Unternehmensführung - wer abgibt, gewinnt Kontrollverlust als Erfolgsstrategie - man muss sich nur trauen

Die meisten Unternehmen hüten ihr Erfolgsgeheimnis wie einen Schatz. Die bekannte Marke, das einzigartige Geschäftsmodell oder die bahnbrechende neue Entwicklung aus der Hand zu geben, ist für sie unvorstellbar. Dabei kann ein gewisses Maß an Kontrollverlust sogar nützlich sein.
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Die Innovationskonferenz TED hat genau das getan: Sie hat die Kontrolle über ihr eigenes Label aufgegeben - und sich damit von einer geschlossenen Eliteveranstaltung zu einer der größten Ideenplattformen der Welt entwickelt. Die Expansionsstrategie von TED-Director Chris Anderson war so kühn wie erfolgreich: Die legendären Talks stellte er kostenlos ins Netz.

Das war nicht ungefährlich, denn die Teilnehmer der immer ausverkauften Hauptkonferenz in Vancouver zahlen für die Tickets fast zehntausend Dollar. Kurz nach Ende der Konferenz kann die weltweite Webgemeinde die Vorträge kostenlos downloaden. Und das tut sie: Mehr als zwei Milliarden Mal wurden die TED-Talks angeklickt.

Judith Wallenstein
Foto: BCG

Judith Wallenstein gehört dem Partnerkreis der Strategieberatung Boston Consulting Group in Deutschland an und ist Expertin auf dem Gebiet der Sharing Economy .

Kostenfrei sind auch die Lizenzen für die Nutzung der Marke. Unter dem Namen TEDx dürfen lokale Organisatoren Events unter der TED-Label zu veranstalten. Mit etwa 30 TEDx-Events im Jahr rechneten die Verantwortlichen bei Gründung, tatsächlich hat es seit 2009 mehr als 15.000 freie Happenings in 150 Ländern gegeben. Allein 2015 waren es 3200.

Durch die Dezentralisierung der Marke und die Freigabe des Geschäftsmodells hat TED eine Reichweite und Größenordnung erlangt, die mit traditionellen Mitteln niemals möglich gewesen wäre.

Designing for loss of control - so lässt sich diese Strategie auf den Punkt bringen. Das klingt verrückter als es ist. Wenn Unternehmen plötzlich teilen, was sie bislang mit Argusaugen bewachten, kann das durchaus gewinnbringend sein. Sie können ihre Marke stärken und deren Expansion vorantreiben - oder diese manchmal überhaupt erst möglich machen.

Die hohe Kunst: Ein gewisses Maß an Chaos zulassen

Für erfolgreiche Öffnungsstrategien gibt es keine Blaupause, keine Garantie fürs Gelingen. Unternehmerische Entscheidungen bergen nun mal immer auch Risiken. Bei der Analyse von gelungenen Öffnungen - wie der von TED - lassen sich aber wiederkehrende Muster entdecken. Wesentliche Erfolgsfaktoren sind: ein starker Markenkern, klare, einfache Regeln für die Nutzung der Marke sowie eine hohe Motivation externer Partner, sich zu engagieren.

Loslassen und dabei gleichzeitig einen festen Rahmen stecken - das ist eines der vielen Paradoxa im Management, die Führungskräfte bewältigen müssen. Loss of control verlangt von Entscheidern den Mut, sich aus den erlernten Kontrollstrukturen zu lösen. "Es dauert 20 Jahre, sich einen guten Ruf zu erarbeiten, und fünf Minuten, um ihn zu ruinieren", jeder BWL-Student kennt das Buffet-Zitat.

Die Chancen der anarchischen Kreativität

Die Strategie der Abschottung von potenziellen Wettbewerbern, Top-down-Kulturen und umfassende Kontrolle in der Unternehmens- und der Markenführung sind gelernt. In der Industriegesellschaft haben sie auch funktioniert - abgesehen von teils absurden, lähmenden Kontrollmechanismen in manchen Konzernen. In der global vernetzten Wissensgesellschaft stoßen sie jedoch nun an ihre Grenzen. Hier sind Infosphären die wichtigsten Ressourcen. Die lassen sich aber nur bedingt steuern. Ihr Potenzial liegt gerade in ihrer anarchischen Kreativität.

Loss of control heißt: Ein gewisses Maß an Chaos an der Peripherie des eigenen Systems zuzulassen - nicht aber in seinem Kern. Dieser muss stabil bleiben, damit das System als Ganzes nicht kollabiert. Unternehmen, müssen deshalb zunächst genau analysieren, welche Ressourcen sie für Externe freigeben können, ohne ihre Kernkompetenzen zu verlieren oder zu gefährden.

Einfache, aber sehr klare Regeln für die Nutzung verringern die Komplexität und den Kontrollaufwand. Wichtig ist hierbei die richtige Balance zwischen der Freiheit, Unternehmensressourcen zu nutzen, und der Kontrolle, zu welchen Bedingungen dies geschieht. Bei TEDx müssen beispielsweise alle Events nach dem Vorbild der US-Mutter multidisziplinär sowie frei von Werbung und radikalen politischen oder religiösen Standpunkten sein. Alles andere können die lokalen Organisatoren selbst regeln.

Nerds als Vorbilder

Linus Torvalds stellte bereits Anfang der 1990er Jahre das Betriebssystem Linux als Open-Source-Software zur Verfügung - und schuf damit die Basis für die weltweite Verbreitung des Programms. Auch Apple  verfolgte eine geschickte Öffnungsstrategie, indem der Konzern es jedermann ermöglichte, Apps für das iPhone zu entwickeln. Der Vertrieb erfolgt allerdings ausschließlich über Apples App Store.

Und hier gelten feste Regeln, die der Konzern bestimmt. Apple kann damit auf ein unglaubliches Kreativitätspotenzial in der ganzen Welt zugreifen, hat aber den entscheidenden Einfluss auf das Wertschöpfungssystem. Die Marke profitiert von den Ideen vieler App-Programmierer, ohne dass sie beschädigt werden kann. Aus eigener Kraft hätte auch Apple diese App-Vielfalt niemals bieten können.

Die digitale Transformation führt zwangsläufig dazu, dass immer mehr Unternehmen über geeignete Öffnungsstrategien nachdenken müssen. Im Innovationsbereich sind offene Entwicklungscluster längst Standard. Auch im Marketing zwingt die enorme Reichweite von Social-Media-Plattformen Unternehmen, sich zu hinterfragen. Die Kommunikationskultur des Web 2.0 verlangt nicht nur schnelle Reaktionen und eine sehr große Kommunikationsbereitschaft. Unternehmen müssen auch akzeptieren, dass sie nicht jedes Pixel, jedes Wort kontrollieren können und müssen.

So hat das Luxuslabel Michael Kors in China eine einzigartige Social-Media-Kampagne gestartet. Kundinnen wurden eingeladen, eigene Selfies in eine Kors-App zu laden. Sie müssen auf den Fotos übrigens keine Kors-Produkte tragen. Ungefilterte Privatfotos als Markenwerbung? Für die normalerweise perfekt durchgestylte und exakt planende Modewelt ist das ein Maximum an Kontrollverlust. Aber Michael Kors traut sich, loszulassen.

Erste Beispiele für Öffnungsstrategien

Im Moment sind erfolgreiche Öffnungsstrategien noch die Ausnahme, doch es gibt erste und zum Teil sehr erfolgreiche Beispiele. Viele weitere wären denkbar: Warum nicht stärker Open-Source-Ansätze in die Medikamentenforschung einbringen? Oder wie Tesla, Toyota und Ford Patente freigeben, um so die Innovationsgeschwindigkeit in der eigenen Branche zu steigern? Warum nicht im Filialhandel, bei Franchiseunternehmen oder im stark Herstellerhandel mehr Freiheit beim Ladendesign zulassen, um so Raum für wirklich einzigartige Kauferlebnisse zu schaffen? Sharing Economy Plattformen könnten Produkt- und Servicedesigns, die Nutzer entwickelt haben, direkt testen.

Auch Non-Profit-Organisationen sollten sich mit diesem Thema auseinandersetzen, offen und unvoreingenommen. Könnte es nicht sinnvoll sein, anonymisierte Daten der Analytics-Community zur Verfügung stellen, um von deren Methodenkompetenz etwa bei der Entwicklung intelligenter Kundensegmentstrategien zu profitieren? Durch kontrolliertes Loslassen lässt sich viel gewinnen. Selektives Chaos innerhalb eines klaren Rahmens erzeugt Kreativität. Am Ende ist das produktiver als Top-down-Kontrolle oder uneingeschränkte Freiheit.

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