Naftogaz-Chef Dieser Ukrainer hat einen der schwierigsten CEO-Jobs der Welt

Naftogaz-Chef Oleksiy Chernyshov: "Wir benötigen noch mehr finanzielle und technische Hilfe, um die Stromversorgung für unsere Bevölkerung aufrechtzuerhalten."
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Im vergangenen November übernahm Oleksiy Chernyshov (45) einen der derzeit wohl schwierigsten CEO-Jobs der Welt. Statt im Ministerium saß er plötzlich auf dem Chefsessel des größten staatlichen Energieversorgers der Ukraine, dem Öl- und Gaskonzern Naftogaz. Er war damit für kritische Infrastruktur verantwortlich – und das Wohlergehen der Menschen im ganzen Land. "Es war der Beginn der Heizperiode, als ich zum Vorstandsvorsitzenden ernannt worden bin", erzählt Chernyshov dem manager magazin. "Meine Aufgabe war es also, die Heizungen im Land am Laufen zu halten."
In einem Land, das sich im Krieg befindet, ist das ohnehin schon keine leichte Aufgabe. Aber Chernyshov hat seit seinem Amtsantritt dramatische Monate erlebt. Die Energie-Infrastruktur der Ukraine ist ein klares Ziel des russischen Feindes geworden. Seit Oktober hat das russische Militär die massiven Raketenschläge auf Umspannwerke und andere Einrichtungen der Strom- und Wasserversorgung ausgeweitet. Anfang Februar waren rund 40 Prozent der Energieinfrastruktur des Landes zerstört, auch die Gaspipelines von Naftogaz trifft es immer wieder. Einige Mitarbeiter sind sogar bei ihrer Arbeit an den Anlagen und Leitungen gestorben. Und ökonomisch fehlen dem Unternehmen viele Milliarden.

"Tapfere Mitarbeiter": Konzernchef Oleksiy Chernyshov beim Besuch der Anlagen in der Region Iwano-Frankiwsk. Vor rund zwei Wochen kam es dort zu Explosionen.
Foto: Naftogaz"Das Leben für die Menschen in der Ukraine und die Mitarbeiter von Naftogaz hat sich dramatisch verändert", sagt Chernyshov. "Ständig treffen russische Raketen unsere Anlagen, sodass Millionen von Ukrainern mitten im Winter bei Minusgraden zeitweise ohne Strom und funktionierende Heizungen dastehen." Erst vor zwei Wochen erreichte eine neue Angriffswelle Kiew, in der wichtige Infrastrukturanlagen getroffen wurden. In der Hauptstadt hat auch Naftogaz seinen Hauptsitz.
Der Job eines Kriegsmanagers
Damit ist vieles von dem eingetreten, was Chernyshovs Vorgänger Yuriy Vitrenko (47) bereits im mm-Interview im Oktober befürchtet hatte. Schon er berichtete damals, wie schwierig es sei, für Tausende von Mitarbeitern verantwortlich zu sein, die jeden Tag im Job ihr Leben riskieren. Seine Devise lautete: Jeden Tag improvisieren und weiter funktionieren. Nach nur eineinhalb Jahren als Naftogaz-Chef, davon zehn Monate im Krieg, war er jedoch zurückgetreten. Die Regierung hatte seinen Umgang mit der Umschuldung des Konzerns öffentlich kritisiert.
Als neuer Chef übernahm im November 2022 der bisherige Entwicklungsminister der Ukraine, eben Oleksiy Chernyshov. Der studierte Wirtschaftswissenschaftler und Jurist begann seine Karriere einst im IT-Bereich, bevor er in die Immobilienbranche wechselte und sich der Infrastrukturentwicklung widmetet. 2019 ging er in die Politik, wurde Leiter der staatlichen Verwaltung der Region Kiew und 2020 schließlich Minister unter Präsident Wolodymyr Selensky (45). Nun führt er einen Konzern mit 52.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern und knapp 6 Milliarden Euro Umsatz im Jahr 2021.
Die Naftogaz-Gruppe ist der größte staatliche Öl- und Gaskonzern der Ukraine. Der Konzern bringt ein Fünftel der Steuereinnahmen der Ukraine ein. Mit 52.000 Mitarbeitern versorgt Naftogaz mehr als 12 Millionen Haushalte mit Gas und spielt damit eine entscheidende Rolle für die Energiesicherheit der Ukraine. Das Geschäftsfeld der Gruppe umfasst Exploration und Erschließung von Öl- und Gasfeldern, Produktion, Lagerung sowie den Vertrieb von Ölprodukten, Erdgas und Flüssiggas.
Naftogaz verkauft Erdgas aus eigener Produktion sowie importiertes Gas für den Bedarf der Bevölkerung, der Wirtschaft und der Wärmeindustrie. Im Jahr 2021, also vor dem Krieg, steigerte das Unternehmen seinen Umsatz um rund 40 Prozent auf umgerechnet knapp 6 Milliarden Euro und erzielte einen Nettogewinn von umgerechnet etwa 330 Millionen Euro.
Nach Beginn des Krieges verließen einige Mitarbeiter das Land oder wurden für den Militärdienst mobilisiert. Teile der Anlagen wurden durch russische Raketen zerstört. Dennoch produzierte das Unternehmen im ersten Halbjahr 2022 nur insgesamt 2 Prozent weniger als vor dem Krieg. In den westlichen Regionen des Landes hat Naftogaz im Vergleich zu 2021 sogar 2 Prozent mehr Erdgas in das Transportsystem eingespeist. Die heimische Produktion reicht jedoch nicht aus, um die Nachfrage im Land zu decken, sodass Naftogaz zusätzlich Gas aus der Slowakei, Ungarn und Polen importiert.
Es ist der Job eines Kriegsmanagers. "Unsere tapferen Mitarbeiter arbeiten unermüdlich daran, die Schäden an unserer Energieinfrastruktur zu beheben", sagt er. Ohne deren "heldenhaften" Einsatz wäre es nicht möglich gewesen, weiter Gas zu produzieren und die Speicher unter der Erde zu befüllen. "Wir tun als Naftogaz alles Mögliche, um unsere Kunden stabil und zuverlässig zu versorgen." Der Konzern beliefert über 12 Millionen Haushalte im Land mit Gas, darunter 200.000 Haushalte im Donbas, ganz im Osten des Landes.
Inzwischen neigt sich die Heizperiode allmählich dem Ende zu. Für Chernyshov ist eine erste Etappe erreicht. "Trotz der ständigen Angriffe haben wir die Heizsaison gut gemeistert", sagt er. Doch schon jetzt bereitet sich der Konzern auf den nächsten Winter vor. Um die Energiesicherheit der Ukraine zu gewährleisten, will der Naftogaz-Chef die Gasproduktion bis zum nächsten Winter um eine Billion Kubikmeter steigern, auf 13,5 Billionen Kubikmeter. Dazu hat das Unternehmen im vergangenen Jahr schon 47 neue Quellen in Betrieb genommen, sodass beim Bohren täglich neue Rekorde erreicht werden. Besonders im vom Krieg relativ verschonten Westen der Ukraine soll die Produktion steigen, wo der Betrieb momentan am sichersten ist und die Gasvorkommen groß sind.
Nicht nur Haushalte beliefert der Konzern mit Gas, sondern auch weite Teile der Wirtschaft. So schränken die Angriffe auf die Anlagen und Leitungen die Wirtschaftstätigkeit des gesamten Landes enorm ein. Hinzu kommt, dass viele Fabriken zerstört sind oder, wenn überhaupt, nur noch auf Sparflamme laufen und Arbeitskräfte fehlen. Zudem hat die ukrainische Regierung einige strategisch wichtige Wirtschaftsbereiche nach Kriegsrecht vorübergehend verstaatlicht, zum Beispiel den Motorenbauer Motor Sitsch, den Öl- und Gaskonzern Ukrnafta, den Transformatoren-Hersteller Saporischtransformator und der Nutzfahrzeug-Hersteller AwtoKrAS. Sie sollen "rund um die Uhr" für Verteidigungsbedürfnisse arbeiten, sagte der ukrainische Ministerpräsident Denys Schmygal (48) im November.
Das Bruttoinlandsprodukt ist 2022 um 30 Prozent geschrumpft. Dies ist zwar weniger als erwartet, aber laut Regierung der größte Verlust für die ukrainische Wirtschaft seit der Unabhängigkeit von der Sowjetunion im Jahr 1991. Die Inflationsrate lag im Januar bei 26 Prozent.
Drückende Schuldenlast
Ohne Hilfe, so viel ist jetzt schon klar, wird auch Naftogaz nicht auskommen. Der Konzern ist hoch verschuldet und mit seinen Eurobonds 2022 und 2026 in Verzug geraten. Bereits im Sommer letzten Jahres, lange vor den zerstörerischen Angriffen, hatte die damalige Konzernführung einen Finanzbedarf von umgerechet 7,6 Milliarden Euro reklamiert, um bei ausländischen Lieferanten zusätzliches Gas für den Winter kaufen zu können. Die ukrainische Regierung hatte noch am selben Tag die internationalen Kreditgeber und Anleihegläubiger um ein zweijähriges Moratorium für die Tilgung der Schulden und Zinsdienste gebeten. Doch eine wirkliche Einigung fehlt. Erst vergangene Woche lehnten Gläubiger erneut einen Plan zur Umschuldung ab, der eine Stundung von Kapital- und Zinszahlungen vorgesehen hätte. Daran war schon Vitrenko gescheitert. Chernyshov gibt sich zuversichtlich, bald "eine einvernehmliche Lösung" im Dialog mit den Gläubigern zu finden.
"Wir benötigen noch mehr finanzielle und technische Hilfe, um die Stromversorgung für unsere Bevölkerung aufrechtzuerhalten", sagt Chernyshov. Gebraucht würden momentan vor allem weitere Ersatztransformatoren, Kompressoren und Separatoren. Diese Komponenten im eigenen Land herzustellen würde mehr als sechs Monate dauern. Ein "Gamechanger", wie Chernyshov es nennt, wäre außerdem der Wissensaustausch zwischen Deutschland und ukrainischen Ingenieuren.
Indes planen die Stromversorger des Landes bis zum nächsten Winter zwei von insgesamt 90 großen Umspannwerken in Bunker unter die Erde verlagern, um die Anlagen vor Raketenangriffen zu schützen. Das berichtete kürzlich die ukrainische Ausgabe des Magazins Forbes. Alle zu verlegen würde nach Schätzungen fünf Jahre dauern und mehr als drei Milliarden Euro kosten.
Von all den Problemen lässt Chernyshov sich nicht bremsen. Er blickt, wie es sich für einen CEO gehört, schon auf eine Zeit nach dem Krieg. Auch darauf bereite sich der Konzern vor. Naftogaz werde eine wichtige Rolle im Wiederaufbau des Landes einnehmen, wenn – nicht: falls – die Ukraine den Krieg gewonnen hat, wie er sagt. Um langfristig besser mit internationalen und nationalen Partnern zusammenarbeiten zu können, baut Chernyshov den Staatskonzern um, professionalisiert die Strukturen, trimmt ihn stärker auf Corporate Governance. Einen ersten Meilenstein hat er dabei schon erreicht: Vergangenen Monat hat die ukrainische Regierung einen neuen Aufsichtsrat installiert. Laut der Nachrichtenagentur Reuters besteht das Gremium aus vier unabhängigen Mitgliedern und zwei Vertretern des Staates.
Langfristig will Chernyshov den Öl- und Gaskonzern dann stärker in das europäische Energiesystem integrieren. Auch Kooperationen zwischen ukrainischen Energieversorgern und europäischen Unternehmen strebt er an. "Die Ukraine hat die drittgrößten Gasreserven Europas", wirbt er und hofft auf westliche Unterstützung in Form von Darlehen, Versicherungen und staatlichen Garantien.
Für ihn steht fest: Die Strategie Russlands, die Ukraine zur Kapitulation zu zwingen, wird nicht aufgehen. Sie stärke lediglich die Entschlossenheit der Ukrainer, diesen Krieg zu gewinnen, sagt Oleksiy Chernyshov, der CEO im Krieg. "Wir sind unverwüstlich und werden nicht nur auf dem Schlachtfeld siegen, sondern auch ein neues und verbessertes Energiesystem in einer freien Ukraine aufbauen."