
Ilham Kadri
Foto: AFPEs gibt Momente, in denen Ilham Kadri ein wenig klingt wie Greta Thunberg. "Wir sind die letzte Generation, die den Luxus hat, eine Wahl zu treffen", sagte die 50-Jährige auf großer Bühne in Brüssel. "Treffen wir diese Wahl für unsere Kinder." Wenn alle Menschen den Ressourcenverbrauch des Westens hätten, dann "bräuchten wir zwei bis vier Erden". Die dramatischen Worte im Mai dienten einem "Mobilisierungsappell": "Wir sind nie genug, unsere Vielzahl macht uns stark."
Doch Kadri ist keine Aktivistin, jedenfalls nicht hauptsächlich. Seit März führt die gebürtige Marokkanerin den belgischen Chemiekonzern Solvay. Die Personalie wurde mit dem "Kulturwandel" des Global Players begründet, der sich von Massenprodukten wie PVC, Nylon oder Zigarettenfiltern verabschiedet und sich profitablerer Spezialchemie für Kunden von Apple bis Airbus zuwendet. Kadris Vision allerdings geht weit darüber hinaus. Sie werde "verblüffen", versprach sie zum Antritt.
Ihr Appell fand Gehör. An diesem Donnerstag übergibt die Initiative CSR Europe den von Kadri angestoßenen Aufruf für einen "New Deal für Europa" an die Präsidenten der EU-Institutionen: Kommission (Ursula von der Leyen), Rat (Charles Michel) und Parlament (David Maria Sassoli).
Fast 400 Topmanager haben unterschrieben, laut CSR-Europe-Generalsekretär Stefan Crets ist es "die größte Gruppe von CEOs, die jemals gemeinsam in Europa mobilisiert wurde". Patrick Pouyanné vom Ölkonzern Total ist dabei und Ana Patrícia Botin, die Matriarchin der Bank Santander. Aus Deutschland finden sich vergleichsweise wenige Namen, aber immerhin Hochkaräter wie Jennifer Morgan und Christian Klein (SAP), Martin Brudermüller (BASF), Johannes Teyssen (Eon) oder Rolf Martin Schmitz (RWE).
Allzu kontrovers ist das Schreiben bei dieser Breite naturgemäß nicht. Bei der EU dürfte die Chef-Bewegung offene Türen einrennen; in der kommenden Woche will von der Leyen ohnehin ihren eigenen Plan für einen "European Green Deal" vorstellen, und sie muss auch keine konkreten Forderungen von Kadris Seite beantworten. "WIR müssen verantwortlichere Wachstumsmodelle entwickeln", richtet Kadri die zentrale Aufforderung an sich und ihre Managerkollegen.
Umso ambitionierter ist dafür das Themenspektrum des Appells. Neben dem Klimaschutz will er Nachhaltigkeit ganz allgemein befördern, Kreislaufwirtschaft und sozialen Zusammenhalt. Ilham Kadri nennt auch die wirtschaftliche Ungleichheit, den Vertrauensverlust der Bürger in Institutionen wie Unternehmen und den zunehmenden Nationalismus als Motivation für ihren Aufruf.
Sie wolle eine positive Leitidee für Europa, die von Unternehmern, Politikern und Zivilgesellschaft gemeinsam verfolgt werden könne. Kaum jemand sprüht heute noch so vor EU-Begeisterung wie Kadri, die in bescheidenen Verhältnissen in Casablanca aufwuchs, Europa erstmals nach ihrem Schulabschluss betrat und einen Großteil ihrer Berufskarriere in Nahost oder Nordamerika verbrachte.
Die marokkanische Großmutter und "unsichtbare Heldinnen" als Leitfiguren
Oft zitiert Kadri ihre Großmutter Fatima, die sie großzog: "Im Leben eines Mädchens gibt es meist zwei Türen, durch das es gehen kann: Die eine führt ins Haus des Ehemanns, die zweite ins Grab. Finde deine dritte Tür!" Für sie bot Bildung diese dritte Tür, weshalb sie später Initiativen für Mädchenbildung und Karrierenetzwerke für Naturwissenschaftlerinnen aufbaute.
Als promovierte Chemikerin entwickelte Kadri mit einem Team bei Shell neue Verschlüsse für Flaschen, um die Ausbreitung von Pilzen und Bakterien zu verhindern. Hygiene - was den meisten Europäern nicht schnell beim Thema Nachhaltigkeit einfällt - ist ein wiederkehrendes Motiv. Auch da gibt es eine biografische Note. Kurz vor dem Abitur erkrankte sie an Typhus, mutmaßlich wegen der schlechten Wasserversorgung im Viertel Maarif. Noch zu ihrer Kindheit hatten sie überhaupt kein fließendes Wasser und Strom im Haus.
In ihrer vorigen Station als Managerin, an der Spitze des US-Putzmittel- und -maschinenherstellers Diversey, konnte Ilham Kadri so eine sinnstiftende Botschaft vermitteln: "Wir verkaufen keine Seife, wir retten Leben." Den Kunden wie Krankenhäusern oder Hotelketten gab sie Tools, wie sie den Einsatz ihrer Putzmittel sparen können - und bei alldem schaffte sie noch die Wende vom Sanierungsfall zu soliden Profiten. Als der Finanzinvestor Bain einstieg, hatte sich die Bewertung verdreifacht.
Vor allem im Marketing brilliert die Marokkanerin. Als Diversey-Chefin ließ sie sich auch beim Schrubben von Toiletten fotografieren und feierte Putzfrauen als "unsichtbare Heldinnen".
Für die Solvay-Leute, die sie auf den Chefsessel des sehr traditionsbewussten Familienunternehmens hoben, gaben "ihr Managementstil, ihre Fähigkeit zur Umwandlung des Unternehmens, ihre Persönlichkeit" den Ausschlag, wie Amparo Moraleda vom Nominierungsausschuss des Aufsichtsrats "Le Monde" sagte.
Solvay wird auch nach 150 Jahren noch von den in mehrere Stämme aufgeteilten Erben der Gründerbrüder Ernest und Alfred kontrolliert. Der Nimbus der elitären Mäzene lebt in den Solvay-Konferenzen, wo schon Albert Einstein, Niels Bohr und Marie Curie die zentralen Fragen von Physik und Chemie diskutierten. Erstmals steht eine Frau an der Spitze, erstmals eine Nicht-Europäerin, erstmals eine ohne Abschluss einer Elitehochschule.
Für Ilham Kadri aber schließt sich ein Bogen. Ihren ersten Job hatte sie vor 30 Jahren als Schülerpraktikantin bei Solvay. Im ostfranzösischen Tavaux untersuchte sie den Fluss, in den das riesige Chemiewerk seine Abwässer leitet. Das Thema Nachhaltigkeit wird wohl ihr Lebensthema.