Traumata als Treibstoff Wie Schicksalsschläge Manager stärker machen

Und plötzlich ist alles anders: Katastrophen bieten auch die Chance zum Neuanfang
Foto: imago/Westend61"Was mich nicht umbringt, macht mich stärker", schrieb der Philosoph Friedrich Nietzsche. Aber stimmt das tatsächlich? Oder reden so nur diejenigen, die nach einem Schicksalsschlag einfach Glück hatten und schnell wieder auf die Beine kamen? Kann ein psychisches Trauma etwas Gutes in sich bergen? Gar eine verwandelnde Kraft entfalten?

Günther Höhfeld ist Psychologe, Theologe, Management-coach und Autor. Seit er 1999 selbst eine lebensbedrohliche Tumorerkrankung überwunden hat, berät und begleitet er Führungskräfte und Organisationen nach kritischen Ereignissen. Sein Buch "Der Cardio-Coach. Wie Führungskräfte an Herzerkrankungen wachsen" ist 2016 im Campus-Verlag erschienen.
Wenn das Leben plötzlich aus der Bahn gerät, fühlen sich viele Menschen, als sei ein Teil von ihnen zerbrochen. So erging es auch Frank P., Manager eines internationalen Automobilkonzerns, der notorisch getrieben war von dem Drang, immer mehr in immer kürzerer Zeit erreichen zu müssen. Seiner Karriere opferte er alles. Überlastungszustände waren die Regel, körperliche Warnsignale überhörte er. Bis er eines Tages auf einer Automesse zusammenbricht. Herzinfarkt mit Herzstillstand.
Nach Reanimation, Notoperation und Reha rappelt Herr P. sich wieder auf, beißt die Zähne zusammen - und macht weiter wie bisher. The show must go on! Denn beim kleinsten Fehler, so glaubt er, ist er weg vom Fenster. Schwäche gilt im Konzern als Makel. Seine Strategie geht lange auf. Bis zum zweiten Infarkt. Dieses Mal allerdings bleiben dramatische Folgeschäden und dauerhafte Leistungseinbußen.
Die Extremsituationen nehmen zu
Tiefschläge wie dieser sind bei Managern keine Seltenheit. In der modernen Welt ist alles in Bewegung: Märkte, Menschen, Meinungen, Geschäftskulturen. Die in diesem "Change" verborgenen Chancen sind groß. Aber sie sind auch herausfordernd. In einer volatilen, komplexen, unsicheren und widersprüchlichen Welt (VUCA) nehmen die Ausnahme- und Extremsituationen zu. Kritische Ereignisse rauschen unerwartet, ungefiltert und ungebremst in den Führungsalltag. Und viele davon sind keine Lappalien, sondern handfeste Paradigmenwechsel, die ans Eingemachte gehen.
Es kann ein externes Ereignis sein, das Manager aus der Bahn wirft, eine Insolvenz, eine Entführung oder Geiselnahme, auch der Selbstmord eines Geschäftspartners. Oder ein einschneidendes Ereignis im eigenen Leben: die Diagnose einer lebensbedrohlichen Erkrankung, Herzinfarkt, Depression, Angst oder Panikstörung. Derart kritische Erlebnisse können nicht ungeschehen gemacht werden. Sie machen unweigerlich die Unwiederholbarkeit und die Unumkehrbarkeit der eigenen Zeit und des eigenen Lebens bewusst. Betroffene werden aus ihrer vertrauten Alltagswelt herausgerissen und mit einer komplett neuen Anpassungs- und Integrationsaufgabe konfrontiert.
Katastrophen sind Neuanfänge
In meiner beruflichen Praxis sind mir alle denkbaren Bewältigungsstrategien schon begegnet, mit denen Manager versuchen, mit solchen einschneidenden Erlebnissen fertig zu werden: Sich verkriechen. Beschönigen. Den Befreiungsschlag wagen und dabei einen Imageverlust riskieren. Die überwiegende Mehrheit bekundet, dass die Flucht nach vorn, sagen, was Sache ist, sie enorm erleichtert habe. Und sie widersprechen nicht der Behauptung, dass es gerade ihr Schicksalsschlag war, der sie dazu gebracht hat, die Karten auf den Tisch zu legen.
Für viele ist er ein Fanfarenstoß, die bisherigen Festlegungen ihres Denkens, Fühlens, Wollens und Handelns zu überprüfen. Grundsätzlich gibt es meist drei Wege, mit dem Erlebten umzugehen: weitermachen wie bisher, daran zerbrechen oder an der Erfahrung wachsen. Die meisten entscheiden sich zum Glück für die dritte Möglichkeit.
Ja, es ist möglich, als Führungskraft an einem traumatischen Erlebnis zu wachsen. Denn Menschen haben von Natur aus ein Grundbedürfnis sowohl nach Bindung, als auch nach Autonomie. Sie brauchen Selbstakzeptanz und tragfähige, vertrauensvolle Beziehungen. Und sie brauchen Möglichkeiten, sich zu entwickeln und am Schicksalsschlag persönlich zu reifen. Jede persönliche Katastrophe kann einen Neuanfang in sich bergen. Jedes Trauma kann der Treibstoff für emotionales Wachstum sein. Und zwar in fünffacher Hinsicht.
Fünf Tipps, wie man im Umgang mit traumatischen Erlebnissen auch wachsen kann
Wachstumstipp 1: Trainieren Sie Selbstmitgefühl
Traumabetroffene gewinnen eine andere Haltung sich selbst und ihrem Leben gegenüber. Sie lernen, beides intensiver wahrzunehmen, ein Gespür für das Wesentliche zu bekommen, neue Prioritäten zu setzen.
So zum Beispiel Michael F., CEO eines internationalen Pharmakonzerns. Bei einer Routineuntersuchung diagnostiziert sein Arzt einen fortgeschrittenen Gehirntumor. Michael F. muss alles aufgeben: seinen Job, seine Karriere, seinen geliebten Rennradsport. Er braucht Wochen bis ihm klar wird, dass auch andere Haltungen zählen. Er nennt sie "Slow Life", ein Leben im ersten Gang. "Mein Leben ist besser als vorher", gesteht er offen. "Heute nehme ich mir mehr Zeit für das, was mir wirklich wichtig ist. Und das sind definitiv meine Frau und meine Kinder. Ja, ich kann jeden Augenblick sterben, aber ohne diesen Schicksalsschlag wäre ich niemals in der Lage gewesen, auch ein langsames Leben so bewusst wertzuschätzen. Ich bin verletzlicher, aber auch stärker geworden."
Wachstumstipp 2: Entwickeln Sie Selbstwirksamkeit
Traumabetroffene Manager erleben eine interessante Paradoxie. Gerade das Bewusstsein der eigenen Verletzlichkeit ruft bei ihnen das Gefühl der inneren Stärke hervor. Sie wissen, dass ihre Sicherheit im Leben jederzeit angreifbar ist. Zugleich sind sie sich darüber im Klaren, dass sie einschneidende Ereignisse meistern können.
Richten Sie Ihren Fokus auf das, was Ihnen gelungen ist, was Sie auszeichnet. So aktivieren Sie Ihr emotionales Erfahrungsgedächtnis, erhöhen Ihre Selbstwirksamkeit und erleben Flow und Freude.
Wachstumstipp 3: Denken und handeln Sie wachstumsförderlich
Manager, die nach einem Schicksalsschlag wieder aufblühen, betrachten ihr einschneidendes Erlebnis als Wachstumschance. Alte Ziele sind bei ihnen oft entwertet oder zerbrochen. In Zukunft geht es darum, neue Aufgaben zu erkunden. So wechseln einige ihren Beruf oder engagieren sich sozial.
Nach einem unverschuldeten Autounfall sitzt Frau E. querschnittgelähmt im Rollstuhl. Ihre Karriere als Model erfuhr ein abruptes Ende. Heute ist sie Inhaberin eines eigenen Modelabels. "Die heilende Kraft des Schreibens hat mir geholfen, meinen biografischen Bruch zu verarbeiten und neue Möglichkeitsräume zu eröffnen. Dadurch ist es mir gelungen, neue Verbindungen zwischen meiner Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft herzustellen. Das expressive Schreiben hat Eigenverantwortung und Flexibilität in mir aufgebaut. So konnte ich mich selbst aus verschiedenen Blickwinkeln betrachten und neue Sichtweisen einnehmen."
Wachstumstipp 4: Pflegen Sie positive Beziehungen
High-Quality-Connections (HQC) zeichnen sich aus durch gegenseitige positive Wertschätzung, Vertrauen und aktives Engagement. Sie bewirken ein angenehmes körperliches und seelisches Wohlbefinden und schaffen eine sich positiv abhebende Arbeitsumwelt. Entwickeln Sie ein feines Gespür dafür, welche Beziehungen ihnen gut tun und welche ihnen schaden, welche aufrichtig und wertschätzend und welche herablassend und entwürdigend sind. Wer die wahren Freunde sind, zeigt sich gerade in Extremsituationen.
Wachstumstipp 5: Schaffen Sie sich ein spirituelles Bewusstsein
Traumatische Erfahrungen sind Grenzerlebnisse und rufen existenzielle Fragen hervor. Betroffene reflektieren über Glaubensfragen, den Sinn des Lebens oder über Gott und die Welt. Das trifft auch für jene zu, die zuvor eher atheistische Weltanschauungen hatten. Entdecken Sie Ihren persönlichen heiligen Ort: in der Kirche, in der Natur, beim Betrachten eines Bauwerks oder Gemäldes, beim Lesen von Bibel, Gedichten, beim Hören von Musik oder Gebeten. Wo auch immer Ihnen Heiliges begegnet, bewahren Sie es in Ihrem Herzen. Denn aus ihm spricht die Quelle des Lebens.
Übrigens: Automanager Frank P. ist auch nach dem zweiten Infarkt sich selbst und seiner Liebe zu Autos treu geblieben. Er hat sich seinen Kindheitstraum erfüllt und einen eigenen Oldtimer-Salon gegründet. Sein Credo: den Jahren mehr Leben geben und nicht nur dem Leben mehr Jahre.
Günther Höhfeld ist Psychologe, Theologe, Coach-Ausbilder, Experte für Resilienz und schreibt hier als Gastkommentator. Gastkommentare geben nicht notwendigerweise die Meinung der Redaktion wieder.