Zur Ausgabe
Artikel 52 / 124

Inzestuöses System

Die Skandale der vergangenen Wochen erschütterten die Bundesrepublik. Warum hat keiner der Mitwisser den Mund aufgetan?
aus manager magazin 3/2000

VON HERMANN SIMON

Das System Deutschland, die innigliche Verbindung von Industrie und Politik, taumelt, ist stehend k. o. Schwarze CDU-Kassen, undurchdringlicher Filz in Düsseldorf und Hannover, Rücktritt eines Ministerpräsidenten, ein diskreditierter Bundespräsident, Holzmann-Rettung - alles Facetten dieses Systems. System Deutschland heißt, dass wir zusammenhalten wie Pech und Schwefel.

Wenn es um die Partei geht oder die Region oder die Verteidigung eines deutschen Starunternehmens wie Mannesmann gegen Feinde aus dem Ausland, dann stehen Politik, Gewerkschaften, Arbeitgeber geschlossen wie ein Mann. Ein ausländischer Gesprächspartner nennt das ganze ein "inzestuöses System". Das "Wall Street Journal Europe" fordert, das "gesamte deutsche System auf den Prüfstand zu stellen".

Ist der Skandalfall groß genug, dann raufen sich Bundeskanzler und Banken zu einem fragwürdigen Lösungspakt zusammen, bei dem die Prinzipien der Marktwirtschaft und die Gleichbehandlung ohne Bedenken über Bord gehen. Das Wohl der Partei zählt bei höchstrangig honorigen Amtsträgern mehr als die Gesetze, deren Zustandekommen sie selbst betrieben und auf deren Einhaltung sie scheinheilig pochten. Quer durch die Parteien ist nicht zu erkennen, dass Politiker auch nur die geringsten Hemmungen hätten, lockende Vorteile zu ihren persönlichen Gunsten zu nutzen. Lügen gehören wie selbstverständlich zum Alltagsgeschäft.

Natürlich darf man nicht alles naiv in einen Topf werfen, zwischen den Vorfällen gibt es Unterschiede. Dennoch fallen Gemeinsamkeiten ins Auge, die das System Deutschland definieren.

m Es gibt offenbar eine weit verbreitete Kumpanei des Stillschweigens, die sogar verhindert, dass gravierendes Fehlverhalten und Rechtsbrüche aufgedeckt werden.

m Prinzipien wie Marktwirtschaft, Nichteinmischung der Politik, Anstand, saubere Finanzierung der Parteien - das alles zählt nichts, wenn es gerade nicht in den Kram passt.

m Auf Seiten der Verantwortlichen beobachten wir nach der Verletzung von Prinzipien oder der Aufdeckung von Fehlverhalten kaum Scham, peinliches Berührtsein oder so etwas wie Reue.

Betrachten wir die Sachverhalte näher. In allen Skandalfällen müssen dutzende von Beteiligten - Manager, Mitarbeiter, Geschäftspartner, Wirtschaftsprüfer, Banker - von den Fakten gewusst haben. Es ist völlig unglaubhaft, dass die Mauscheleien all diesen Personen entgangen sind. Doch keiner der vielen Wissenden hat die Reißleine gezogen, keiner hat den Mund aufgetan. Das ruft fatale Erinnerungen wach. Was schlummert angesichts einer solchen Schweige- und Feigheitskultur noch alles unter der Fläche der Sichtbarkeit?

Nun zur Beachtung von Prinzipien: Führwahr, der CDU-Skandal übertrifft in dieser Hinsicht jede Vorstellungskraft. Doch auch in den weniger gravierenden Fällen herrscht Beliebigkeit. Prinzipien gehen schnell über Bord, wenn sich einem Politiker eine "Chance" wie Holzmann bietet. Er kann dabei kaum verlieren. Leider reflektiert dieses Verhalten die Präferenzen oder das Unverständnis weiter Teile der Gesellschaft.

Gravierend gegen marktwirtschaftliche Prinzipien verstieß auch die anfängliche Einmischung der Politiker im Fall Mannesmann-Vodafone. Auch hier wurden die Grundsätze sofort vergessen, als es politisch opportun schien, Partei zu beziehen.

Mannesmann-Vorstand und -Aufsichtsrat hatten selbstverständlich das Recht, sich mit den Mitteln des Wettbewerbs gegen eine aus ihrer Sicht unerwünschte Übernahme zu verteidigen. Das entspricht den Spielregeln. Politiker haben dieses Recht nicht. Wenn sie aus einer solchen Situation, unter Nutzung nationaler Ressentiments, Kapital zu schlagen versuchen, dann ist das eine üble Sache. Geschädigt wird letztlich der Standort Deutschland.

Man kann diese Angelegenheit aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchten. Zum einen per Umkehrung der Sichtweise: Was hätten wir gesagt, wenn Präsident Clinton in ähnlicher Weise gegen die Übernahme von Chrysler durch Daimler oder Bankers Trust durch die Deutsche Bank gezetert hätte? Oder der britische Premierminister gegen BMW-Rover, Deutsche Telekom-One 2 One und Mannesmann-Orange?

In diesen Fällen erwarten wir, dass sich die ausländischen Politiker gefälligst zurückhalten. Im Übrigen offenbart gerade dieser Fall die Machtlosigkeit der Politiker. Prompt gibt es dann wieder Bestrebungen, Übernahmen von Unternehmen gesetzlich zu regeln statt das dem Markt zu überlassen. Wann endlich lernen diese Herrschaften?

Wenn ausländische Unternehmen in deutsche Firmen investieren wollen, ist dies ein gutes Zeichen. Wer dies abwehrt, der behindert den Zufluss ausländischen Kapitals, das zur Anhebung der Börsenwerte deutscher Unternehmen dringend notwendig ist.

Hier berühren wir eine tiefere Ursache des Problems: Selbst ein Starunternehmen wie Mannesmann ist mit 144 Milliarden Euro (Stand: 1. 2. 2000) im internationalen Vergleich bescheiden bewertet - und wird damit zur Beute von Firmen, die auf Grund einer höheren Börsenkapitalisierung die Preise für deutsche Unternehmen mit eigenen Aktien bezahlen können. Und diejenigen deutschen Firmen, die sich gegen solche unwillkommenen Übernahmen geschützt wähnen (etwa weil sie wie Bertelsmann oder Bosch einer Stiftung angehören), kaufen sich mit dieser Eigentümerkonstruktion massive Nachteile ein. Sie können kein eigenes Geld, sprich Aktien, drucken, um im internationalen Übernahmepoker mitzuhalten. Sie müssen "Cash" zahlen. Schutz gegen Übernahmen gibt es nur um den Preis eigener "Armut". Bertelsmann kann AOL-Time Warner nur freundlich grüßen. Die Mannesmann-Übernahme hat eine Dimension, gegen die die deutsche Wirtschaft insgesamt klein erscheint. Die gesamten 70 M-Dax-Unternehmen hätten mit 117 Milliarden Euro deutlich weniger gekostet als die rund 180 Milliarden Euro, die Vodafone zahlt.

Die Zeiten des Systems Deutschland und der nationalen Unternehmensidentitäten sind vorbei. Mannesmann hatte ohnehin längst aufgehört, ein "deutsches" Unternehmen zu sein. Wir alle - und erst recht die Politiker - sollten Abschied nehmen von den veralteten Vorstellungen des Systems Deutschland; von Zeiten, in denen Firmen Nationalitäten zugemessen wurden und sich Verteidigungslinien gegen den externen Feind formierten. Wenn das nicht alle Beteiligten sehen, rutscht das Land in einen Koloniestatus ab. Das System Deutschland führt ins Abseits.

Nur Offenheit, Willkommensgrüße für ausländisches Kapital und die Bewährung an internationalen Kapitalmärkten zeichnen den Weg in die Zukunft. Der Kapitalmarkt ist ein strenger Aufseher, für nationale Bollwerke lässt er keinen Platz. Diejenigen Länder, die internen Systemen und Kungeleien den Vorzug geben (ein Beispiel ist Frankreich), schaden sich langfristig nur selbst.

Die dritte Ursache reicht tiefer. Sie hat mit Moral, genauer mit doppelter Moral zu tun. Wenn ein Bundeskanzler schwarze Konten führt, so ist das unglaublich - genau so seine nachhaltige Uneinsichtigkeit. In vielen Ländern werden strengere Maßstäbe an Spenden, die Annahme von Geschenken, an die Anerkennung "nützlicher Nebenabgaben", an wettbewerbswidriges Verhalten gelegt als in Deutschland. Wenn es international Verstöße gegen Wettbewerbsregeln gibt, sind auffällig oft deutsche Unternehmen beteiligt.

Das muss sich ändern. Dieses Verhalten ist Ausdruck eines falsch verstandenen Gruppenzusammenhalts etwa nach dem Muster: "Wenn wir das im Ausland tun, ist es nicht so schlimm." Solche diffamierenden Differenzierungen, die implizit im System Deutschland gedeihen, sollten wir endgültig ad acta legen.

Das System Deutschland gehört abgeschafft. Konkret erscheinen die folgenden Änderungen wünschenswert:

m Die ethischen Maßstäbe müssen in Politik und Wirtschaft höher gelegt werden. International sollten wir uns dabei nicht an den vielen schlechten, sondern an den wenigen guten Beispielen orientieren, so wie man es beim Benchmarking zu tun pflegt.

m Wir sollten Abschied nehmen von der oft falsch verstandenen Gruppenkohäsion, die zu kontraproduktivem Verhalten nach innen (Schweigen) wie nach außen (Abwehr) führt.

m Die Märkte, vor allem die Kapitalmärkte, sind nicht nur zu öffnen (das ist weitgehend geschehen); sie müssen auch tatsächlich den Ausschlag geben, ohne dass nach der jeweiligen Opportunität Prinzipien über Bord gehen und politisch interveniert wird.

m Um das alles zu erreichen, ist eine stärkere internationale Durchmischung des Managements angezeigt. Je mehr Ausländer wir in Führungspositionen bringen, desto offener und kritikfähiger werden unsere Systeme, desto besser sind wir für die Zukunft gerüstet.

Der Abschied von nationaler Geborgenheit fällt nicht leicht. Das System Deutschland ist k. o. Verabschieden wir es. Für immer. u

Mehr lesen über

Zur Ausgabe
Artikel 52 / 124
Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren