Walter Sinn

Wirtschaftsdeutschland nach dem Coronavirus "Rules, tools and fools" - was Topmanager aus der Krise lernen müssen

Walter Sinn
Ein Gastbeitrag von Walter Sinn
Die Corona-Krise verlangt von Gesellschaft und Unternehmen eine enorme Anpassungsleistung. Topmanager lernen gerade aus den Erfahrungen des Lockdowns. Wer strategisch, klug und mutig agiert, wird stärker aus diesen schwierigen Zeiten hervorgehen.
Die Corona-Krise ist Katalysator für große Veränderungen auch in Unternehmen: mehr Homeoffice, mehr Digitalisierung, weniger Dienstreisen, schnellere Führung - um nur einige Beispiele zu nennen.

Die Corona-Krise ist Katalysator für große Veränderungen auch in Unternehmen: mehr Homeoffice, mehr Digitalisierung, weniger Dienstreisen, schnellere Führung - um nur einige Beispiele zu nennen.

Foto: Lauren DeCicca/ Getty Images

Covid-19 hat die ganze Welt in kürzester Zeit zu radikalen Anpassungen gezwungen. 97 Prozent der CEOs, die Bain kürzlich befragt hat, gehen davon aus, dass es aufgrund der Pandemie zu spürbaren Veränderungen in den betrieblichen Abläufen kommen wird. Überraschend jedoch ist, dass immerhin 42 Prozent der Manager erklären, sie wollten auch mittel- bis langfristig "signifikante und systematische Veränderungen" in ihren Unternehmen vornehmen. Topmanager lernen gerade aus den Erfahrungen des Lockdowns. Sie erkennen den Nutzen von kleineren Teams, von mehr Experimenten und weniger Komplexität sowie von mehr virtueller Kommunikation und weniger Dienstreisen, sehen aber auch die Vorteile des Abbaus von "rules, tools and fools".

Schnelle Neujustierungen und Anpassungsfähigkeit sind derzeit oft wichtiger als der eine große strategische Wurf. Dies betrifft beispielsweise die Art, wie geplant oder entschieden wird. Die oft gescholtene Politik hat in der Hochphase der Pandemiebekämpfung fast jeden Tag gezeigt, wie sich flexibel auf neue Herausforderungen und Situationen reagieren lässt. Statt langfristiger Budgetplanung ist kurzfristiges Denken und Agieren in Szenarien erforderlich. Auch ein schnelleres Führungsmodell, bei dem nicht in erster Linie einmal gefasste Beschlüsse abgearbeitet werden, wird zu einem Gutteil auch in der Post-Corona-Zeit Bestand haben. Agilitätskonzepte, die schon vor der Pandemie verfolgt wurden, erhalten in Zukunft einen zusätzlichen Schub - und das deutlich.

Doch auch die Arbeitswelt wird flexibler. In den kommenden fünf bis sieben Jahren werden in Deutschland drei bis fünf Millionen Büroangestellte ihren Arbeitsplatz nach Hause verlegen. Das sind etwa 20 bis 30 Prozent der heutigen Büroarbeitsplätze. Die Auswirkungen auf die Arbeitswelt sind enorm und gehen weit über die einzelnen Firmen hinaus. Der Markt für Büroimmobilien beispielsweise wird gewaltig durchgeschüttelt werden, gleichwohl wird die Entwicklung der Innenstädte anders verlaufen. Unternehmen können sich die Büromieten insbesondere in teuren Toplagen sparen, die Baubranche wiederum wird die Ausgestaltung von Objekten neu denken müssen.

Gleiches gilt für die Digitalisierung, deren Möglichkeiten in Zukunft viel stärker genutzt werden als bisher – auch hierzulande. Bislang dauerte die Umsetzung digitaler Geschäftsmodelle oft Jahre, derzeit werden sie in einem Bruchteil der Zeit realisiert. Auf der ganzen Welt haben die Menschen in den vergangenen Monaten deutlich mehr digital kommuniziert, mehr digitale Services genutzt und auch mehr online eingekauft. Vieles davon wird bleiben und Unternehmen neue Chancen eröffnen.

Das Leben außerhalb der Metropolen wird attraktiver

Der Trend hin zu immer größeren und verdichteten Metropolen gerät ins Stocken. Kleinere Städte werden zu den Gewinnern der Post-Corona-Ära gehören. Das Bedürfnis vieler Menschen nach einem Leben im Grünen, bei dem viele Wege mit dem Fahrrad erledigt werden können, ist durch die persönlichen Erfahrungen der vergangenen Wochen und Monate deutlich gewachsen.

Neben dem häufigeren Arbeiten von zu Hause aus gibt es weitere Faktoren, die das Wohnen und Leben fern der großen Ballungszentren attraktiver machen. Die sogenannten Distanzkosten, also das Geld, das aufgebracht werden muss, um Informationen, Güter und Personen von A nach B zu bewegen, nehmen seit Jahren ab. Dagegen steigen die Kosten für urbanes Leben durch hohe Mieten, schlechte Luft und Staus. Technologien wie 5G machen es möglich, dass wieder mehr Menschen von der Großstadt in kleinere Städte oder aufs Land ziehen. Unternehmen werden sich auf diesen Wandel einstellen, der gleichzeitig viele zusätzliche Dienstleistungen und Produkte hervorbringen wird.

Eine weitere, gewaltige Post-Corona-Veränderung wird die Deglobalisierung sein. Lieferketten müssen vielerorts gänzlich neu aufgestellt werden. Gerade deutschen Produktionsunternehmen ist es in den zurückliegenden Dekaden gelungen, über komplexe Netzwerke globale Wertschöpfungsketten und Marktpräsenzen aufzubauen. Doch der plötzliche riesige Mangel an systemrelevanten Produkten wie medizinischer Schutzkleidung oder bestimmten Medikamenten könnte nun dazu führen, dass dieses Rad an vielen Stellen zurückgedreht wird. Nationale Regierungen, deren Einfluss auf die Wirtschaft durch die Rettungsprogramme zur Bekämpfung der Pandemiefolgen wächst, drängen darauf, bestimmte industrielle Schlüsselkapazitäten und Fähigkeiten wieder im eigenen Land zu haben. Zahlreiche Unternehmen werden ihre Produktionsstandorte und Lieferketten überdenken.

Die Nach-Corona-Zeit wird eine ökonomisch stärker fragmentierte Welt sein. Einer der wichtigsten Konflikte des 21. Jahrhunderts – die Auseinandersetzung zwischen den USA und China – befindet sich erst am Anfang. Der alte Kontinent steht am Scheideweg. Nur ein stärker integrierter Wirtschafts- und Werteraum Europa mit dem Gewicht von 450 Millionen Menschen kann den Supermächten USA und China in Zukunft Paroli bieten. Die EU-Ratspräsidentschaft Deutschlands ist eine enorme Chance, in den kommenden Monaten die richtigen Weichen zu stellen.

Deglobalisierung und nachhaltiges Wirtschaften nehmen zu

Ein Schlüsselthema für Europa, Deutschland und Unternehmen aller Branchen wird dabei nachhaltigeres Wirtschaften sein. Die Erfahrungen aus dem Corona-Lockdown werden dem Megatrend Nachhaltigkeit einen neuen Schub verleihen. Steigende Kundenanforderungen in puncto ESG-Kriterien (Environment, Social, Governance), aber auch weniger Geschäftsreisen und stattdessen mehr virtuelles Zusammenarbeiten sind für Firmen die Gelegenheit schlechthin, ihre Geschäftsmodelle weiterzuentwickeln und gleichzeitig bei ihren Nachhaltigkeitsbemühungen einen großen Schritt voranzukommen. Heute ist es noch möglich, sich mit Nachhaltigkeit vom Wettbewerb abheben. Morgen wird Nachhaltigkeit eine unabdingbare Voraussetzung sein, um im Markt mitzuspielen.

Auf Unternehmen und Gesellschaft kommt einiges zu. In der Firmenlandschaft wird sich die Spreu vom Weizen trennen, denn die Krise wird Katalysator für zahlreiche Veränderungen sein. Der Lockdown hat in deutschen Unternehmen viel Kraft und Dynamik freigesetzt. Wer sich das behält und dabei strategisch klug und mutig agiert, wird stärker aus diesen schwierigen Zeiten hervorgehen.

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