Preisdruck Gasschwemme nutzt deutschen Kunden

Geschwächtes Machtsymbol: Gashähne an der Verdichterstation des Gasimporteurs VNG an der deutsch-tschechischen Grenze
Foto: MATTHIAS RIETSCHEL/ ASSOCIATED PRESSHamburg - Lange war es ein festes Winterritual wie Weihnachtsmärkte oder Reifenwechsel: der Streit ums Gas. Regelmäßig hoben die Versorger die Preise zu Beginn der Heizsaison drastisch an, ebenso regelmäßig tobte im Hintergrund Streit zwischen dem russischen Großlieferanten Gazprom und Transitländern, der die Angst schürte, wie sicher das russische Gas deutsche Stuben heizt.
In diesem Jahr fällt dieses Ritual aus, zum zweiten Mal seit dem Krisenjahr 2009. Erstmals seit Jahren haben sich die Gaspreise für Endkunden deutlich vom Ölpreis gelöst. Der Verbraucherpreisindex Gas des Vergleichsportals Verivox ist über das Jahr 2010 hinweg nahezu stabil auf Krisentiefstwert geblieben, für Januar 2011 liegt er nur 2 Prozent über dem Vorjahreswert. Der Ölpreis dagegen schoss mit einer zweistelligen Rate nach oben. Im Durchschnitt zahlen Gaskunden heute sechs Cent je Kilowattstunde, nicht mehr als vor fünf Jahren, während Heizöl sich schon wieder den Rekordpreisen von 2008 nähert.
Der Durchschnitt wird allerdings aus zwei verschiedenen Extremen gebildet: Die einen Kunden beziehen ihr Gas von traditionellen Versorgern, die über die großen Importeure an langfristigen, eben doch noch am Ölpreis gebundenen Verträgen vor allem mit Gazprom und der norwegischen Statoil hängen. Für 73 Anbieter meldet Verivox Preiserhöhungen zum Januar von durchschnittlich 7 Prozent. Die anderen Kunden profitieren vom Verfall der Marktpreise, weil ihre Versorger, oft neue Anbieter, sich billig am Spotmarkt eindecken. 26 Anbieter senken die Preise weiter.
Eon-Ruhrgas-Chef Klaus Schäfer: "Deutliches Überangebot an Erdgas"
"Die europäischen Gasmärkte sind gegenwärtig in einer entscheidenden Umbruchphase", erklärt Eon-Ruhrgas-Chef Klaus Schäfer. Es gebe ein "deutliches Überangebot an Erdgas". Das liege nicht nur an der infolge der Wirtschaftskrise gesunkenen Nachfrage, deretwegen beispielsweise Gazprom im vergangenen Winter einen Großteil der vereinbarten Liefermenge nicht loswurde. Hinzu kommen gewaltige neue Kapazitäten.
Die USA haben in den vergangenen Jahren eine wahre technische Revolution erlebt. Weil unkonventionelle Gasreserven etwa aus Schiefer oder anderem dichten Gestein plötzlich wirtschaftlich zu fördern sind, sind die USA schlagartig zum weltgrößten Erdgasproduzenten aufgestiegen - und vom Import- zum Exportland.
In Europa, wo etliche Konzerne bereits eifrig nach ähnlichen Vorkommen bohren, erwarten Experten wie Florence Gény vom Oxford Institute for Energy Studies zwar noch lange keine vergleichbaren Erfolge. Trotzdem verändert die Entwicklung den Gasmarkt auch hier. Denn zugleich investierten Lieferanten aus Nahoststaaten wie Katar in neue Kapazitäten für verflüssigtes Erdgas (LNG), das nun weniger Abnehmer in Amerika findet. Eon-Ruhrgas-Chef Schäfer spricht von einer "Umleitung der weltweiten LNG-Flüsse".
Deutsche Privatkunden zögern mit dem Anbieterwechsel
In diesem Jahr landeten rund 94 Milliarden Kubikmeter LNG an europäischen Häfen an, fast 40 Milliarden mehr als noch 2008. Damit ist fünfmal so viel Gas neu auf den Markt geströmt, wie die mit viel politischem Getöse geplante Balkan-Pipeline Nabucco liefern soll, wenn sie einmal ans Netz kommt. In Deutschland selbst kam zwar mangels eines eigenen LNG-Terminals nichts davon an. Doch über Häfen der Nachbarländer sehr wohl, allein im belgischen Zeebrügge vervierfachte sich der LNG-Import auf zehn Milliarden Kubikmeter.
In Zeiten des gemeinsamen europäischen Gasmarkts kann man sich dort jetzt billig am Spotmarkt eindecken. Marc Oliver Bettzüge, Direktor des Energiewirtschaftlichen Instituts der Universität Köln, sieht in den unkonventionellen US-Reserven "einen langfristigen Preisschirm nach oben". Die Machtverhältnisse im Markt haben sich gedreht. Nicht mehr der Gashahn in Russland hat Drohpotenzial, sondern die Wahlfreiheit der Endabnehmer.
Vor allem Industriekunden und Kraftwerksbetreiber nutzen die neue Freiheit. Doch auch Privatkunden können es. "Der Markt ist heute gekennzeichnet von unterschiedlichen Vertragsmodellen, Produktvielfalt, gestiegener Lieferantenauswahl und größerer Verhandlungsmacht auf Seiten der Abnehmer", befand das Bundeskartellamt und ließ deshalb im September seine Beschränkungen für Verträge der Ferngaslieferanten auslaufen.
Laut dem Vergleichsportal "Check24" haben deutsche Privathaushalte im Durchschnitt die Wahl zwischen 33 verschiedenen Versorgern und können dabei im Vergleich zum Basistarif des Grundversorgers 500 Euro im Jahr sparen. Diese Möglichkeit nutzen allerdings immer noch nur wenige. Laut dem Energiewirtschaftsverband BDEW haben erst 8 Prozent der Haushalte zu einem der neuen Anbieter gewechselt, immerhin 15 Prozent mit dem alten Anbieter einen neuen Vertrag ausgehandelt. Aber Vorwürfe der willkürlichen Preiserhöhung, wie sie in Fällen aus den Vorjahren noch heute die Gerichte beschäftigen, werden nicht mehr laut.
Überkapazitäten mindestens bis 2015
Verlierer der Entwicklung sind neben den Gaslieferanten auch die Besitzer der Fernleitungen und Zwischenhändler, die in langfristigen Verträgen gebunden sind. Die Handelssparte von Eon Ruhrgas dürfte in diesem Jahr erstmals rote Zahlen schreiben, vor Wochen wurde gar spekuliert, der Eon-Konzern wolle sich ganz vom größten deutschen Gasversorger trennen. Auch Wettbewerber RWE sieht "erhebliche Risiken" in der Gaspreisentwicklung.
"Diese Verträge müssen mit hoher Dringlichkeit zukunftsfest gemacht werden", weiß Gasmanager Schäfer. Bereits im vergangenen Jahr konnte Eon Ruhrgas gegenüber Gazprom dem Vernehmen nach durchsetzen, dass die Ölpreisbindung für einen Teil der Gaslieferungen gelockert wurde. In laufenden Verhandlungen wollen die Importeure den Preis für russisches und norwegisches Pipeline-Gas weiter in Richtung Marktniveau drücken.
Die Gelegenheit könnte bald schon wieder vorbei sein. Denn laut Internationaler Energieagentur könnte die Gasschwemme ihren Höhepunkt bereits erreicht haben. Die Überkapazitäten werden die Preise "wohl mindestens bis etwa 2015" belasten, schätzt der Kölner Energieexperte Bettzüge. Aber danach hätten wieder die Herren der Pipelines das Sagen. Eon-Ruhrgas-Chef Schäfer zeigt sich sicher: "Eine konstante Überversorgung mit Erdgas werden wir in Europa nicht haben."