Über drei Milliarden Euro weg? Ex-Wirecard-Chef Braun erneut festgenommen

Der Ex-Chef von Wirecard Markus Braun wurde erneut festgenommen
Foto: DPAIm Bilanzskandal beim Dax-Konzern Wirecard hat die Münchner Staatsanwaltschaft drei neue Haftbefehle gegen frühere Führungskräfte gestellt. Dabei gehe es unter anderem um gewerbsmäßigen Bandenbetrug und Marktmanipulation in mehreren Fällen, sagte eine Sprecherin der Staatsanwaltschaft am Mittwoch in München. Ein Kronzeuge und weitere Unterlagen hätten den Ermittlern zudem weitergeholfen: Demnach sollen die Betroffenen schon seit 2015 beschlossen haben, die Wirecard-Bilanz "aufzublähen". Das tatsächliche Geschäft habe bereits damals Verluste geschrieben, sagte die Sprecherin.
Die neuen Haftbefehle richten sich unter anderem gegen den früheren Finanzvorstand Burkhard Ley (61) sowie gegen den früheren Chef-Buchhalter von E., aber auch erneut gegen Ex-Vorstandschef Markus Braun (51). Der frühere Wirecard-Chef sei nun wieder festgenommen worden. Ein erster Haftbefehl gegen ihn war gegen eine Kaution von fünf Millionen Euro außer Vollzug gesetzt. Nun sei ein neuer, erheblich erweiterter Haftbefehl beantragt und erlassen worden, heißt es in der Mitteilung der Staatsanwaltschaft weiter.
Alle drei Beschuldigten seien bereits der Haftrichterin vorgeführt worden, die auf Antrag der Staatsanwaltschaft Haftfortdauer angeordnet habe. Die drei Beschuldigten seien in München festgenommen worden, sie hätten sich nicht selbst gestellt, erklärte die Sprecherin weiter. Ley war von 2006 bis 2017 Finanzvorstand von Wirecard. Für Ex-Vorstandschef Braun dürfte die neuerliche Inhaftierung wahrscheinlich überraschend gekommen sein, da die Ermittler ihn festnahmen, als er sich wie vorgesehen bei der Polizei meldete. Alle drei hätten sich nicht gestellt, berichtete die Sprecherin.
Bereits in Untersuchungshaft befindet sich B., der frühere Chef der Wirecard-Tochtergesellschaft Cardsystems Middle East in Dubai. Der deutsche Manager hatte sich Anfang Juli gestellt und war dafür zuvor aus den Vereinigten Arabischen Emiraten nach München gereist. Wer der Kronzeuge ist, enthüllten die Ermittler bislang nicht, doch hatte der ehemalige Cardsystems-Geschäftsführer seine Kooperation zugesagt.
Hierarchisches System, geprägt von Corpsgeist und Treueschwüren
Zeugenaussagen und Urkunden begründeten der Staatsanwaltschaft zufolge den Verdacht, dass die Beschuldigten Braun, Ley, von E. und B., unter Beteiligung von weiteren Mittätern im Jahr 2015 übereinkamen, die Bilanzsumme und das Umsatzvolumen von Wirecard durch das Vortäuschen von Einnahmen aus Geschäften mit sogenannten Third-Party-Acquirern (TPA) aufzublähen, berichtete die Staatsanwaltschaft weiter. Das Unternehmen sollte dadurch finanzkräftiger und für Investoren und Kunden attraktiver dargestellt werden, um so regelmäßig Kredite von Banken und sonstigen Investoren zu erlangen, heißt es in der Pressemitteilung. Die Beschuldigten hätten jedoch spätestens seit Ende 2015 gewusst, dass der Konzern mit den tatsächlichen Geschäften insgesamt Verluste erzielte.
"Banken in Deutschland und Japan sowie sonstige Investoren stellten, durch die falschen Jahresabschlüsse getäuscht, Gelder in Höhe von rund 3,2 Milliarden Euro bereit, die aufgrund der Insolvenz der Wirecard AG höchstwahrscheinlich verloren sind", hieß es in der Mitteilung der Ermittler weiter. Wie viel Substanz in dem Unternehmen steckt, ermittelt derzeit Insolvenzverwalter Michael Jaffé.
Die Staatsanwaltschaft lieferte zudem eine mögliche Erklärung dafür, wie sich das mutmaßlich betrügerische Vorgehen bei Wirecard in dieser Form über Jahre hinweg etablieren konnte: Es habe ein streng hierarchisches System gegeben, geprägt von einem Corpsgeist und Treueschwüren gegenüber dem Vorstandsvorsitzenden als Führungsperson.
Bandenbetrug, Untreue, unrichtige Darstellung und Marktmanipulation
Wirecard mit Sitz in Aschheim bei München hatte vor dem Insolvenzantrag eingeräumt, dass 1,9 Milliarden Euro, die angeblich auf philippinischen Treuhandkonten verbucht waren, mit überwiegender Wahrscheinlichkeit nicht existieren. Die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft KPMG hatte das Loch in der Bilanz im April öffentlich gemacht. Bei diesen 1,9 Milliarden Euro handelte es sich um die angeblichen Erträge von Geschäfte mit Subunternehmern, die für Wirecard Kreditkartenzahlungen in Südostasien und im Mittleren Osten abwickelten.
Von den insgesamt 45 Tochtergesellschaften der Muttergesellschaft Wirecard gab es überhaupt nur drei, die nennenswert profitabel waren. Über die Cardsystems in Dubai liefen die mutmaßlichen Scheingeschäfte, diese Firma steuerte 2018 mit 237 Millionen einen großen Anteil des Wirecard-Gewinns bei.
Die Staatsanwaltschaft teilte weiter mit, dass die Beschuldigten zudem entgegen ihrer Verpflichtungen gegenüber Wirecard das Vermögen des Unternehmens durch den Kauf von Unternehmen und Unternehmensanteilen zu überhöhten Preisen geschädigt hätten. So wird gegen die Beschuldigten in zum Teil verschiedenem Umfang gewerbsmäßiger Bandenbetrug, Untreue, unrichtige Darstellung und Marktmanipulation in mehreren Fällen vorgeworfen. Die Staatsanwaltschaft betonte, dass sie weiterhin ergebnisoffen ermittele.
Aussagen seitens der Staatsanwaltschaft zu dem untergetauchten ehemaligen Wirecard-Vorstand Jan Marsalek (40) erfolgten am Mittwoch nicht. Der österreichische Manager wird per internationalem Haftbefehl gesucht. Zuletzt hieß es laut verschiedenen Medienberichten, er halte sich in Russland unter Obhut des russischen Militärgeheimdienstes auf.
Umstrittene Kontakte ins Kanzleramt
Unterdessen wurden weitere Kontakte zwischen dem Bundeskanzleramt und Wirecard bekannt. Vizeregierungssprecherin Ulrike Demmer (47) bestätigte am Mittwoch, dass der frühere Geheimdienstkoordinator der Regierung, Klaus-Dieter Fritsche (67), im September 2019 erfolgreich einen Gesprächstermin mit dem Wirtschaftsberater von Bundeskanzlerin Angela Merkel (66, CDU), Lars-Hendrik Röller (62), vermittelte.
Schon in der vergangenen Woche war bekannt geworden, dass auch der frühere Bundesverteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg (48) in der Regierungszentrale für Wirecard geworben hatte. Das Kanzleramt setzte sich daraufhin während Merkels China-Reise Anfang September 2019 für den dortigen Markteintritt des Dax-Konzerns ein.
Der Finanzausschuss des Bundestags widmet sich am Mittwoch kommender Woche in einer Sondersitzung dem Fall Wirecard. Bundesfinanzminister Olaf Scholz (62, SPD) und Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier (62, CDU) wollen sich dabei den Fragen der Abgeordneten stellen. Zu Forderungen nach einem Erscheinen auch von Bundeskanzlerin Angela Merkel sagte Demmer dagegen, sie gehe davon aus, "dass sie nicht daran teilnimmt".
Der Grünen-Finanzexperte Danyal Bayaz nannte die Verstrickung der Bundesregierung in den Fall Wirecard in Berlin "geradezu surreal" und forderte umfassende Aufklärung. Die Grünen-Politikerin Lisa Paus drang in der "Rheinischen Post" auf "strukturelle Reformen" bei der Finanzaufsichtsbehörde Bafin.