Unternehmenskultur "Führen heißt dienen"

Mit Klöstern haben affärengeplagte Konzerne wie Siemens oder Volkswagen nichts gemein - auf den ersten Blick zumindest. Im Interview erklären Berater und Ex-Mönch Anselm Bilgri und sein Partner Jürgen Schott, was Manager vom Benediktinerorden lernen können - und warum sie sich mäßigen sollten.

mm.de: Herr Bilgri, was haben ein Manager und ein Benediktiner gemein?

Bilgri: Benedikt von Nursia hat im sechsten Jahrhundert ein Organisations- und Führungshandbuch geschrieben. Die Benediktinerregel "ora et labora", bete und arbeite, ist die Grundlage für den heutigen Gedanken der Work-Life-Balance. Sie ist also auch außerhalb eines Klosters anwendbar.

Von den strengen Vorschriften, die Benedikt dem Abt macht, kann sich eine Führungskraft sehr viele Scheiben abschneiden. Als eine der Haupttugenden beschreibt Benedikt die Demut - eine Eigenschaft, die jeder Mitarbeiter eines Unternehmens haben muss. Ich übersetze die Demut mit zwei moderneren Begriffen: der Bodenhaftung und der Bereitschaft zum Dienen. Führen heißt dienen.

mm.de: Was bedeutet das?

Bilgri: Eine Führungskraft muss zunächst jedem einzelnen Mitarbeiter gerecht werden, ihm richtig zuhören und auf ihn eingehen. Benedikt sagt über den Abt: "Er wisse, dass er mehr helfen als herrschen soll". Außerdem muss der Manager sich dem gemeinsamen Unternehmensziel verpflichten. Viele Führungskräfte denken jedoch, das Unternehmen müsse ihnen dienen statt umgekehrt.

mm.de: In einem Buch schreiben Sie, ein Manager müsse erst die geistige Reife erlangen, bevor er eine Führungsaufgabe übernimmt. Was meinen Sie damit?

Bilgri: Ein Manager braucht Erfahrung und die nötige innere Ruhe. Mir genügt es nicht, wenn Führungskräfte mit reinem Zahlen- und Faktenwissen von der Universität kommen und dann meinen, Menschen führen zu können. Es ist ein Fehler, zu denken, dass ein fachlich kompetenter Manager sich auch automatisch für die Personalführung eignet. Denn das ist eine Kunst, die erlernt werden muss - und auch trainiert werden kann.

Besonders wichtig ist, dass Manager auch gelegentlich innehalten und sich eine Atempause gönnen - selbst wenn es nur für eine Viertelstunde ist. Sie müssen sich zeitweilig aus dem Hamsterrad ihrer Führungsaufgaben, an denen sie oft zu ersticken drohen, an einen ruhigen Ort zurückziehen. Man muss immer wieder über die eigenen Ziele und die des Unternehmens nachdenken. Das sind Atempausen für den Geist, in denen der Manager sich auf das Wesentliche besinnen kann.

"Herde zuverlässig leiten"

mm.de: Konzernlenker wie Deutsche-Bank-Chef Josef Ackermann oder Allianz-CEO Michael Diekmann haben in Deutschland einen durchwachsenen Ruf. Sie sind Spitzenverdiener, fahren Rekordgewinne ein und entlassen dennoch Personal. Trifft das Bild des guten Hirten, der seine Herde besonnen lenkt und zusammenhält, heute noch auf Unternehmenslenker zu?

Bilgri: Es hat im Laufe der Geschichte immer Beispiele für Führungskräfte gegeben, die nicht verstanden haben, dass Führung vor allem ein Dienst ist. Benedikt verwendet für den Abt das Leitbild des Hirten, der seine Herde zuverlässig leitet. Die Führungskraft hat dafür zu sorgen, dass alle dasselbe Ziel vor Augen haben. Er muss die Herde auf dem richtigen Weg halten - und mit gutem Beispiel vorangehen. Man kann nicht eine bestimmte Unternehmenskultur predigen, aber gleichzeitig eine völlig entgegengesetzte Lebensweise pflegen. Ein Manager muss sich den Anforderungen, die er an andere stellt, selbst unterwerfen.

mm.de: Hat ein Manager, der Tausende Menschen entlässt, versagt?

Bilgri: Wir sagen sicherlich nicht, dass eine gute Unternehmenskultur Entlassungen völlig überflüssig macht. Der permanente Strukturwandel wird immer auch zu Arbeitsplatzverschiebungen führen müssen. Es geht um die Frage der Verhältnismäßigkeit und um das Fingerspitzengefühl.

Wenn einerseits mehrere Tausend Leute entlassen und andererseits die Vorstandsgehälter um 30 Prozent erhöht werden, dann ist jede Maßnahme für sich genommen nicht zwingend falsch. Doch ob es angemessen ist, beides gleichzeitig zu verkünden, halte ich für fragwürdig. Da sollten Manager die Bodenhaftung wahren, sich ihres Vorbildcharakters und ihrer Verantwortung bewusst werden.

"Ein Umdenken erforderlich"

Schott: Menschen orientieren sich stark an der Glaubwürdigkeit von Führungspersonen. Wer Rekordgewinne verkündet und sich gleichzeitig von vielen Mitarbeitern trennt, die zu diesem Erfolg beigetragen haben, ist nicht glaubwürdig.

Außerdem stellt sich die Frage, ob ein Chef dann überhaupt noch ein Gefühl dafür hat, was in seinem Unternehmen passiert und was für die Gesellschaft wichtig ist - oder ob er nur noch in seinen Vorstandszirkeln verkehrt. Bei einem mittelständischen, inhabergeführten Unternehmen ist das oft anders. Ein Firmenchef kennt dort seine Leute und ihre Befindlichkeiten, er würde nicht so schnell in eine Einseitigkeit oder Radikalität driften.

Problematisch ist auch, wenn sich Unternehmen nur noch einseitig als Renditebringer verstehen. Andere Werte treten dann in den Hintergrund - etwa das Bemühen, ein guter Arbeitgeber zu sein oder Verantwortung für die Gesellschaft zu übernehmen.

mm.de: Es liegt doch in der Natur börsennotierter Unternehmen, dass sie sich relativ einseitig am Shareholder-Value orientieren und um gute Quartalszahlen bemühen.

Bilgri: Wer schreibt uns denn vor, dass sich ein Unternehmen nur nach dem Willen der Aktionäre richten muss? Es ist doch genauso wichtig, Arbeitsplätze zu erhalten und neue zu schaffen. Wichtige Erfolgsfaktoren sind auch gute Beziehungen zu den Kunden, zu den Lieferanten und nicht zuletzt zu den Mitarbeitern.

Auch der Aspekt der Nachhaltigkeit - Benedikt spricht von "Stabilitas" - spielt eine wichtige Rolle. Man hat manchmal das Gefühl, es geht nur um Vierteljahresbilanzen und das schnelle Geld. Jedoch sollte sich jedes Unternehmen zum grundsätzlichen Ziel setzen, langfristig am Markt zu bleiben und erfolgreich zu sein. Hier ist ein Umdenken erforderlich - und ich bin mir sicher, dass diese Entwicklung auch kommen wird. Sonst steht unsere Unternehmenswelt auf sehr wackeligen Beinen.

"Seelenlose Hüllen"

Schott: Managerverträge sind heutzutage häufig auf kurzfristiges Handeln ausgelegt, und das sind falsche Anreizsysteme. Wir brauchen eine ganz andere Vorgehensweise bei der Gewinnung von Führungskräften, wie sie bei manchen Unternehmen bereits existiert.

Viele unserer Mandanten, die Global Player sind, wollen keine Ellbogenmentalität. Sie suchen gezielt nach einem Managertypus, der selbstloser ist, Talente erkennt und auch mal jemanden an sich vorbeiziehen lässt. Führungskräfte, die mehr als nur Karrieristen sind, lassen sich auch langfristig in die Unternehmenskultur integrieren.

mm.de: Welche Gefahr droht Unternehmen, die zu kurzfristig denken und nur schnellen Gewinnen nachjagen?

Schott: Jeder Bankier der Deutschen Bank  hat stets ein bestimmtes Wertegefühl transportiert. Inzwischen sitzen jedoch nur noch ein paar Leute in Frankfurt. Das Unternehmen ist ein global agierender Konzern geworden, die Vorstände haben keinen großen Bezug mehr zu Deutschland.

So wird es immer schwieriger, eine übergreifende Kultur zu erhalten. Global Player laufen damit Gefahr, sich zu seelenlosen Hüllen zu entwickeln.

Ein solcher Kulturverlust kann unangenehme Folgen haben, die wir erst in ein paar Jahren erkennen werden - eine Erosion im Inneren, ein Verlust emotionaler Bindungen. Wer sich seinem Unternehmen nicht mehr verbunden fühlt, bringt nicht den vollen Einsatz und verlässt den Arbeitgeber beim ersten besseren Angebot.

"Persönlichkeit heranbilden"

mm.de: Bei Siemens  gab es wohl schwarze Kassen für Schmiergeldzahlungen, bei Volkswagen  ging man auf Lustreisen. Sind die Führungskräfte hierzulande maßlos geworden?

Bilgri: Solche Fälle betreffen ja nicht alle Manager in Deutschland, sondern bestimmte Gruppen und Unternehmen. VW ist durch die jahrzehntelang austarierte Beziehung zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmerfunktionären ein besonderer Fall. Wer sein Privatvergnügen von der Firma finanzieren lässt, hat kein Verständnis verdient. Einige Fälle sind ja auch vor Gericht gelandet.

Doch mit der Lösung solcher Probleme muss man viel früher ansetzen. Manager brauchen ein ethisches Denkvermögen. Sie haben eine Verantwortung, die jegliche Selbstbedienungsmentalität verbietet. Man muss Führungskräfte heranbilden, die sich ihrer gesellschaftlichen Position bewusst sind. Man muss sehr früh anfangen, dies zu lehren - bereits in Ausbildung oder Studium. Es ist heute unerlässlicher denn je, auch die Persönlichkeiten der Führungskräfte auszubilden.

mm.de: Inwiefern tragen Unternehmer gesellschaftliche Verantwortung?

Bilgri: Wir leben in einer Welt, die zunehmend von der Ökonomie bestimmt wird. Damit kommt auch unseren Wirtschaftskapitänen eine immer bedeutendere Vorbildrolle zu - sie sind in hohem Maße gesellschaftlich relevante Personen, an denen man sich orientiert.

Auf eben diese Rolle bereiten wir unsere Führungskräfte zu wenig vor. Unternehmen sind soziale Gefüge, die einen Menschen prägen. Bisher haben andere Organisationen die Kultur unserer Gesellschaft ausgemacht - Kirchen, Verbände oder Gewerkschaften. Doch solche Einrichtungen verlieren an Leuchtkraft.

"Lerne zurückzustecken"

mm.de: Siemens galt bislang als Traditionskonzern mit ausgeprägter Unternehmenskultur. Korruption gab es dennoch.

Schott: Bei Siemens haben zum einen offenbar sämtliche Kontrollsysteme versagt. Zum anderen ist die Unternehmenskultur vermutlich zu wenig vorgelebt, ihre Bedeutung zu wenig betont worden. Es hätte wohl schon viel früher ein Vorstand aufstehen und erklären müssen, dass er die Korruption klar verurteilt und ihre Bekämpfung zu seiner persönlichen Sache macht. Das wäre ein eindeutiges Signal gewesen: Hört her, bei uns gibt es so etwas nicht - selbst wenn Schmiergeldzahlungen im internationalen Geschäft üblich sein mögen.

mm.de: Wie kann eine Führungskraft das rechte Maß für ihr Handeln finden?

Bilgri: In Gehaltsfragen darf sich ein Manager seiner Leistung und seiner Verdienste durchaus bewusst sein, er sollte jedoch seine eigene Gier zähmen und Extreme meiden - nach oben wie auch nach unten. Er muss das rechte Maß auch im Umgang mit den Menschen finden. Dazu ist es erforderlich, den anderen richtig einzuschätzen und dabei von den eigenen Vorstellungen loslassen zu können. Das bedeutet: Nehme die Talente an, die in deinem Mitmenschen stecken. Lerne zurückzustecken und versuche, nicht immer nur den eigenen Willen durchsetzen zu wollen.

Schott: In Bezug auf die Managergehälter verweisen deutsche Manager oft auf die hohen Bezüge ihrer amerikanischen Kollegen. Ein solcher Vergleich ist kein rationales Argument. Man darf Gehaltsforderungen niemals von der eigenen Leistung entkoppeln. Deshalb ist es sehr wichtig, sich selbst zu erkennen und regelmäßig die eigenen Stärken und Schwächen zu analysieren.

mm.de: Was hat ein Manager zu befürchten, der ein zu hohes Gehalt verlangt oder arrogant mit den Kollegen umspringt?

Bilgri: Wer maßlos ist, verliert an Glaubwürdigkeit und Vertrauen. Damit löst sich der Kitt eines unternehmerischen Miteinanders auf. Ich muss einer Führungskraft vertrauen können - gerade wenn unangenehme Entscheidungen getroffen werden. Unternehmen, in denen ein Klima des Misstrauens herrscht, arbeiten nicht effektiv.

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