Schachgenie Magnus Carlsen ... und was den Weltmeister von Managern unterscheidet

Zuversichtlich: Schachweltmeister Carlsen verteidigte erfolgreich gegen Sergej Karjakin seinen Weltmeistertitel
Foto: REUTERS
Damenopfer im letzten Zug: So sicherte sich Carlsen die WM - und so verdient er Millionen
Der alte und neue Weltmeister Magnus Carlsen ist maximal fokussiert auf seinen Lebensinhalt, das Schachspiel. Der Weltmeister, betreibt das Spiel, wie manager magazin online ausführlich analysierte, mit maximaler Hingabe und ist davon überzeugt, jeden schlagen zu können. Für Niederlagen, so Carlsen, gibt es keine Entschuldigungen.
Dieses Selbstbewusstsein kommt nicht von ungefähr: Carlsen, der auch viel Sport treibt, um für die oft stundenlangen Sitzungen am Brett gerüstet zu sein, wird als einer der besten Schachpieler aller Zeiten gehandelt. Neben dem herkömmlichen Titel, um den es in New York ging, trägt Carlsen ebenso die Krone des Schnellschachweltmeisters. Zudem war eine Zeit lang Blitzschachweltmeister.
Eine überlegene mentale Einstellung also, dazu die richtige Lebensführung - das sind offenbar wichtige Voraussetzungen für Carlsens schier unglaubliche Fähigkeit, in kniffligen Momenten am Schachbrett die richtigen Entscheidungen zu treffen, sprich: die optimalen Züge zu finden.
Beide Erfolgsfaktoren lassen sich auch auf andere Gebiete übertragen, auf denen Menschen miteinander wetteifern. Nicht zuletzt gilt das für das Topmanagement in Unternehmen, wo ebenfalls immer wieder viel davon abhängt, die möglichst besten Lösungen zu finden, Antworten zu geben oder Alternativen zu wählen.
Allerdings gibt es auch eine Reihe von Punkten, in denen sich das Schachspiel grundlegend vom Management unterscheidet, und auch das sollte bei einem Vergleich nicht außer Acht gelassen werden. Hier sind die 7 wichtigsten Unterschiede zwischen brillantem Schachspiel und Topmanagement:
Ordnung vs. Unwägbarkeit

Ölkatastrophe 2010 im Golf von Mexiko: Exogene Schocks gibt es im Schach nicht
Foto: REUTERS/ U.S. Coast GuardZwei Spieler, ein Brett, 64 Felder, 32 Figuren, von denen genau festgelegt wurde, auf welche Weise sie sich bewegen dürfen - das Schachspiel ist ein geschlossener Kosmos mit klaren Regeln und ohne Einflüsse von außen. Deshalb ist es - zumindest theoretisch - vollständig berechenbar. Es gibt keine Überraschungen, nichts, das nicht hätte vorhergesehen werden können (weshalb inzwischen auch Computer besser sind als Menschen).
Diese Berechenbarkeit ist im realen (Wirtschafts-)Leben nicht einmal ansatzweise gegeben. Mitarbeiter können streiken, Bauern auf dem Schachbrett nicht. Eine Fabrik kann durch ein Erdbeben zerstört werden, die Stellung einer Schachpartie nicht (jedenfalls nicht so, dass sie nicht hinterher wieder aufgebaut werden könnte). Ein Unglück auf einer Ölbohrinsel kann eine gigantische Ölpest auslösen, die - wie 2010 im Falle der BP-Plattform Deepwater Horizon im Golf von Mexiko - bei schlechtem Management den Konzernchef - in dem Fall der seinerzeitige BP-Chef Tony Hayward - den Job kosten kann.
Dagegen ein Turm beim Schach, der leck schlägt und das halbe Brett kontaminiert, woraufhin der zuständige Spieler, weil er die Sache nicht unter Kontrolle bekommt, suspendiert wird? Eher unwahrscheinlich.
Vor dem Spiel ist nach dem Spiel

Vorbereitung ist Trumph: Die Stellung stammt aus der dritten Partie Anand gegen Carlsen bei der WM in Sotschi 2014, vor dem 20. Zug von Anand. Der Inder schlug den Springer auf e4. Ein Jahr zuvor hatte Großmeister Aronian in der gleichen Situation die Dame auf e2 gezogen.
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Damenopfer im letzten Zug: So sicherte sich Carlsen die WM - und so verdient er Millionen
Im Profischach, in dem Weltmeister Carlsen agiert, beruht ein großer Teil des Erfolgs auf der akribischen Vorbereitung auf die Partien. Wichtige Entscheidungen fallen nicht am Brett sondern im Vorfeld. Und während am Brett - wie gesagt zumindest theoretisch - alles vorausberechnet werden kann, sind im Rahmen der Vorbereitung bis zu einem gewissen Grad Überraschungen durchaus möglich.
Ein Beispiel: Beim WM-Wettkampf in Sotschi 2014 zwischen Carlsen und dem Inder Viswanathan Anand war das in Runde drei gut zu beobachten. Die Partie entschied Herausforderer Anand nach einhelliger Meinung der Fachwelt vor allem deshalb für sich, weil er die Eröffnungsvariante zuvor ausführlicher analysiert hatte.
Tatsächlich spielten Carlsen und Anand in ihrer dritten Begegnung in Sotschi nicht weniger als 19. Züge lang exakt eine Partie nach, die die Großmeister Levon Aronian und Michael Adams bereits ein Jahr zuvor bei einem Turnier in Bilbao gespielt hatten. Seinerzeit endete das Spiel Unentschieden. Anand jedoch wählte in Zug 20 eine vorbereitete Abweichung - und gewann erstmals in einem Weltmeisterschaftsmatch eine Partie gegen Carlsen.
Das ist zwar ein sehr prominentes Beispiel - aber längst kein Einzelfall. Viele Schach-Großmeister kennen unzählige Partien, die weltweit in der Vergangenheit gespielt wurden, auswendig. Zudem haben sie eine riesige Bibliothek an durchanalysierten Eröffnungsvarianten im Kopf, die im Laufe der Jahrhunderte, seit denen das Spiel bereits gespielt wird, auf- und ausgebaut wurde.
Die Folge ist, dass die Topspieler meist die ersten 15 bis 20 Züge einer Partie auf längst bekanntem Terrain verbringen. Erst dann steigen sie mit einer "Abweichung" wie jener von Anand in Sotschi, Runde 3, Zug 20, in eine eigene, neue Partie ein. Auch im sogenannten Mittel- und vor allem Endspiel gibt es im Schach zahlreiche Stellungsmuster, in denen erlernte Strategien oder Pläne abgerufen und angewendet werden können.
Es ist offensichtlich, dass ein vergleichbar verlässlicher Rückgriff auf Erfahrungswerte im wahren Leben kaum möglich ist. Schon gar nicht im Management großer Konzerne.
Keep your friends close but your enemies closer

Know your enemy: Carlsen (links) und Anand kennen sich bestens
Foto: Yevgeny Reutov/ dpaHinzu kommt noch, dass sich Top-Schachspieler ganz konkret auf ihre Gegner vorbereiten. Magnus Carlsen beispielsweise kennt buchstäblich jede Partie, die Anand oder sein jüngster Gegner Sergej Karjakin jemals gespielt haben, und Anand sowie Karjakin kennen jede von Carlsen. Sie wissen, wo die Vorlieben des anderen liegen, wo die Stärken und wo die Schwächen. Und sie wissen, wie sie sich möglicherweise überraschen können.
Zwar gibt es auch für Manager vielfältige Möglichkeiten, sich auf bestimmte Situationen vorzubereiten. Man denke nur an Personal-Coaches, Kommunikationsberater, Interviewtraining und ähnliches. Dennoch: Davon, wie Schachspieler ihre Gegner studieren, können Wirtschaftsführer oft nur träumen.
Computer auf Beinen

Keine Überraschungen: Beim Schach gewinnt der bessere Rechner
Foto: Corbis
Damenopfer im letzten Zug: So sicherte sich Carlsen die WM - und so verdient er Millionen
Die Punkte 1 bis 3 erklären, warum sich Manager bei ihrer Entscheidungsfindung nicht an Schachprofi Carlsen orientieren können. Im Gegenteil: Führungskräfte in der Wirtschaft auf der einen Seite und Schach-Großmeister auf der anderen haben grundlegend gegensätzliche Bedingungen, unter denen sie ihre Entscheidungen treffen müssen.
Das eine ist das wirkliche Leben, mit allen Unwägbarkeiten, Überraschungen und exogenen Schocks, wie der Ökonom sagt. Und das andere ist ein Spiel mit Regeln und Gesetzmäßigkeiten, bei dem es letztlich vor allem darum geht, wer - im übertragenden Sinne - über die größeren Speicher- und Rechenkapazitäten verfügt. Abgesehen von psychologischen Tricks natürlich, aber dazu später mehr ...
Nur das Brett im Blick

Spielt nur für sich selbst: Schachweltmeister Magnus Carlsen
Foto: © Reuters Staff / Reuters/ REUTERSNicht außer Acht gelassen werden sollte auch, dass ein Spieler wie Magnus Carlsen am Schachbrett ausschließlich für sich selbst verantwortlich ist. Ihn belastet weder die Sorge um hunderte oder tausende Arbeitsplätze noch um andere Aspekte, die im Wirtschaftsleben eine Rolle spielen, wie beispielsweise gegebenenfalls mögliche Umweltbelastungen, die bei Projekten entstehen können. Da fällt die bedingungslose Fokussierung, für die Carlsen häufig gelobt wird, zweifellos leichter.
Die Sache mit der "Toilettenaffäre"

Psychologische Kriegsführung: Die Großmeister Kramnik (links) und Topalow bei ihrem Duell 2006, das wegen der "Toilettenaffäre" in die Geschichte einging
Foto: MERGEN BEMINOV/ AP
Damenopfer im letzten Zug: So sicherte sich Carlsen die WM - und so verdient er Millionen
Beim Schach sitzen sich die Gegner am Brett direkt gegenüber. Deshalb ist es möglich, einen Teil des Erfolges durch "psychologische Kriegsführung" zu erzielen, sprich: durch Mimik, Körpersprache und ähnliches.
Ein berühmtes Beispiel, das in dem Zusammenhang angeführt werden kann, ist die Weltmeisterschaftsbegegnung zwischen den Großmeistern Wladimir Kramnik und Weselin Topalow 2006 in Russland. Der Streit beider Parteien darüber, ob Kramnik, wie von Topalow behauptet, während der Partien zu häufig das WC aufsuche, und was er da wohl mache, ging als "Toilettenaffäre" in die Schachgeschichte ein.
Manager können zwar in bestimmten Situationen - beispielsweise in Konferenzen oder in Interviews - ebenfalls ihre Fähigkeiten auf dem Gebiet der "psychologischen Kriegsführung" ausspielen. Der Gesamterfolg ihrer Tätigkeit dürfte davon aber nur zu einem sehr geringen Teil abhängen.
Ist Carlsen ein Nerd?

Nerd oder Nicht-Nerd: Weltmeister Carlsen kann's egal sein
Foto: DANIEL SANNUM LAUTEN/ AFPErfolgreiches Führen von Mitarbeitern setzt neben fachlicher Qualifikation vor allem soziale Kompetenz voraus - eine Eigenschaft, auf die Schachprofis nahezu vollständig verzichten können.
Das gängige Klischee vom Schachspieler ist vielmehr das eines Nerds, dessen soziales Umfeld sich auf seinesgleichen beschränkt. Das mag zwar augenscheinlich auf Weltmeister Carlsen nicht zutreffen. Grundsätzlich gilt jedoch: Wie jedes Klischee hat auch dieses einen realen Kern.