Bilanz 2022 Das E-Bike fährt die deutsche Fahrradindustrie aus dem Tal

Die Deutschen haben im Jahr 2022 weniger Fahrräder gekauft, Hersteller und Händler fuhren dennoch einen Umsatzrekord ein – das E-Bike machte es möglich. 2023 wird es das herkömmliche Fahrrad beim Absatz wohl überholen.
Elektrisch unterwegs: Immer mehr Menschen in Deutschland kaufen ein E-Bike, zur Freude der Branche

Elektrisch unterwegs: Immer mehr Menschen in Deutschland kaufen ein E-Bike, zur Freude der Branche

Foto: Daniel Reinhardt / dpa

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Nach der überraschenden Insolvenz des Herstellers Prophete , massiven Lieferkettenproblemen, dann vollen Lagern und in der Konsequenz deutlichen Preisnachlässen für Fahrräder fragen sich seit Wochen nicht nur die Aficionados unter den Cyclisten: Wie ist es der Branche im vergangenen Jahr ergangen, wie sind ihre Aussichten? Der Zweirad-Industrie-Verband (ZIV ) und der Handelsverband Zweirad (VDZ ) als Vertreter des Fachhandels zeichneten dabei am Mittwoch ein überraschend positives Bild und blickten trotz großer Lagerbestände optimistisch nach vorn.

Angesichts der teils großen Probleme, mit denen Hersteller und Handel 2022 zu kämpfen hatten, hat sich die Branche insgesamt achtbar geschlagen. Die Inlandsproduktion kletterte von rund 2,4 auf 2,6 Millionen Fahrräder – dabei verließen 1,72 Millionen oder 20 Prozent mehr E-Bikes (Pedelecs) die Montagehallen. Die Zahl der produzierten Fahrräder ohne Motor verharrte dagegen bei 0,9 Millionen. Damit wurden im vergangenen Jahr etwa sechsmal so viel Pedelecs in Deutschland produziert wie noch 2015 (siehe Bildergalerie).

"Wir gehen davon aus, dass im Verlauf dieses Jahres erstmalig mehr E-Bikes als unmotorisierte Fahrrädern verkauft werden"

ZIV-Geschäftsführer Burkhard Stork

4,6 Millionen Fahrräder schlugen Händler über alle Vertriebswege im Jahr 2022 los – und damit 100.000 weniger als im Vorjahr. Fast jedes zweite (48 Prozent) verkaufte Bike war ein Pedelec. "Wir gehen davon aus, dass im Verlauf dieses Jahres erstmalig mehr E-Bikes als unmotorisierte Fahrräder verkauft werden", erklärte ZIV-Geschäftsführer Burkhard Stork.

In einigen Produktgruppen wie Mountainbikes oder Lastenrädern dominieren mittlerweile Elektromotoren statt Muskelkraft den Vortrieb. Nicht, dass man beim E-Bike seine Beine nicht mehr bräuchte, aber deutsche Fahrradfahrer(innen) mögen es zusehends bequemer.

Deutsche Fahrradfahrer(innen) mögen es bequem

Verlassen sich die Puristen lieber auf ihre Muskelkraft und stehen elektrisch unterstützten Bikes oft kritisch gegenüber, profitiert die Branche gleichwohl von dieser Entwicklung: Der Verkaufswert aller Fahrräder kletterte im vergangenen Jahr wegen des wachsenden Anteils an teureren E-Bikes um 12 Prozent auf 7,36 Milliarden Euro. "Das ist ein neuer Umsatzrekord", hob ZIV-Chef Stork am Mittwoch hervor.

Von 10 bis 20 Prozent mehr Umsatz mit E-Bikes berichtet nach ersten Hochrechnungen auch der Handelsverband Zweirad (VDZ), während jener mit unmotorisierten Bikes um bis zu 12 Prozent sank. Insgesamt dürften die Erlöse des Fachhandels samt angeschlossenen Werkstätten um 8 bis 10 Prozent gestiegen sein. Absolute Zahlen nannte VDZ-Chef Thomas Kunz nicht. Der Trend zum E-Bike mit seinen regelmäßigen Inspektionen und Wartungsintervallen sorgt zugleich für eine stärkere Auslastung der Werkstätten, deren Umsätze im vergangenen Jahr laut Kunz um rund 10 Prozent kletterten.

E-Bikes treiben Umsatz im Verkauf und Werkstätten

Die Wirkung des E-Bike-Trends verdeutlichen auch andere Zahlen: Der durchschnittliche Verkaufspreis aller Fahrräder über alle Vertriebskanäle erhöhte sich laut ZIV auch deshalb um mehr als 200 auf 1602 Euro im vergangenen Jahr, weil sich vor allem die Preise für E-Bikes um 150 auf 2800 Euro im Schnitt erhöhten. Zum Vergleich: Im Jahr 2019 hatte ein E-Bike durchschnittlich rund 930 Euro gekostet. Im Fachhandel wiederum kostete im vergangenen Jahr ein E-Bike 3570 Euro im Schnitt – die statistisch beachtliche Differenz begründeten Stork und Kunz mit dem weiter gefassten Sortiment und allen Vertriebswegen, die in die Statistik des Industrieverbandes mit einflossen.

Fotostrecke

Die Deutsche Fahrradindustrie 2022 in Zahlen

Foto: ZIV

Die Vermutung, dass Handel und Hersteller den Hype um elektrisch unterstützte Fahrräder jetzt womöglich ausnutzten, wollte Stork so nicht stehen lassen. "Es ist nicht so, dass E-Bikes einfach immer teurer würden. Der Kunde bekommt heute auch mehr Rad fürs Geld", sagte der Branchenvertreter. Zugleich fragten die Kunden höherwertige Komponenten etwa bei Schaltung oder Bremsen nach, wünschten sich die Verbraucher zudem starke Akkus, gute Federung, ansprechendes Design und vor allem eine lange Lebensdauer ihrer Fahrräder.

"Das Fahrrad wächst schon seit geraumer Zeit aus der Rolle eines reinen Transportmittels heraus und in die eines begehrten Konsumprodukts hinein", sagte kürzlich auch Thorsten Heckrath-Rose, Co-Geschäftsführer von des Premium-Herstellers Rose Bikes im Gespräch mit manger magazin .

Volle Läger, aktuell sinken die Preise

Konnten im vergangenen Jahr die Hersteller hunderttausende Räder nicht montieren , weil wichtige Teile aus Asien fehlten, gehören die Lieferkettenprobleme nun der Vergangenheit hat, sagte Stork. Die Läger bei den Herstellern und Händlern seien prall gefüllt. Die Zeit der ebenfalls pandemiebedingt hohen Kosten in der Vorproduktion für Rohstoffe und Transport hätten sich entspannt. Händler und Hersteller würden die Preisvorteile an die Kunden weitergeben (die Analyse dazu lesen sie hier). Was den Kunden erfreuen mag, treibt den Händlern die Sorgenfalten in die Stirn. So berichtete VDZ-Chef Kunz von "Abverkäufen mit relativ großen Preisnachlässen" auch im Fachhandel. Diese Entwicklung halte aktuell noch an.

Nach wie vor importiert Deutschland mehr Fahrräder und E-Bikes als es im Inland selbst herstellt: 4,43 Millionen (+300.000) waren es im vergangenen Jahr. Etwas mehr als die Hälfte der knapp drei Millionen importierten Fahrräder ohne E-Motor stammt aus Asien. Zugleich liefert die Region 27 Prozent der rund 1,45 Millionen von Deutschland importierten E-Bikes, aus EU-Ländern kommt 69 Prozent der importierten Pedelecs.

Auf Nachfrage erklärt der Zweirad-Industrie-Verband, dass deutsche Hersteller rund 780.000 Fahrräder und E-Bikes im europäischen Ausland in eigenen Werkstätten produzieren lassen. Die meisten dieser Bikes würden wieder nach Deutschland importiert. Das heißt: Unter dem Strich haben deutsche Hersteller im In- und Ausland insgesamt 3,38 Millionen Fahrräder und E-Bikes produziert.

"Wir gehen davon aus, dass es aktuell keine massive Verlagerung der Produktion nach Europa geben wird"

ZIV-Geschäftsführer Burkhard Stork

Angesichts der zunehmenden Konflikte des Westens mit China und der massiven Lieferprobleme während der Pandemie hatte die Branche im vergangenen Jahr viel darüber diskutiert, ob Hersteller und Komponentenhersteller ihre Produktion stärker aus Asien heraus verlagern sollten. Schließlich wird ein Großteil der Fahrradrahmen und Komponenten immer noch in Taiwan, China und anderen Ländern Asiens produziert. "Wir gehen davon aus, dass es aktuell keine massive Verlagerung der Produktion nach Europa geben wird", erklärte ZIV-Chef Stork. Der Industrieverband erwarte aber, dass die Produktion in Europa langfristig weiter an Bedeutung gewinnen werde.

Auch wenn das Jahr 2023 für die Fahrradbranche "ein schwieriges Jahr"  werde, wie der ZIV-Chef kürzlich gegenüber manager magagzin einräumte, sehen Hersteller und Händler gleichwohl zuversichtlich in die Zukunft. Denn auch die Politik setze auf eine neue, CO2-ärmere Mobilität der Menschen. Das Fahrrad werde hier einen wichtigen Beitrag dazu leisten, sind die Branchenvertreter überzeugt.

"Zwei Drittel aller Alltagswege der Menschen in Stadt und Land lassen sich mit dem Fahrrad oder dem E-Bike problemlos bewältigen. Die Fahrradbranche stellt das Massenverkehrsmittel der Zukunft zur Verfügung", so Stork. Jetzt müsse die Politik liefern und die im Koalitionsvertrag vorgesehenen Milliarden für den Ausbau der Radverkehrsinfrastruktur auch investieren.

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