Marktverzerrung durch deutschen Einheitsstrompreis Wie Deutschland Europas Strommarkt unter Druck setzt

Stromengpass zwischen Nordost- und Südwestdeutschland: Günstiger produzierter Strom sollte vom Nordosten nach Südwesten Deutschlands fließen, kann dies aber nicht, weil die Übertragungsnetze hierfür nicht in ausreichendem Maße ausgebaut sind
Foto: DPAÜberhastete, politisch motivierte Entscheidungen in Deutschland führen zur Schließung von Grenzen innerhalb Europas. Was wie ein Kommentar zur aktuellen Flüchtlingskrise klingt, beschreibt gleichermaßen die Situation im europäischen Binnenmarkt für Elektrizität. Ende September hat ACER, der Verband der europäischen Regulierungsbehörden, die Bundesregierung aufgefordert, innerhalb von vier Monaten Handelsbeschränkungen im Stromexport nach Österreich einzuführen - sprich, eine Grenze wieder zu errichten, die es seit der Einführung der gemeinsamen deutsch-österreichischen Gebotszone nicht mehr gegeben hat.
Auslöser für diese kuriose Empfehlung ist allerdings kein deutsch-österreichisches Problem, sondern ein rein innerdeutsches: ein Stromengpass zwischen Nordost- und Südwestdeutschland. Die Engpasslinie verläuft entlang des Mains und dann nordwestlich des Ruhrgebiets in Richtung der Niederlande. In vielen Stunden des Jahres kann Strom nördlich dieser Linie zu geringeren variablen Kosten produziert werden als südlich davon: Kohle und Wind haben deutlich geringere Einsatzkosten als beispielsweise Erdgas. Dieser günstige Strom möchte daher von Nordost nach Südwest fließen, kann dies aber nicht, weil die Übertragungsnetze hierfür nicht in ausreichendem Maße ausgebaut sind.
Damit das Netz also nicht überlastet wird, müsste nordostdeutsche Erzeugung durch südwestdeutsche ersetzt werden. Da der Stromgroßhandelspreis in Deutschland aber durch eine vom Staat vorgeschriebene einheitliche Gebotszone künstlich vereinheitlicht wird, kann der Markt diesen geographischen Ausgleich nicht bewirken. Stattdessen wird das Problem durch den sogenannten Redispatch, einen nachträglichen Markteingriff der Übertragungsnetzbetreiber (ÜNB), angegangen.

Marc Oliver Bettzüge ist Professor für Volks-wirtschaftslehre an der Universität zu Köln sowie Direktor des Energie-wirtschaftlichen Instituts (EWI). Er befasst sich insbesondere mit institutionellen und wirtschafts-wissenschaftlichen Grundsatzfragen der Energiewirtschaft und der Energiepolitik.
Die Kraftwerke mit den höchsten Einsatzkosten im Nordosten werden administrativ heruntergeregelt, im Gegenzug die eigentlich noch teureren Kraftwerke in Süddeutschland herauf. Solange solche Kraftwerke im Süden vorhanden sind, kann dieser Mechanismus die Stabilität in der einheitlichen deutschen Gebotszone gewährleisten. Allerdings liefert er keine Anreize für die Vorhaltung solcher südwestdeutschen Erzeugungskapazitäten.
Darüber hinaus macht das Problem an der deutschen Grenze nicht halt: Wegen der einheitlichen Gebotszone in Deutschland sehen ausländische Marktteilnehmer südlich des Engpasses, also aus Österreich, der Schweiz oder Frankreich, einen deutschen Durchschnittspreis. In einer Engpasssituation in Deutschland kaufen sie also physikalisch den faktisch teureren südwestdeutschen Strom, bezahlen aber kommerziell einen zu niedrigen Preis dafür, und kaufen daher - ökonomisch betrachtet - zu viel davon. Genau entgegengesetzt sehen die Nachbarn im Norden und Osten einen zu hohen Preis. Der Engpass wird dadurch noch verstärkt.

Der Grund für den innerdeutschen Engpass ist das zunehmende Auseinanderfallen von Erzeugung und Nachfrage zwischen Nordost- und Südwestdeutschland. Das wiederum liegt vor allem an einem Baustein der sogenannten deutschen "Energiewende", dem Ausstieg aus der Kernenergie und der Art seiner Umsetzung. Während im Nordosten Kohle- und Windkapazitäten, welche in den vergangenen Jahren neu errichtet wurden, die dort wegfallenden Kernkraftwerke mehr als kompensieren können, wurden und werden die südwestdeutschen ohne entsprechende Ersatzinvestitionen abgeschaltet. Geographische Erwägungen haben bei der sehr rasch vorgenommenen Formulierung des Ausstiegsgesetzes im Frühjahr 2011 eben keine Rolle gespielt.
Daneben tragen auch die immensen Investitionen in Windenergie in Nordostdeutschland und Dänemark sowie die langfristige Verschiebung der Stromnachfrage in die wirtschaftlich wachstumsstärkeren Regionen im Süden und Westen Deutschlands zur Verschärfung des Engpasses bei. Der enorme Ausbau von Photovoltaikanlagen im Süden wirkt aufgrund der verhältnismäßig geringen Anzahl von Sonnenstunden und der fluktuierenden Einspeisung diesen Trends nur in eingeschränktem Maße entgegen.
Langfristig könnten zwar umfangreiche zusätzliche Transportleitungen den innerdeutschen Engpass beheben. Doch die Geschwindigkeit des Netzausbaus hinkt deutlich hinter der Geschwindigkeit der Abschaltung südwestdeutscher Kernkraftwerke her.
Im Zusammenspiel der Faktoren hat sich daher der Engpass seit 2011 sogar deutlich verschärft. Ohne gravierende Veränderung des politischen Rahmens - Windausbau im Norden, Kernenergie-Ausstieg im Süden - ist zu erwarten, dass die kritischen Situationen in den kommenden Jahren eher zu- als abnehmen werden.
Marktpreis und physikalische Realität fallen auseinander
Insgesamt verzerrt das Auseinanderfallen von Marktpreis und physikalischer Realität die innereuropäischen Stromflüsse, und das mittlerweile in einer Größenordnung, dass sich ACER - auf Betreiben des polnischen Übertragungsnetzbetreibers - genötigt gesehen hat, einzugreifen.
Die von ACER vorgeschlagene "Grenzziehung" zwischen Österreich und Deutschland würde das Problem kurzfristig vermindern. Denn der innerdeutsche physikalische Engpass würde zumindest teilweise administrativ an die deutsche Außengrenze verschoben. Dadurch würde die österreichische Nachfrage nach deutschem Strom künstlich verringert. Zu erwarten ist, dass eine solche Maßnahme die Preise in Österreich steigen lassen würde. Dementsprechend harsch fallen auch die Reaktionen in unserem Nachbarland aus. Europapolitisch wird eine solche künstliche Grenze das Konzept des EU-Binnenmarkts ebenso schwer belasten wie die jüngsten Kapriolen der Bundesregierung in der Flüchtlingspolitik das Vertrauen in das Schengener Abkommen untergraben haben.
Dabei gäbe es eine energiewirtschaftlich wie europapolitisch eine viel einfachere Lösung, welche ACER wohl auch liebend gerne vorgeschlagen hätte, hierzu aber über kein Mandat verfügt: die Behandlung des Engpasses dort, wo er sich befindet; nämlich innerhalb Deutschlands. Würde man Deutschland in zwei Gebotszonen aufteilen, wäre der Engpass für alle Marktteilnehmer im In- und Ausland transparent, und die Stromflüsse würden sich danach ausrichten. Beispielsweise würde Frankreich in Engpassstunden nach Südwestdeutschland exportieren, statt wie derzeit trotz des innerdeutschen Engpasses den eigentlich zu teuren südwestdeutschen Strom zu importieren. Auch könnten österreichische Pumpspeicher dann die bayerische Solarerzeugung ausregeln, weil deren Preiseffekte in der südwestdeutschen Preiszone wirksam zu Tage träten.

Darüber hinaus würden sich aus der Transparenz über den Wert des Engpasses auch richtige und wichtige Informationen für den Wert von Investitionsentscheidungen ergeben. Sei es für Kraftwerks- oder Speicherinvestitionen im Nordosten oder Südwesten (oder auch in Österreich oder der Schweiz), sei es für die Netzinvestitionen, die geeignet sind, den Engpass zu verringern. Eine solche Schaffung engpassorientierter Gebotszonen ist im Grundsatz sogar in den Statuten des Binnenmarkts vorgesehen, unterliegt aber der Souveränität des jeweiligen Nationalstaats.
Doch die deutsche Regierung scheut diese Transparenz, ebenso weite Teile der deutschen Stromwirtschaft. Denn dann würde offensichtlich, dass weitere Investitionen in Windanlagen in Nordostdeutschland faktisch noch um einiges teurer sind als gedacht, weil der Marktwert des von ihnen erzeugten Stroms wegen des Engpasses entsprechend geringer ist.
Und es würde sichtbar, dass die westdeutsche Braunkohle energiewirtschaftlich anders zu betrachten ist als die ostdeutsche - nämlich als derzeit wertvolle. Zudem würde in den innerdeutschen Preisdifferenzen der Standortnachteil Süddeutschlands überdeutlich, der zu Zeiten von Franz Josef Strauß ja gerade durch den Bau der jetzt abzuschaltenden Kernkraftwerke ausgeglichen werden sollte. Und schließlich würde der Preisunterschied genau beziffern, welche Ersparnisse der Leitungsausbau wem in Deutschland eigentlich bringt.
Diese Zusammenhänge und die sich daraus ergebenden Fragen an das mit großer Verve ausgerufene "Gemeinschaftswerk Energiewende" sind für die deutsche Politik mehr als unangenehm. Die im Binnenmarkt eigentlich anzustrebende Preistransparenz ist anscheinend etwas, das niemand wirklich will. Besser soll der Mantel der einheitlichen Gebotszone darüber ausgebreitet bleiben, mit wettbewerbsfernen Redispatch-Mechanismen und fragwürdigen Subventionszahlungen für "systemrelevante Reservekraftwerke", damit überhaupt genügend Kapazität im Südwesten zur Verfügung steht. Zwar ist auch die Aufteilung des deutschen Strommarkts in zwei Preiszonen nicht ohne Herausforderungen. Aber das Beispiel der (deutlich kleineren) skandinavischen Preiszonen zeigt, dass und wie man dies organisieren kann.
Mit der Stellungnahme von ACER hat Europa jetzt klargestellt, dass die deutsche Politik sich ihre kurzfristige politische Bequemlichkeit auch zulasten der Nachbarländer erkauft. Die Frage nach der Gestaltung der Gebotszonen wird somit zum ersten Lackmustest für die vollmundigen Beschwörungen des Bundeswirtschaftsministeriums. Wenn Minister Gabriel und Staatssekretär Baake es wirklich ernst meinen mit der Integration Deutschlands in den europäischen Strombinnenmarkt, dann darf die Errichtung neuer Grenzen für den innereuropäischen Stromhandel nicht die erste Maßnahme sein. Dass die verantwortlichen Akteure allerdings den Mut aufbringen, die physikalische Realität durch die Teilung Deutschlands in zwei Gebotszonen transparent abzubilden, scheint ebenso unvorstellbar.
Zu erwarten ist daher der Versuch, den ACER-Vorstoß durch politischen Druck einzufangen, und sich weiter durchzuwursteln. Deutsche Innenpolitik steht in der Berliner Republik über europäischer Integration - nicht nur, aber auch bei der Ordnung des Strommarkts.
Marc Oliver Bettzüge ist Mitglied der MeinungsMachervon manager-magazin.de. Trotzdem gibt diese Kolumne nicht notwendigerweise die Meinung der Redaktion des manager magazins wider.