Ordnung im Büro Vom Volltischler zum Leertischler

Aktennotizen im Stapel, Merkzettel auf dem Block - trotz digitaler Arbeitsplätze kämpfen Büromenschen gegen das tägliche Chaos. Clean-Desk-Berater versprechen Hilfe gegen überquellende Ablagen. Aus gutem Grund: Ein sauberer Schreibtisch fördert die Effizienz.

Hamburg - Das hatte der Organisationsberater Jürgen Kurz aus dem schwäbischen Giengen auch noch nicht erlebt: Ein sammelwütiger Investmentexperte hatte den Fachmann in höchster Not zu sich gerufen. An seinem Arbeitsplatz türmten sich hüfthohe Stapel aus bis zu zehn Jahre alten Dokumenten, Prospekten, Zeitschriften und Zeitungen. Entsprechend winzig war die noch freie Fläche auf dem zugemüllten Schreibtisch: Sie reichte gerade noch für eine Kaffeetasse.

"Wir bezeichnen das in der Büroorganisation als Volltischler", sagt Kurz, Geschäftsführer der Beratungsfirma Tempus in Baden-Württemberg, der Seminare zur effizienten Büroarbeit veranstaltet. Auf seiner Kundenliste stehen Weltkonzerne wie Daimler, Lufthansa, aber auch Volksbanken oder ordnungssuchende Mittelständler wie Steuerberatungskanzleien.

"Volltischler": 70 Tage pro Jahr treiben Angestellte sinnlose Dinge

"Volltischler": 70 Tage pro Jahr treiben Angestellte sinnlose Dinge

Foto: Corbis

Das Problem ist überall das gleiche. Überladene Schreibtische machen ihre Besitzer, aber auch die Firma unglücklich. Längst hat sich die Wissenschaft des Themas angenommen und erstaunliche Erkenntnisse gewonnen. Nach einer Studie des Stuttgarter Fraunhofer-Instituts für Produktionstechnik und Automatisierung zum "Schlanken Büro"  werden gut 10 Prozent der Arbeitszeit durch "überflüssige oder fehlende Arbeitsmaterialien" oder "ständiges Suchen nach dem richtigen Dokument in chaotischen Dateiverzeichnissen" verschwendet.

Insgesamt entfällt auf die von den Büroforschern ermittelte Verschwendung in schlecht organisierten Büros nahezu ein Drittel der Jahresarbeitszeit. Das seien immerhin jährlich 70 Tage, an denen die Angestellten "sinnlose Dinge treiben", konstatiert Kurz - ein Schreckensbefund für alle Personalchefs.

Hier setzen die modernen Aufräumexperten an, die mit Seminarangeboten unter dem Thema "Vom Volltischler zum Leertischler" bei Fachmessen wie "Personal 2009" auftreten. Nachdem die Produktionspotenziale in Werkhallen und an Fertigungsbändern, vor allem in der Automobilindustrie, seit den 90er Jahren gnadenlos optimiert wurden, sind jetzt die Büros dran.

Der "Abschied vom Chaos", so der Münchener Fachautor und Theologe Werner Tiki Küstenmacher, dessen Ratgeber "Vereinfache Dein Leben" Millionenauflagen erzielte, beginne bei dem eigenen Schreibtisch. Über das Möbelstück, an dem viele Menschen mehr Zeit verbringen als mit dem eigenen Ehepartner, verfügen nach den Statistiken des Kölner Büro-Forums immerhin 18 Millionen Deutsche, inklusive Freiberufler. Hinzu kommen zwei Millionen private Arbeitstische. "Der Arbeitsplatz ist so etwas wie unser nach außen verlagertes Gehirn", sagt Vereinfachungsforscher Küstenmacher, "was Sie im Kopf haben müssen, bildet sich auf fast magische Weise auf ihrem Arbeitstisch ab".

Mehr noch: Laut einer repräsentativen Untersuchung der Büroartikelfirma Staples kann ein chaotischer Arbeitsplatz ein "Karrierekiller" sein. Immerhin vier Fünftel aller befragten Geschäftsführer größerer Unternehmen in Deutschland sehen einen direkten Zusammenhang zwischen "Ordnung und Produktivität". Und auch Fachmann Kurz weiß, dass "ordentliche Mitarbeiter bei Beförderungen bevorzugt" würden.

Ab in den Rollcontainer

Bei der Einschätzung des eigenen Schreibtischverhaltens neigen die Büromenschen zur Beschönigung. Auf die Frage der Staples-Untersuchung "Wie schätzen Sie Ihre eigenen Fähigkeiten in puncto Ordnung und Organisation ein?", antworten gut 45 Prozent "Ich bin stets perfekt organisiert". Und fast 65 Prozent halten sich gar für ein "Organisationstalent", während sich nur ein gutes Fünftel als "latenter Chaot" outet.

Ganz ehrlich sind nur ein Prozent der Befragten, die sich als "hoffnungsloser Fall" einschätzen. Die könnten es aber in der modernen Bürowelt schwer haben. Denn der individuelle Arbeitsplatz mit eigenem Gummibaum und Nachwuchsfoto am Bildschirm gehört zumindest nach Meinung effizienzorientierter Büroforscher der Vergangenheit an.

Mobile, ortsungebundene Büroarbeiter beziehen einen verkabelten Arbeitsplatz auf Zeit, der mit blanker Platte übergeben wird. Im eigens entwickelten Rollcontainer dieser sogenannten "nonterritorialen Arbeitsplätze" sollen alle individuellen Arbeitsmaterialien am Ende des Tages verschwinden. In eigenen "Laboratories" lässt beispielsweise der deutsche Kommunikationskonzern Telekom solche chaosresistenten Arbeitsplätze erforschen, bei denen auch der virtuelle "Desktop" immer aufgeräumt zu sein hat.

Der schwäbische Büroexperte Kurz, als Praktiker dem Menschlichen eher zugewandt, steht solchen fliegenden Schreibtischen allerdings skeptisch gegenüber: "Der gemeine Büroarbeiter braucht eine Heimat."

Er empfiehlt dagegen einen mehrstufigen Check zur schrittweisen Überwindung des alltäglichen Chaos:

  • Anfertigung eines Digitalfotos des jetzigen Arbeitsplatzes. Erkenntniswert: So sehen uns Besucher, Lieferanten, Kunden oder der Chef.
  • Anschaffung einer Altpapierbox, die durchaus größer sein darf als die Schreibtischfläche.
  • Auf dem Tisch immer nur den einen Vorgang ausbreiten, der gerade bearbeitet wird. Hefter, Locher, Tesa-Film und sonstige Büro-Hardware in der Schublade verstauen, am Monitor klebende Post-it-Zettel in einem eigenen Handverzeichnis ablegen.
  • Abfall auf Probe. In einem Karton alles einlagern, was lange nicht mehr benutzt worden ist, und mit einem Datum in mehreren Monaten versehen. Dann endgültig entsorgen.

Enttarnt ist nach Expertenmeinung dagegen die gängige Ausrede, dass "Kreativität nur im Chaos" wachse. Denn echte Schreibtischtäter ("Die Ordentlichen sind nur zu faul zum Suchen") zitieren gerne den Physiker Albert Einstein, demzufolge "das Genie das Chaos beherrscht".

Produktionsgewinne von "bis zu 20 Prozent" seien durch geordnete Schreibtische zu erreichen, beharrt Hermann Scherer, Autor diverser Managementfachbücher (unter anderem "Wie man Bill Clinton nach Deutschland holt"). Und damit ist auch die Erkenntnis von bekennenden Chaoten wie dem verstorbenen SPIEGEL-Wissenschaftsredakteur Henry Glass ("Ein Schreibtisch ist immer unaufgeräumter als beim letzten Mal") zweifelhaft, dass aus "konisch vermüllten" Schreibtischen Kreativität wachse.

Selbst Effizienzprofi Kurz gibt indes zu, dass "die Menschen von Natur aus Jäger und Sammler sind" und so mancher kreative Chaot für seine Papierstapel ein überraschend effizientes Such- und Findesystem entwickelt. In der Arbeitswelt von Großraumbüros und gemeinsam benutzen Arbeitsflächen für moderne Teamarbeit könne das allerdings zu Effizienzverlust, Revierstreitigkeiten oder Frust mit den Ordnungsliebenden führen. "Keiner hat Zeit zum Aufräumen", sagt Kurz, "aber jeder hat Zeit zum Suchen."

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