Stress Zu viel des Guten
Hamburg/Köln - Was Stress ist und wo er anfängt - darüber lässt sich weidlich diskutieren. "Stress liegt dann vor, wenn die Anforderungen die Bewältigungsmöglichkeiten überschreiten", zitiert Andreas Weber eine Definition des Internationalen Arbeitsamtes in Genf
Stress lässt sich nicht objektiv an einer bestimmten Arbeitsbelastung festmachen: Was den einen stresst, lässt den anderen ganz ruhig bleiben. "Für Morgenmuffel kann ein Vortrag am Nachmittag problemlos, um 7.30 Uhr aber richtig stressig sein", sagt Weber. "Anders als bei chemischen Schadstoffen gibt es da keine Grenzwerte", erläutert der Arbeits- und Sozialmediziner aus Köln.
Die Stresssymptome werden von den Betroffenen selbst oft übersehen. "Wenn sie auffallen, ist es häufig schon zu spät", sagt der Arzt und Coach Jörg-Peter Schröder. Vor allem werden die Signale falsch interpretiert: "Wer psychosomatische Beschwerden hat, geht zunächst einfach zum Hausarzt", sagt Schröder. Doch bei Beschwerden aufgrund von Dauerstress helfen keine Pillen.
Kopfschmerzen könnten bei falscher Behandlung sogar zu chronischer Migräne werden. "Auch ein paar Seminare zur Stressbewältigung helfen nicht weiter", sagt der Mediziner aus Budenheim, der sich seit vielen Jahren mit Stress und Burnout beschäftigt. "Man muss sich parallel dazu fragen, was man anders machen kann."
Dabei sollten nicht die Symptome im Fokus stehen. Wichtig sei, auch die eigenen Potenziale zu stärken. Dazu gehört, sich nicht weiter über etwas aufzuregen, das einen stört, sondern es künftig anders zu machen. "Stress hat auch etwas damit zu tun, wie ich mit mir selbst umgehe", betont Schröder.
Unter Umständen liegen die Ursachen dafür bei falsch getroffenen Entscheidungen: "Perfektionisten leiden oft unter Stress und unterdrücken ihre eigenen Bedürfnisse", sagt Schröder. "Sie müssen sich fragen, wo die überzogenen Erwartungen an sich selbst herkommen." Belastend sei auch, "nicht-authentisch" zu leben, also im Beruf Aufgaben übernehmen zu müssen, die der eigenen Persönlichkeit im Grunde widersprechen.
Auch eine neue Rolle, beispielsweise nach einer Beförderung, kann stressig sein. "Ich muss dann lernen, mit mehr Verantwortung umzugehen", sagt Schröder.
Mittel gegen Stress
Mittel gegen Stress
Wer zunehmend unter Stress leidet, hat nach Einschätzung des Experten drei Alternativen: Er kann erstens weitermachen und die unangenehmen Begleiterscheinungen akzeptieren - in der Hoffnung, dass sie nicht schlimmer werden.
Eine zweite Alternative ist, zu versuchen am jetzigen Arbeitsplatz an den Arbeitsbedingungen so viel zu verändern, dass sich die Situation spürbar bessert. Wer die Verhältnisse ändern will, in seiner Firma aber keine Chance dazu sieht, sollte überlegen, sie zu verlassen: "Eventuell gibt es eine weniger stressige Branche", sagt Schröder, "oder es reicht schon ein kleinerer Betrieb."
"Unausgeglichenheit, Ungeduld oder schlechte Stimmung sind Signale des eigenen Frühwarnsystems", ergänzt Christine Öttl, Karriere-Coach aus München. In diesem Stadium reichen oft schon kleine Hilfsmittel: "Bewusst Pause machen", empfiehlt die Expertin, "die Möglichkeiten nutzen, mal abzuschalten". Mehr Bewegung sei in jedem Fall eine gute Idee. "Ich habe selbst auch solche Stressphasen gehabt, geraucht, viel Kaffee getrunken, abends lange gearbeitet", erzählt Öttl. Regelmäßiger Sport und früherer Feierabend haben die Situation entschärft. "Danach habe ich weniger gearbeitet, aber unter dem Strich effizienter und zufriedener."
Schwieriger wird es, wenn die Stresssymptome lange ignoriert werden: "Die letzte Stressstufe ist Burnout", sagt Öttl. "Das ist brutal. Dann funktioniert oft gar nichts mehr. Da helfen auch keine Anti-Stresstipps, dann braucht man professionelle Hilfe." Ob es dazu kommt, ist nicht in erster Linie eine Frage der Arbeitsbelastung: "Lange Arbeitszeiten gab es früher auch", sagt Carola Kleinschmidt.
"Aber das Gefühl von Unsicherheit ist bedrohlich größer geworden", so die Autorin aus Hamburg. "Heute kann sich fast jeder vorstellen, morgen eine Ein-Euro-Kraft zu sein, selbst Akademiker." Die Angst vor dem Verlust der Arbeit ist dabei viel größer als das reale Risiko. "Und die Angst macht den Stress", sagt Kleinschmidt. "Immer mehr Arbeitnehmer fühlen sich ohnmächtig und der globalen Entwicklung ausgeliefert."
Führen ohne Angst
Führen ohne Angst
Die Zahl der Fehltage aufgrund von psychischen Beschwerden nimmt kontinuierlich zu. Und Dauerstress ist nicht nur ein Manager-Phänomen: "Das gibt es in allen Gesellschaftsschichten", betont Kleinschmidt - "vom IT-Projektleiter bis zum Callcenter-Mitarbeiter." Es sei auch keine Frage der Hierarchie, ergänzt Jörg-Peter Schröder. "Es kann auch die Verkäuferin an der Kasse von Aldi treffen."
Stress ist aber auch eine Frage der persönlichen Einstellung: "Ich kann versuchen zu klären, was stresst mich am Arbeitsplatz, was kann ich ändern?", sagt Kleinschmidt. Mancher Arbeitnehmer macht sich selber Stress, weil er sich unrealistische Karriereziele setzt. Andere muten sich ein unnötiges Arbeitspensum zu.
"Wer die Möglichkeit hat, kann sich den Arbeitgeber auch unter dem Gesichtspunkt aussuchen, wie die Arbeitsbedingungen dort sind", rät Kleinschmidt. "Wenn man jemanden kennt, der in dem Unternehmen arbeitet, für das man sich bewirbt, kann man gezielt nach dem Umgang mit Stress und der Atmosphäre unter den Kollegen fragen."
Die Arbeitnehmer allein sind allerdings machtlos, wenn es um Unternehmenskultur und Führungsstil geht, die für Stress mitverantwortlich sein können. Experte Weber sieht die Gefahr, dass Stress zunehmend nur noch als Problem jedes Einzelnen gesehen wird: "Natürlich kann jeder überlegen, was er zum Beispiel an seinem Zeitmanagement verbessern kann."
Andere Faktoren wie die betriebliche Gesundheitsförderung dürften jedoch nicht vernachlässigt werden. Auch Fragen der Arbeitsorganisation spielen bei der Stressentstehung eine Rolle. "Die Arbeitszeit kann nicht beliebig ausgeweitet werden, ohne dass das Folgen hat." Aber auch wie Pausen genutzt oder Ruheräume gestaltet werden, spiele durchaus eine Rolle.
Entscheidend für die Arbeitsatmosphäre ist nicht zuletzt der Chef: "Führungsverhalten ist ein wichtiger Faktor", sagt Weber. Wer ständig Druck ausübt und Angst verbreitet, macht damit auch Stress. "Wobei gerade das mittlere Management selbst extremen Belastungen ausgesetzt ist", betont der Mediziner - "dem Druck von oben und dem Erwartungsdruck der Belegschaft von unten." Gerade für Führungskräfte gilt deshalb, dass Arbeit richtig Spaß machen kann, aber auch richtig krank.
Andreas Heimann, dpa