Atomkraft Schwere Wiedergeburt

Die Atomindustrie bejubelt die angebliche Renaissance der Kernkraft. Auf einer Insel in Finnland baut der französische Areva-Konzern gemeinsam mit Siemens den ersten Atommeiler in Westeuropa seit der Tschernobyl-Katastrophe. Die Hersteller hoffen auf einen weltweiten Verkaufsschlager - trotz erheblicher Schwierigkeiten.

Hamburg - Ende Juni, jedes Jahr aufs Neue, herrscht in Finnland Ausnahmezustand. Dann feiern die Finnen Juhannus, das Mittsommerfest. Während die Sonne kaum unterzugehen scheint, vergnügt man sich tage- und nächtelang auf Freiluftfestivals oder am Lagerfeuer. Die Läden bleiben geschlossen, die Straßen in den Städten leergefegt. Danach wird es richtig ruhig in Finnland. Denn mit der Sommersonnenwende beginnt die wochenlange Urlaubssaison.

Nicht jedoch für Martin Landtman. Der Vizepräsident des Stromkonzerns TVO arbeitet durch. Er muss dafür sorgen, dass Olkiluoto 3 so bald wie möglich in Betrieb gehen kann. Das Projekt duldet keinerlei Aufschub mehr. An der Westküste Finnlands entsteht das angeblich leistungsstärkste Kernkraftwerk (KKW) der Welt: 1600 Megawatt Strom, versprechen die Hersteller, werde der Meiler produzieren. Die größte Baustelle des Landes beansprucht derzeit rund 1500 Arbeiter, monatlich kommen 150 hinzu. "Die Bauarbeiten gehen voran", sagt Landtman knapp.

Olkiluoto 3 - benannt nach seinem Standort, einer Halbinsel im bottnischen Meerbusen - wächst in angemessener Nachbarschaft auf. Olkiluoto 1 und Olkiluoto 2, zwei Siedewasserreaktoren schwedischer Bauart, sind bereits seit Jahrzehnten auf dem Areal aktiv. Zwischen Fichtenwäldern und dem blaugrünen Meer.

Angst vor der Kernkraft? Nicht in Finnland. Mehr als 55 Prozent der aktuellen Parlamentsmitglieder befürworten laut der Tageszeitung "Helsingin Sanomat" einen Ausbau der Kernenergie. Die Bevölkerung sieht das offenbar ähnlich. Über die Hälfte der Finnen vertritt die Ansicht, das aktuelle Kernkraftprojekt sei gut für das Land.

"Wenn wir die fossilen Energiequellen nicht teilweise durch Kernkraft ersetzen, werden wir die Ziele des Kyoto-Protokolls nicht erfüllen können", sagt Landtman. Durch das neue Atomkraftwerk will Finnland CO2-Emissionen spürbar reduzieren, erläutert der TVO-Vizepräsident gegenüber manager-magazin.de. Das Abkommen zur Reduzierung von Treibhausgasen läuft 2012 aus - für die Zeit danach rechnet Landtman mit "neuen, strafferen Zielen". Mit Olkiluoto 3 will Finnland den Anteil der Kernkraft an der Stromversorgung von derzeit 25 auf 35 Prozent erhöhen.

Deutschland - ein Ausnahmefall?

Deutschland - ein Ausnahmefall?

"Wir wollen den Strompreis auf wettbewerbsfähigem Niveau halten", sagt TVO-Projektmanager Landtman. Außerdem müsse Finnland seine drastische Abhängigkeit von einzelnen ausländischen Energielieferanten reduzieren. Ausgerechnet aus Russland beziehen die Finnen einen beachtlichen Anteil ihres Stroms sowie all ihre Gasimporte. Dabei ist das Verhältnis zum übermächtigen Nachbarn seit vielen Generationen von Argwohn und Abwehrreflexen geprägt.

Finnland, ein exotischer Sonderfall? Nein, sagt Landtman: "Wir stehen vor den gleichen Herausforderungen wie alle anderen europäischen Staaten auch".

In Deutschland fordern die Stromkonzerne zwar keinen Neubau, aber wenigstens sollen die bestehenden Kernkraftwerke länger laufen als vorgesehen. Vor Beginn des Energiegipfels am Dienstag gewinnt die Debatte an Schärfe. Unlängst polterte der bayerische Wirtschaftsminister Erwin Huber in einem Interview: "Der Atomausstieg ist ein Klimakiller". Weniger Kernenergie bedeute höhere Strompreise, warnte zudem der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI). Doch der Koalitionsvertrag der Bundesregierung verhindert längere Laufzeiten, Neubauten sowieso.

Erstes Neubauprojekt in Westeuropa seit Tschernobyl

Für die Atomindustrie ist indessen nicht Finnland, sondern die skeptische Bundesrepublik der Außenseiter. "Deutschland ist fast eine Ausnahme in Westeuropa", sagt Philippe Knoche, Projektleiter bei Areva NP. Das Joint Venture des französischen Nuklearkonzerns Areva mit dem Münchener Siemens-Konzern ist für den Bau von Olkiluoto 3 verantwortlich. Areva liefert die Atomtechnik, Siemens  den sogenannten konventionellen Teil - beispielsweise die Turbine. Das Gemeinschaftsunternehmen verfolgt weit größere Ziele, als nur den Stromhunger der Finnen zu stillen.

"Olkiluoto 3 ist das erste nukleare Neubauprojekt in Westeuropa seit vielen Jahren", jubelt Knoche. Genauer gesagt: Das erste seit dem Störfall von Tschernobyl.

Die großen europäischen Energieversorger, sagt Knoche, stünden KKW-Projekten sehr offen gegenüber. Von den Zulieferern ganz zu schweigen: Mehr als 1000 Unternehmen sind am Bau von Olkiluoto 3 beteiligt, darunter zahlreiche deutsche Firmen wie Heitkamp, Bilfinger Berger  und Babcock Borsig .

Hoffnung auf weltweiten Kassenschlager

Hoffnung auf weltweiten Kassenschlager

Das Kraftwerk in Finnland ist nur das Auftaktprojekt. Areva NP baut dort erstmals einen europäischen Druckwasserreaktor (EPR), der besonders sparsam im Uranverbrauch und trotzdem leistungsstärker als seine Vorgänger sein soll. Außerdem bezeichnen die Hersteller den EPR als besonders sicher. Gleich vier unabhängige Sicherheitssysteme sollen das Werk im Notfall herunterfahren können. Eine riesige Betonwanne unterhalb des Reaktors dient dazu, im Ernstfall den geschmolzenen Atomkern aufzufangen.

Der EPR, so hoffen seine Produzenten, soll ein weltweiter Kassenschlager werden. "Es gibt immer mehr Kunden, die Interesse bekunden", sagt Projektleiter Knoche gegenüber manager-magazin.de. Konkrete Gespräche liefen mit den USA, China und Großbritannien. In Frankreich haben die Behörden die Baugenehmigung für einen EPR bereits erteilt. Der neue Reaktor in Flamanville am Ärmelkanal soll bereits 2012 in Betrieb gehen.

Atomkraftgegner in Deutschland dagegen verweisen - neben der ungeklärten Frage der Endlagerung - vor allem auf Sicherheitsprobleme der Kernenergie. Die Brände in den Kernkraftwerken Krümmel und Brunsbüttel lieferten weiteren Zündstoff für die ohnehin hitzige Debatte. Der Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND) forderte die sofortige Stilllegung der beiden Reaktoren in Schleswig-Holstein. Ob die Pannen nun gefährlich waren oder nicht: Die Vorfälle zeigen einmal mehr, dass einiges schiefgehen kann - auch bei vermeintlich sicheren Kraftwerken. Ein Image-GAU für die Atomindustrie.

Auch im Norden Europas verläuft die angekündigte Wiedergeburt der Kernkraft schleppender als geplant. Ausgerechnet beim Prestigevorhaben in Finnland tauchten schon mehrfach unerwartete Probleme bei Planung und Konstruktion auf. Der größte Zwischenfall ereignete sich im September 2005, nur kurz nach Beginn der Bauarbeiten. Der Beton für das Reaktorfundament entsprach nicht der gewünschten Konsistenz, schließlich stoppte die finnische Atomenergiebehörde die Betonierung für zwei Monate. Aufwendige Qualitätstests waren nötig.

"Probleme mit Unterlieferanten"

Vergangenes Jahr kritisierte die Aufsichtsbehörde außerdem, Areva NP arbeite mit Zulieferern zusammen, denen es an Erfahrung im Bau mit Kernkraftwerken mangele. "Mit einigen Unterlieferanten gab es Probleme", räumt Knoche ein. Zuletzt drangen auch noch Greenpeace-Aktivisten in die Baustelle ein, kletterten auf einem Kran herum - und ließen gewisse Zweifel aufkommen, ob die Bauherren überhaupt gegen Sabotage gewappnet sind.

Inzwischen hechelt Areva NP anderthalb Jahre hinter dem Zeitplan her. Die Verzögerungen machen sich auch in der Bilanz des Mutterkonzerns Areva bemerkbar, dessen operatives Ergebnis im Jahr 2006 deutlich schrumpfte. Das Problem: Der Konzern kann die Mehrkosten nicht einfach auf den künftigen Betreiber TVO abwälzen, da beide Seiten einen Fixpreis von 3,2 Milliarden Euro vereinbart haben. Kritiker hatten diese Summe schon lange als Dumpingpreis kritisiert. Am Fall Finnland zeigt sich, mit welchen Kosten- und Koordinationsproblemen ein KKW-Neubau einhergehen kann.

"Sehr unzufrieden mit der Verspätung"

"Sehr unzufrieden mit der Verspätung"

Areva hat bereits Rückstellungen gebildet, die Knoche nicht näher beziffern will. Auch Stromlieferant TVO zeigt sich verärgert. Man sei "sehr unzufrieden aufgrund der Verspätung", sagt Vizepräsident Landtman. Derzeit gebe es allerdings keine Hinweise auf weitere Verzögerungen. Durch den eineinhalbjährigen Ausfall der eingeplanten Stromproduktion entstehe ein Verlust von rund 600 Millionen Euro, schätzt der "Helsingin Sanomat".

Der Projektablauf sei inzwischen entscheidend verbessert worden, verspricht Projektleiter Knoche. Das ganze Bauvorhaben mit seinen vielen beteiligten Mitarbeitern und Zulieferfirmen sei eben sehr komplex. "Wir wollen keinen Weltrekord in der Bauzeit aufstellen", rechtfertigt Knoche die Verzögerungen, "sondern ein sicheres Atomkraftwerk bauen, das 60 Jahre lang läuft".

Dabei sind es gerade die langen Bau- und Laufzeiten eines Atommeilers, die Kritiker auf den Plan rufen. "Wer ein Kernkraftwerk bauen will, legt sich damit sehr langfristig fest", sagt Stephan Kurth, Experte für Nukleartechnik beim Öko-Institut Darmstadt. Die Kapitalkosten eines Kernkraftweks liegen derart hoch, dass sich ein Neubau nur dann lohnt, wenn das Kraftwerk auch über viele Jahrzehnte hinweg am Netz hängt.

Gerade jetzt sei eigentlich ein geeigneter Zeitpunkt, in innovative Konzepte zu investieren, erklärt Kurth - in regenerative Energien beispielsweise oder in Zukunftstechnologien wie Geothermie. "Die derzeitige Situation ist luxuriös", sagt der Forscher, "weil wir eine stabile Energieversorgung haben". Ob Atomkraftwerke eine langfristige Lösung darstellen, hält er zumindest für fraglich - schließlich seien die Uranvorräte begrenzt.

Außerdem bleibt Kernenergie ein Wagnis, zumindest nach Ansicht von Atomkraftskeptikern. Denn trotz des hohen Sicherheitsaufwands sei auch beim neuen EPR ein gewisses Gefahrenpotenzial vorhanden, sagt Kurth: "Einen Störfall kann man nie mit hundertprozentiger Sicherheit ausschließen."

Finnland macht es Kritikern dennoch schwer. Schließlich ist man im Norden Europas weit davon entfernt, ausschließlich auf Kernkraft zu setzen. Geradezu vorbildlich investiert das Land auch in erneuerbare Energien, deren Anteil an der Stromversorgung schon bald steigen soll - "vielleicht sogar auf mehr als 30 Prozent", sagt TVO-Manager Landtman: "Wir setzen auf einen ausgewogenen Energiemix". Dank seiner großen Wälder verfügt Finnland beispielsweise über gewaltige Biomassereserven.

Eon und das Grundstück in Loviisa

Eon und das Grundstück in Loviisa

Selbst die Grünen im Parlament geben sich pragmatisch. Trotz grundsätzlicher Ablehnung der Atomenergie gilt es als unwahrscheinlich, dass sie ihre Regierungsbeteiligung dadurch gefährden wollen. Derzeit wird in Finnland der Neubau eines sechsten Atomreaktors diskutiert, die Zustimmung des Parlaments betrachten Experten als wahrscheinlich. Beide bestehenden Kraftwerksstandorte - sowohl Olkiluoto als das südfinnische Loviisa - haben Interesse am neuen Meiler angemeldet.

Auch ein möglicher Betreiber steht schon in den Startlöchern: Eon Suomi, die finnische Tochter des Düsseldorfer Energieversorgers, hat sich um ein Grundstück in Loviisa bemüht. Doch der Stadtrat lehnte den Verkauf des Areals Mitte Mai ab. Die Bürgervertreter nahmen Anstoß daran, dass im unmittelbaren Umkreis des Standorts fast 2000 Menschen leben. Insgesamt 1200 Anwohner haben eine Petition gegen das Projekt unterschrieben.

"Know-how auf wenige Anbieter beschränkt"

Ein Kompromiss ist allerdings nicht ausgeschlossen. Der Stadtrat, so heißt es in der Presse, will nun Verhandlungen mit einem neu gegründeten Betreiberkonsortium aufnehmen, an dem auch Eon  beteiligt ist. Die Atomkraftbegeisterung in Finnland lässt sich offenbar schwer bremsen. Lassen sich andere Länder, womöglich auch Deutschland, von diesem Enthusiasmus anstecken?

Eine Wende am Energiemarkt zugunsten der Atomkraft kann Nukleartechnikexperte Kurth derzeit jedenfalls nicht erkennen, seit Jahren schon stagniere die Zahl der Kraftwerke: "Es bleibt abzuwarten, welche Neubauprojekte tatsächlich realisiert werden." Ohnehin könne nur eine begrenzte Zahl neuer Atommeiler gleichzeitig gebaut werden, aus Mangel an Experten. "Das nukleartechnische Know-how ist auf wenige Anbieter beschränkt".

Abzuwarten bleibt damit auch, ob die Atomindustrie die erhoffte Wiedergeburt in Westeuropa tatsächlich schafft. Zumindest scheint sich der Zeitpunkt noch ein wenig hinauszuzögern. "Das nukleare Weltbild", so Kurth, "hat sich bislang nicht geändert."

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