Großraumbüros Das weiße Rauschen
Hamburg - Der Nürnberger Telekommunikationshersteller Lucent ist keines dieser anonymen Großunternehmen, in dem Mitarbeiter nur Zahlen sind und kein Kollege den anderen kennt. Im Gegenteil.
Wenn Reynaldo Zavala an seinem Schreibtisch sitzt, dann kann er sehen, welche Farbe der Pullover seines Kollegen im Nebenbüro hat. Er kann hören, mit wem der Kollege telefoniert. Und wenn dieser beim Vorgesetzten zum Rapport antreten muss, dann ist Zavala bei der Standpauke live dabei.
Denn bei Lucent angestellt zu sein heißt, in einem modernen und flexiblen Umfeld zu arbeiten, in dem es keine Barrieren gibt. Weder für das Auge noch für den Lärm. Die Wände sind aus Glas, und sie sind nur zwei Meter hoch. Das Raumkonzept ist neu, trendy und aus Amerika. "Es ist ein kompletter Schuss in den Ofen", sagt Lucent-Mitarbeiter und Betriebsratsvorsitzender Zavala.
Die Rollcontainer-Plage
Eigentlich haben die Mitarbeiter der deutschen Lucent-Niederlassung andere Sorgen, als sich um die Einrichtung ihrer Büros zu kümmern: Von ehemals 2800 Angestellten im Nürnberger Firmensitz sind nur noch 1300 übrig geblieben, weltweit hat der angeschlagene Konzern seine Arbeitsplätze von 135.000 auf 35.000 zusammengestrichen.
Doch seit Mitte der neunziger Jahre ist über deutschen Büros eine Plage hereingebrochen, die die Angestellten nervt: Neue, "offene" und superflexible Büroformen aus den USA wie das "Desk-Sharing" sollen die Arbeitswelt revolutionieren.
Der Mitarbeiter sitzt dabei nicht mehr in einer abgeschotteten Einzelzelle, sondern im Großraumbüro. Eigene Schreibtische sind verpönt, mit stündlich wechselnden Projekten soll auch der Angestellte mit seinem Arbeitsplatz superflexibel sein und schnell umziehen können - und sich Tisch und Stuhl mit den Kollegen teilen. In Rollcontainern schiebt er sein Büro-Hab und Gut vor sich her, in der Hosentasche steckt das mobile Kommunikationssystem.
Auf den ersten Blick klingt das Konzept gut: Einerseits sparen die Unternehmen so die Kosten für Bürofläche und Arbeitsplatz, andererseits können sie jederzeit schnell umziehen. Zudem sind die Kollegen gezwungen, mehr miteinander zu kommunizieren. Mehr Kommunikation gleich höhere Effizienz gleich maximale Produktivität. So weit die Theorie.
Ohne Kopfhörer geht nichts mehr
Ohne Kopfhörer geht nichts mehr
In der Praxis erschöpft sich die Flexibilität bei Lucent in den zehn Zentimeter längeren Tischen der Chefs. Anfangs plante die Geschäftsführung auch "Desk-Sharing" einzuführen, "doch das hat sich ziemlich schnell erledigt", sagt Zavala - bei der irrenden Suche durchs Büro nach einem Platz zum Arbeiten verloren die Mitarbeiter einfach zu viel Zeit. Nun hat jeder wieder seinen eigenen Schreibtisch, der in genormten, durchsichtigen "Cubicals" steht, deren Wände aus Glas sind, nur zwei Meter hoch.
Doch das ist gar nicht nötig, denn auch so sieht und hört man sich hervorragend. Zwei Wochen nachdem das System installiert war, mussten Kopfhörer mit Mikrofonen für die Telefone angeschafft werden, denn niemand konnte mehr seine Geschäftspartner am Hörer verstehen - der Lärm war einfach zu groß. Telefonkonferenzen geben dann der Konzentration den Rest. Produktivitätsgewinn? "Bestimmt nicht", winkt Zavala ab.
Das mittlere Management sitzt zwar in Kabinen deren Glaswände bis an die Decke reichen. Doch die Wände stehen auf einem doppelten Boden, dessen Hohlraum perfekt den Schall überträgt. Wer beim Chef vorbeiläuft, der hört ihn auch, egal ob dessen Schiebetür offen oder geschlossen ist.
Das offizielle Statement von Martina Grüger, Lucent-Sprecherin, dazu: "Die meisten Mitarbeiter können sehr gut mit dem System leben und schätzen die offene Kommunikation, die es ermöglicht."
"Zuweilen gibt es Engpässe"
Auch die IBM-Angestellten in der Stuttgarter Hauptverwaltung haben so ihre Probleme mit dem vor drei Jahren eingeführten "E-Place"-System, dass für die 3500 Beschäftigten nur 2500 Schreibtische im Großraumbüro vorsieht.
Diese bieten zwar Steckerleisten, an denen sich der mobile IBMer mit dem Laptop einstöpseln und mit Hilfe des mobilen Kommunikationsgeräts arbeiten kann - doch oft ist es auch bei IBM dafür zu laut. "Die häufig stattfindenden Telefonkonferenzen werden als sehr störend empfunden", schreibt IBMer Albert Stagl in der von der IG Metall herausgegebenen IBM-Mitarbeiterzeitschrift "Dialog".
Zudem ist zu Spitzenzeiten, wenn die Monatsabschlüsse angefertigt werden, das Büro voll, berichten Mitarbeiter - immer mal wieder finde dann mancher keinen Sitzplatz mehr und könne gleich wieder nach Hause fahren. "Zuweilen gibt es Engpässe", sagt der für IBM zuständige Verdi-Vertreter Peter Schrader.
Wettlauf um das "Handy of the Day"
Was bei IBM und Lucent das "Büro der Zukunft" sein soll, ist in den USA schon längst wieder Vergangenheit. Dort wurde Mitte der neunziger Jahre die "digitale Revolution" ausgerufen - die auch für die Bürolandschaften und Arbeitswelten extreme Auswirkungen hatte. Computer würden alles verwalten, so das Credo, das spare Platz ein und ermögliche den flexiblen Angestellten.
Doch es kam anders: Das klassische Einzelbüro mit Tür zum Gang ist in den USA nach wie vor Standard, auch deutsche Firmen sind vom Großraumbüro nicht begeistert. Dessen Anteil betrage nicht mal ein Viertel der insgesamt vermieteten Büroflächen, berichtet Diana Wojahn aus der Geschäftsführung der Maklerfirma Engel & Völkers. Da zwischen fünf bis zehn Prozent der Arbeitsfläche eingespart werden könnten, würden sich anfangs viele Firmen auch für die flexiblen Großraum-Pläne interessieren. "Doch dann mieteten sie die konventionellen Sachen."
Nicht ohne Grund: Als die Unternehmensberatung Kienbaum kürzlich 430 Jungmanager über ihre Vorstellung vom optimalen Arbeitsplatz befragte, wünschten sich diese vor allem "viele Pflanzen" - Desk-Sharing und Großraumbüros hielten genau null Prozent für erstrebenswert. Die Mehrheit will ein Einzelbüro.
"Desk-Sharing ist auf keinen Fall etwas für jede Firma", gibt Dieter Jäger zu, der als Geschäftsführer der Hamburger Unternehmensberatung Quickborner Team bereits Arbeitsplätze bei Konzernen wie Siemens oder PriceWaterhouseCoopers zu flexiblen Desk-Sharing-Plätzen umgerüstet hat. Vor allem Unternehmen, deren Mitarbeiter hauptsächlich im Außendienst unterwegs seien, könnten davon profitieren.
Wettlauf um das "Handy of the Day"
Ist bei IBM nicht allzu viel los, klappt das auch meistens: 30 Prozent der deutschlandweit 6000 IBMer arbeiten mittlerweile nach dem "Desk-Sharing"-Prinzip und sind meist ganz zufrieden damit, berichtet der Gesamtbetriebsrat. Es sind vor allem IT-Außendienstler, die per Laptop und Internet oft von zuhause und unterwegs arbeiten und in manchen Wochen nur an einem Tag in die Firma kommen. Die Zeiterfassung wurde bei IBM abgeschafft, die Angestellten arbeiten rein ergebnisorientiert. Im Büro sitzen sie entweder in "Quiet-Rooms" für konzentriertes Arbeiten, speziellen Räumen für Besprechungen oder am Schreibtisch.
Beim Außendienst kommt auf zehn Beschäftigte nur ein Schreibtisch im Büro, nur 150 Mitarbeiter haben überhaupt noch einen eigenen Arbeitsplatz. Die Geschäftsleitung veranschlagt für einen Arbeitsplatz 7500 Euro im Jahr - doch die Schreibtische seien nur zu maximal 75 Prozent ausgelastet gewesen. Denn neben dem Außendienst sind auch IBMer mal krank, müssen auf Schulungen und machen Urlaub. Das Konzept unterstellt, dass stets etwa 20 bis 40 Prozent der Beschäftigten nicht anwesend sind.
Wer das flexible Großraumbüro einführen wolle, der müsse im Vorfeld eine professionelle Organisation hinlegen, sagt Desk-Sharing-Experte Dieter Jäger. Wenn die Geschäftsleitung - wie bei Lucent - das Konzept von oben nach unten durchdrücke, sei das Scheitern programmiert.
Das beste Beispiel liefert dafür der Fall der US-Werbeagentur TBWA Chiat/Day, über den das US-"Wired Magazine" berichtet. Chefwerber Jay Chiat sah sich als Messias einer neuen, hyper-flexiblen Arbeitswelt. Chiat wollte seinen Mitarbeitern "Gewohnheiten" austreiben: Wer sich an zwei aneinanderfolgenden Tagen an denselben Tisch setzte, musste diesen räumen und sich einen neuen suchen. Weil die Anzahl der Handys aus Motivationsgründen streng limitiert war, standen manche Angestellte Tag für Tag morgens um sechs auf, um sich ihr "Handy of the Day" zu sichern - und legten sich danach wieder schlafen.
Chiats Mission scheiterte nach sechs Jahren kläglich - mittlerweile arbeitet in der Werbeagentur keiner in der ehemals so hippen Büroform. Bei Lucent hingegen haben sich die Angestellten ihrem Schicksal ergeben.
Weil nach der Einführung des modernen Raumkonzepts bald im Büro ein Lärmpegel wie auf der Baustelle herrschte, ließ die Geschäftsführung weiße "Rauschgeneratoren" einbauen, die den Lärm schlucken sollten. Nach zwei Wochen schalteten die Mitarbeiter die teuren Geräte wieder ab - das "irre Rauschen" hatte den Lärm ins Unerträgliche gesteigert.