalentwicklung für das Top Management. Die gelernte Betriebswirtin entschloss sich nach 20 Jahren Konzernerfahrung bewusst für die Selbständigkeit und gründetet ihre eigene Unternehmensberatung. Heute begleitet sie mit ihrem Team zahlreiche DAX-Konzerne sowie den namhaften Mittelstand bei allen Fragen des modernen Personalmanagements.

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