
Wohin mit all dem Öl? Der Preis für ein Fass WTI Öl ist in den negativen Bereich gefallen. Wer Öl abnimmt, bekommt Geld
Foto: REUTERSNegative Preise für Öl haben in den letzten Tagen für Furore gesorgt. Der Preis für ein Fass der Sorte WTI ist in dieser Woche auf minus 40 Dollar gefallen. Doch das Phänomen ist keineswegs neu. In mehreren Wirtschaftssektoren gibt es seit Jahren negative Preise, das heißt nicht der Verkäufer, sondern der Käufer eines Produktes wird bezahlt.

Hermann Simon leitete von 1995 bis zum Jahr 2009 die Unternehmensberatung Simon-Kucher&Partners. Er arbeitete als Professor in Bielefeld und Mainz sowie als Honorarprofessor an der University of Peking. Simon gilt als einer der bekanntesten Pricing-Experten weltweit.
Prägnante Beispiele finden sich in der Stromerzeugung und im Banking. Auslöser sind Ungleichgewichte von Angebot und Nachfrage sowie Grenzkosten von Null. Sowohl neue Produktionsbedingungen als auch das Internet stehen als Treiber hinter diesen Auslösern, sie nehmen also zu. Es kann sich lohnen, Budgets eher in negative Preise als in Werbung zu investieren.
Bei normalen Transaktionen zahlt der Kunde dem Verkäufer einen positiven Preis und erhält als Gegenleistung das Produkt oder den Service. Der Kunde ist bereit, einen positiven Preis zu zahlen, falls ihm das zu erwerbende Gut einen Nutzen bringt. Aus Sicht des Verkäufers liegt die kurzfristige Preisuntergrenze bei den Grenzkosten, das heißt, er verkauft ein Produkt nur, wenn er einen positiven Deckungsbeitrag erzielt. In der traditionellen Welt waren die Grenzkosten in aller Regel größer als Null, so dass Preise von Null eher selten und solche von unter Null praktisch nie vorkamen. Im Fall von Öl geschah dies jetzt zum ersten Mal.
Grenzkosten einer zusätzlichen Produkteinheit oft nahe Null
Das Internet, aber auch andere neue Technologien ändern diese Gegebenheit teilweise fundamental. Die Grenzkosten einer zusätzlichen Produkteinheit sind oft Null oder nahe an Null. Doch diese Wirkungen gehen noch weiter. Bei einer Solaranlage sind die Grenzkosten der Stromerzeugung nicht nur Null, sondern der produzierte Strom muss abgenommen werden. Das lässt sich für den Anbieter unter Umständen nur erreichen, wenn er den Abnehmer zusätzlich zum gelieferten Produkt mit einer Zahlung incentiviert.
Beim Überangebot von Öl ist das ähnlich. Bei negativen Preisen bezahlt der Verkäufer also den Kunden, damit dieser ihm das Produkt abnimmt.
Negative Strompreise
Seit 2008 ist die Zahl der Stunden mit negativen Strompreisen von 15 Stunden auf 211 Stunden im Jahre 2019 gestiegen. Im letzten Jahr wurde dem Stromabnehmer vom Stromproduzenten an nahezu zehn Tagen ein (negativer) Preis pro Megawattstunde bezahlt. Als Käufer erhielt man den Strom und zusätzlich noch Geld.
Wie ist das zu erklären? Offensichtlich besteht eine Voraussetzung darin, dass bei einem Preis von Null das Stromangebot größer ist als die Nachfrage. Das heißt, selbst beim Preis von Null kommt kein Ausgleich von Angebot und Nachfrage zu Stande. Es bleibt ein Angebotsüberhang. Normalerweise würden die Stromproduzenten unter diesen Umständen die Produktion einstellen. Das ist aber bei bestimmten Stromerzeugungsverfahren, wie etwa bei Solaranlagen, nicht möglich. Auch traditionelle Kraftwerke weisen nur eine beschränkte Flexibilität auf.
Der produzierte Strom muss abgenommen werden. Diese Abnahme ergab sich an den jeweiligen Tagen nur, wenn der Stromerzeuger dem Abnehmer einen negativen Preis zahlte. Man kann von "zeitlicher Kuppelproduktion" sprechen. Um an Tagen mit positiven Preisen produzieren und Gewinne erzielen zu können, müssen die Produzenten den Strom an den Tagen mit negativen Preisen subventionieren. Bei den derzeit beobachteten negativen Ölpreisen treffen wir auf die gleichen Bedingungen. Es ist für den Anbieter günstiger, dem Abnehmer etwas dazu zu zahlen als die Produktion zu unterbrechen oder teure Lagerkapazitäten anzumieten.
Negative Zinsen
Zinsen sind nichts anderes als Preise für die Zurverfügungstellung von Geld. Negative Zinsen wurden erstmals im Jahre 2012 in Dänemark beobachtet. Heute sind sie zu einem weit verbreiteten und vieldiskutierten Thema geworden. Die Diskussion nahm dabei philosophische Ausmaße an. So sagte der Schweizer Notenbankpräsident Thomas Jordan "Ein Negativzins widerspricht nicht der menschlichen Natur." Viele Staaten können sich heute Geld zu negativen Zinsen besorgen.
Auch für Privatkunden gibt es Minuszinsen. Wer bei Check24 einen Kredit von 1000 Euro aufnahm, musste nach zwölf Monaten nur 972,49 Euro zurückzahlen. Das entspricht einem Minuszins von 2,7 Prozent. Das Vergleichsportal Smava verlieh 1000 Euro für drei Jahre und verlangte nur 923 Euro zurück. Der Ökonom Carl-Christian von Weizsäcker spricht von einem "negativen natürlichen Zins" als einem keineswegs vorübergehenden, sondern anhaltenden Phänomen. Die Ursache sieht er in einem "strukturellen Überschuss des privaten Sparwillens über den privaten Investitionswillen."
Bei negativem Zins zahlt der Kreditnehmer nicht nur keinen Zins, sondern erhält vom Kreditgeber einen solchen, eine traditionell undenkbare Situation. Für eine Bank kann es lohnender sein, das überschüssige Geld zu einem Zins von -0,2 Prozent zu verleihen, statt es bei der Zentralbank zu deponieren und dort Negativzinsen von -0,5 Prozent zahlen zu müssen. Und wenn Einleger bereit sind, der Bank Geld zu einem negativen Zins zur Verfügung zu stellen, dann kann sie dieses Geld zu einem Negativzins verleihen und trotzdem einen positiven Deckungsbeitrag erzielen.
Negative Preise aufgrund von Transfereffekten
Es gibt Sondersituationen, in denen negative Preise auf Grund perioden-, produkt- oder personenübergreifender Zusammenhänge in Frage kommen. Bei Neuprodukteinführungen sind Gratisproben (etwa bei Pharmazeutika oder Verbrauchsprodukten), also Preise von Null, weit verbreitet. Hier wird die Regel, dass der Preis über den Grenzkosten liegen soll, in der Einführungsphase des Produktes durchbrochen. Diese Taktik ist sinnvoll, wenn der Preis von Null den Absatz in den Folgeperioden stimuliert, die mit der Gratisprobe gewonnenen Kunden das Produkt also in der Zukunft vermehrt kaufen.
Allerdings stellt sich die Frage, warum in dieser Situation Null die Preisuntergrenze sein sollte. Denkt man einen Schritt weiter, so erscheint die Null als eine willkürliche Preisuntergrenze. Vielleicht ließe sich nämlich die Akzeptanz eines neuen, bisher unbekannten Produktes beschleunigen, indem man den ersten Übernehmern einen negativen Preis zahlt, statt das Produkt "nur" zu einem Preis von Null abzugeben.
Bei Grenzkosten von Null, wie sie im Internet vielfach vorkommen, wird diese Option deutlich attraktiver als bei hohen positiven Grenzkosten, wie sie für die klassische Ökonomie typischer sind. In der Tat lassen sich solche negativen Preise beobachten. Die Commerzbank schreibt neuen Kunden seit langem 50 Euro gut, zahlt also einen negativen Preis. Ähnliches gilt für den Gutschein in derselben Höhe, den METRO Cash & Carry neuen Kunden überreichte.
In seiner Anfangsphase hat der Bezahldienst PayPal ebenfalls negative Preise eingesetzt. Jeder neue Kunde erhielt 20 US-Dollar. In China haben Anbieter von Fahrraddiensten wie Mobike ihre Kunden für die Nutzung der Räder bezahlt.
Es kann sinnvoll sein, Erstnutzer für die Nutzung zeitweilig zu bezahlen
Eine analoge Argumentation lässt sich bei produktübergreifenden Wirkungen anwenden. Wenn ein Produkt A den Absatz eines gewinnträchtigen Produktes B befördert, kann es sinnvoll sein, Produkt A zu einem negativen Preis anzubieten. Diese Wirkungskette kann beispielsweise für Freemium-Konstellationen relevant sein. Beim üblichen Freemium-Modell hat die Basisversion einen Preis von Null. Hier stellt sich wiederum die Frage, warum die Preisuntergrenze bei Null liegen sollte? Wenn durch die Erfahrung mit der Basisversion viele Nutzer zur bezahlten Premiumversion konvertieren, kann es durchaus sinnvoll sein, Erstnutzer der Basisversion für einen beschränkten Zeitraum zu bezahlen, also einen negativen Preis einzusetzen.
Viele Telekommunikationsfirmen offerieren Kunden, die einen Dienstleistungsvertrag für einen bestimmten Zeitraum abschließen, ein Mobiltelefon gratis oder zu einem symbolischen Preis von 1 Euro. Auch hier ist zu fragen, ob man Neukunden für die Annahme des Handys einen negativen Preis zahlen sollte. Ein mittelständischer Vermarkter von Telekommunikationsdienstleistungen berichtete mir, dass er mit einem negativen Preis für das Handy gute Erfahrungen gemacht habe. Der negative Preis wurde dabei in bar gezahlt, was die Wirkung vermutlich verstärkt hat.
Die Cash Back Methode
In diesen Kontext passen die in Amerika verbreiteten Cash Backs. Bei dieser Methode kauft man ein Auto für 30.000 Dollar und erhält anschließend 2.000 Dollar in bar zurück. Diese 2.000 Dollar kann man als negativen Preis interpretieren. Welchen Sinn soll das machen? Warum zahlt man nicht einfach 28.000 Dollar? Die Prospekttheorie von Daniel Kahnemann hat eine Antwort. Die Zahlung der 30.000 Dollar kreiert einen sogenannten Verlustnutzen, denn diese Summe muss man opfern. Diesem Verlustnutzen steht der Gewinnnutzen durch den Erwerb des Autos gegenüber. Hinzu kommt eine dritte Nutzenkomponente, nämlich der Gewinnnutzen des negativen Preises von 2.000 Dollar, der in bar ausgezahlt wird. Offensichtlich empfinden viele Autokäufer bei dieser Preisstruktur einen höheren Nettonutzen, als wenn sie einfach 28.000 Dollar für das Auto zahlen und keinen negativen Preis in Form des Cash Backs erhalten.
Letztlich geht es um die Frage, wie Marketing- und Promotionsmaßnahmen im Vergleich zu negativen Preisen wirken. Produkteinführungen werden regelmäßig mit erheblichen Budgets unterstützt. Die Mittel fließen dabei in Instrumente wie Werbung, Displays, Aktionen und Rabatte. Bisher sind negative Preise in diesem Instrumentenkasten eher selten. Je nach relativer Größe der Preis- und der Promotionselastizitäten kann ein negativer Preis wirksamer sein als Werbung oder ähnliche Maßnahmen, ohne dass deshalb größere Budgets bereit gestellt werden müssen. Mit Grenzkosten, die sich in immer mehr Bereichen der Null annähern, werden solche Bedingungen wahrscheinlicher.
Dass dann einige Anbieter sogar die Preisuntergrenze von Null unterschreiten und ihre Produkte zu negativen Preisen anbieten, ist zu erwarten. Auch heute wird bei Aktionen unter Grenzkosten verkauft. Es sollte also nicht überraschen, wenn es in Zukunft negative Preise gibt.
Fazit
In der Theorie liegt die kurzfristige Preisuntergrenze bei den Grenzkosten. Wenn diese Null sind, so wird Null zur Preisuntergrenze. Wir beobachten jedoch zunehmend negative Preise. Dahinter stehen produktions- und kostenmäßige Bedingungen, welche die Preisuntergrenze von Null außer Kraft setzen. Ursache kann ein Überangebot sein, das weiterhin erzeugt werden muss, obwohl die Nachfrage bei einem positiven oder bei einem Nullpreis nicht ausreicht. Das ist aktuell beim Ölpreis und seit Jahren bei Strompreisen der Fall. Auch perioden- und produktübergreifende Wirkungen in Verbindung mit niedrigen Grenzkosten kommen als Ursache in Frage. Um zu optimalen Lösungen zu gelangen, muss man die Wirkungen von Promotionsmaßnahmen und negativen Preisen quantifizieren. Im Internetzeitalter ist damit zu rechnen, dass sich Investitionen in negative Preise in Zukunft vermehrt lohnen.