Angst vor systemischen Folgen Was der Kollaps der Silicon Valley Bank bedeutet

Der wichtigste Techfinanzierer Kaliforniens hat die größte Bankenpleite seit der Finanzkrise hingelegt. Die Unruhe ist seither gewaltig – in der Start-up-Welt genauso wie in der Finanzindustrie. Das sind die Hintergründe.
Vorerst geschlossen: Seit Freitag sind die Filialen der Silicon Valley Bank und die Zentrale in Santa Clara dicht

Vorerst geschlossen: Seit Freitag sind die Filialen der Silicon Valley Bank und die Zentrale in Santa Clara dicht

Foto: NOAH BERGER / AFP

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Seit 1993 arbeitet Greg Becker (52) für die Silicon Valley Bank, im Prinzip sein gesamtes Berufsleben lang. Er machte Karriere während des Dotcom-Booms vor der Jahrtausendwende, leitete während der Finanzkrise ihren Wagniskapitalarm und wurde 2011 ihr Chef. Unter seiner Ägide wuchs das Institut, das sich wie kein zweites auf die boomende Tech- und Start-up-Industrie in Kalifornien fokussierte, zu einer der 16 größten Banken der USA heran. Weltberühmt sind die Silicon Valley Bank (SVB) und ihr CEO aber erst seit vergangener Woche – seit sie die größte Bankenpleite seit der globalen Finanzkrise 2008 hinlegten.

"Mit unglaublich schwerem Herzen": Bank-CEO Greg Becker

"Mit unglaublich schwerem Herzen": Bank-CEO Greg Becker

Foto: Patrick T. Fallon / AFP

Innerhalb weniger Tage hatten Becker und seine Leute das Vertrauen der Anleger und Kunden derart verloren, dass am Freitag die Aufsichtsbehörde FDIC die Kontrolle übernahm und die Bank schloss. Die Turboimplosion der SVB ist ein spektakulärer Fall. Er offenbart, welche drastischen Folgen Managementfehler in unruhigen Zeiten haben können. Und er löst Sorgen um die Stabilität des Finanzsystems und die Zukunft der Start-up-Industrie aus.

Aufstieg im Tech-Boom

Die Bank, die 1983 von den Mitbegründern Bill Biggerstaff und Robert Medearis während eines Pokerspiels ins Leben gerufen wurde, nutzte ihre Wurzeln im Silicon Valley, um sich zu einem finanziellen Eckpfeiler in der Technologiebranche zu entwickeln. Wie keine andere verband sie sich mit den Start-ups und den Gründerinnen und Gründern. Gab es seine Series-A-Finanzierung, landete das Geld oft zunächst bei der SVB. Sie sei 2022 die Bank für "fast die Hälfte" der wagniskapitalfinanzierten Tech- und Healthcare-Firmen gewesen, brüstete sich Becker noch vergangene Woche vor potenziellen Investoren. Die SVB sei auch an 44 Prozent der jeweiligen Börsengänge beteiligt gewesen.

Der Boom des Sektors trug auch die Bank in neue Höhen. Der Börsenwert, der vor Beginn der Corona-Pandemie noch bei gut 10 Milliarden US-Dollar lag, schoss auf bis zu 44 Milliarden Dollar im November 2021; vor gut einer Woche lag er immer noch bei rund 17 Milliarden Dollar. Das billige Geld, das Investoren während der Boomjahre in Techfirmen investierten, packten die Start-ups oft auf Konten bei der SVB. Ende 2022 verwaltete sie rund 172 Milliarden Dollar – und meldete einen Jahresprofit von 3,4 Milliarden Dollar. Die Gruppe stand im Ruf, besonders günstige Kredite auch an unprofitable Jungfirmen mit teilweise hochriskanten Geschäftsmodellen zu vergeben; sie beteiligte sich über ihren Arm SVB Capital auch direkt. In kleinem Umfang fungierte sie zudem als Vermögensverwalter für die Jungmillionäre der Szene.

Der implodierte Tech-Finanzierer

Die SVB Financial Group mit Sitz in Santa Clara steht seit dem 10. März unter Kontrolle der US-Aufsichtsbehörde FDIC. Die Gruppe verwaltete zu dem Zeitpunkt Assets im Wert von 209 Milliarden Dollar, sie bestand aus mehreren Teilen. Ende 2022 hatte die Gruppe rund 8500 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.

Das einströmende Geld legten Beckers Leute an. Sie kauften für viele Milliarden Dollar US-Staatsanleihen und andere Papiere wie Mortgage Backed Securities (MBS); die versprachen Zinsen von vielleicht 1,5 Prozent, aber die Leitzinsen der Notenbanken lagen damals bei null. Dann jedoch kam die Zinswende, die Becker und seine Bank gleich doppelt traf.

Weil plötzlich weniger Geld in Start-ups gesteckt wurde, versiegten die Geldströme; es kam deutlich weniger rein – und weil die Start-ups selbst so viel Geld brauchten, floss viel mehr ab als erwartet: Seit dem ersten Quartal 2022, das zeigen aktuelle Daten der Bank , schrumpften die Assets, teilweise um 25 Milliarden Dollar pro Quartal. Dass es ungemütlich werden könnte, ahnten Beobachter seit Monaten. Bereits im November riet der Wagniskapitalfinanzierer Greenoak Capital, der in Deutschland etwa an Personio beteiligt ist, seinen Firmen, ihr Geld bei der SVB abzuziehen und in Sicherheit zu bringen.

Parallel – der zweite Effekt nach der Zinswende – verloren die Anleihen in den Büchern der SVB-Bank drastisch an Wert. Ihr Kurs sinkt, wenn die Leitzinsen der Zentralbanken steigen, die in den USA inzwischen wieder bei 4,75 Prozent liegen. Bis zu einem Verkauf der Anleihen bestehen die Abschläge nur auf dem Papier, aber sie erhöhen die Risiken der Banken, sollten sie kurzfristig Liquidität brauchen. Insgesamt, so warnen die Aufsichtsbehörden, würden diese unrealisierten Verluste in den Büchern der US-Banken aktuell rund 620 Milliarden Dollar betragen. Das Phänomen betrifft also keineswegs die SVB allein. Noch am Montag vergangener Woche, fünf Tage vor dem SVB-Kollaps, hatte FDIC-Chairman Martin Gruenberg die versammelten Finanzmanager in Washington noch vor den Risiken gewarnt.

Der misslungene Rettungsplan

Die Lage bei der SVB eskalierte, als die Ratingagentur Moody`s Mitte vorvergangener Woche per Telefonanruf ankündigte, ihr Kreditrating zu senken. So berichtet es die Nachrichtenagentur Reuters mit Bezug auf Insider. Aus Sorge um das Vertrauen der Anleger suchte SVB-Chef Becker Rat bei der Investmentbank Goldman Sachs. Er flog nach New York, verhandelte auch mit Moody's und anderen Ratingfirmen. Über das Wochenende bastelten sie einen Notfallplan.

Die Idee: Um kurzfristig Geld zu bekommen, wollte Becker Anleihen aus seinen Beständen verkaufen. Zu niedrigem Kurs leider, aber die Lücke wollte er über neu ausgegebene Aktien füllen. Doch dieser Plan entpuppte sich als spektakulärer Fehler.

Teil eins lief noch wie gedacht. Anfang vergangener Woche verkauften Beckers Leute niedrig verzinste Anleihen im Wert von rund 21 Milliarden Dollar, vor allem US-Treasuries mit einer durchschnittlichen Verzinsung von 1,75 Prozent. Der Verlust: 1,8 Milliarden Dollar.

Die Lücke sollten im zweiten Schritt nun Investoren füllen, die – am besten über Nacht von Mittwoch auf Donnerstag vergangener Woche – neue Aktien im Wert von 2,25 Milliarden Dollar zeichnen sollten. Der Finanzinvestor General Atlantic etwa hatte bereits eine Zusage über 500 Millionen Dollar gegeben. Doch der Schritt misslang. Mit Veröffentlichung des Prospekts brach ein Sturm über Becker und die SVB herein – die Mitteilung löste einen klassischen Bank-Run aus.

Namhafte Venture-Capital-Firmen zogen ihre Gelder bei der Bank ab und riefen ihre Portfolio-Firmen auf, es ihnen gleichzutun. Der Founders Fund von Star-Investor Peter Thiel (55) empfahl es laut Bloomberg etwa per Rundschreiben all seinen Beteiligungen. Ähnlich reagierten die berühmten Investoren Coatue Management, Union Square Ventures oder Founder Collective. In der gut vernetzten Start-up-Community machte sich Panik breit: Wer bekommt noch Geld – und wer nicht?

Vorsicht: Der Founders Fund von Peter Thiel zog rechtzeitig alle Gelder ab

Vorsicht: Der Founders Fund von Peter Thiel zog rechtzeitig alle Gelder ab

Foto: Marco Bello / Getty Images

Die extreme Abhängigkeit von nur einer Branche wurde der SVB zum Verhängnis. Verzweifelt wandte sich Bankchef Becker am Donnerstag an die Kundschaft. Die Wagniskapitalgeber sollten "ruhig bleiben", bat er in einem etwa zehnminütigen Call am Vormittag. So wie die Bank die Branche in den vergangenen 40 Jahren unterstützt habe, sollten die Investoren nun die Bank stützen. Vergeblich. Der Kurs sackte allein am Donnerstag um 60 Prozent ab, der Finanzinvestor General Atlantic stieg aus dem geplanten Aktiendeal aus. Die Rettung, an die Becker und die Berater von Goldman Sachs noch bis zuletzt geglaubt hatten, war geplatzt.

Am Freitag wurde zunächst der Kurs vom Handel ausgesetzt, bevor am Nachmittag die US-Behörde FDIC die Kontrolle übernahm. Die Silicon Valley Bank war pleite.

Was bedeutet die Pleite für die Start-up-Welt?

Einlagen bis zu einer Summe von 250.000 Dollar sind abgesichert, sie wurden an eine neu gegründete Gesellschaft unter behördlicher Kontrolle übertragen und sollen ab Montag ausbezahlt werden können. Allerdings fallen die allermeisten Einlagen nicht unter die Regel. Ende 2022 waren 89 Prozent der 175 Milliarden Dollar nicht versichert. Wie hoch der Anteil aktuell ist, war nach den Panikabhebungen laut FDIC am Freitag nicht zu sagen. Was mit den Vermögen passiert, ist unklar.

In der Start-up-Community dürften die Folgen deutlich zu spüren sein. Unternehmen, die keinen Zugriff auf ihre Konten haben, könnten Probleme bei Gehaltsauszahlungen oder Finanzdienstleistungen für ihre eigene Kundschaft bekommen.

Unternehmen wie der Videospielhersteller Roblox oder der Hersteller von Streaming-Geräten Roku etwa gaben an, dass sie Hunderte von Millionen Dollar an Einlagen bei der Bank haben. Roku erklärte per Mitteilung an die Aufsichtsbehörden, rund 26 Prozent der Cashreserven – 487 Millionen Dollar – lägen bei der SVB. Es sei unklar, wann und in welchem Umfang das Unternehmen Zugriff darauf bekomme. Der Aktienkurs der Firma verlor daraufhin nachbörslich rund ein Zehntel.

Die Alarmstimmung gewaltig. "Dies ist für Start-ups ein Ereignis auf Aussterben-Level", sagte etwa Garry Tan, CEO von Y Combinator, dem legendären kalifornischen Inkubator, der Firmen wie Airbnb, DoorDash oder Dropbox ins Leben gerufen und Hunderte von Unternehmern an die Bank verwiesen hat. "Ich habe buchstäblich von Hunderten unserer Gründer gehört, die um Hilfe gebeten haben, wie sie das durchstehen können. Sie fragen: 'Muss ich meine Mitarbeiter entlassen?'" Tan schätzt, dass fast ein Drittel der Y Combinator-Start-ups im nächsten Monat nicht in der Lage sein wird, ihre Gehaltsabrechnungen zu erstellen, wenn sie keinen Zugang zu ihrem Geld bekommen würden.

Bis zum späten Samstag hatten mehr als 3.500 Start-up-CEOs, Gründerinnen und Gründer, die rund 220.000 Angestellte vertreten, eine von Y Combinator gestartete Petition unterzeichnet, in der direkt an die US-Finanzministerin Janet Yellen (76) und andere appelliert wird, die Einleger zu unterstützen. In der Petition wird eine "stärkere aufsichtsrechtliche Kontrolle und höhere Eigenkapitalanforderungen für Regionalbanken" sowie eine Untersuchung etwaiger "Vergehen oder Misswirtschaft" der SVB-Führungskräfte gefordert. Mehr als 100.000 Arbeitsplätze könnten gefährdet sein, warnte die Petition.

Auch europäische Start-ups könnten von den Verwerfungen betroffen sind, heißt es. Wer US-amerikanische Investoren habe, könnte auch Geschäftsbeziehungen zur SVB oder deren britischer Tochter haben. Die kommenden Tage dürften extrem unruhig werden. Am Wochenende kündigte die britische Regierung bereits an, alles zu tun, um die wachstumsstärksten Unternehmen des Landes nicht zu gefährden. "Die Regierung behandelt dieses Thema mit hoher Priorität", sagte der britische Finanzminister Jeremy Hunt (56) am Sonntag.

Wie hoch sind die Risiken für die Banken-Welt?

Unruhe herrscht auch in Banken und Finanzindustrie. Schon Ende vergangener Woche waren Bankaktien im Zuge der SVB-Implosion deutlich ins Rutschen geraten, Sorgen vor einem Dominoeffekt im gesamten System machten sich breit. Die deutsche Commerzbank sah sich sogar genötigt, eine beruhigende Mitteilung auszusenden.

Die zentrale Frage: Wie hoch sind die Risiken, die in den Büchern der übrigen Banken schlummern? "Dies ist der erste Moment, seit die Zinsen gestiegen sind, in dem wirklich ein systemisches Risiko entstanden ist", warnte etwa Florian Ielpo, Leiter der Makroabteilung bei Lombard Odier Investment Managers. "Bisher sind es nur Anzeichen, aber wir müssen besonders vorsichtig sein."

Besonders kleinere Banken könnten Probleme bekommen. "Man hat das Gefühl, dass sich der Markt zuerst bei den Regionalbanken umsehen wird, die keine Kreditdiversifizierung haben", sagte Greg Hertrich, Leiter der US-Einlagenstrategien bei Nomura. Vor allem Instituten, die einen ähnlich hohen Anteil unversicherter Einlagen haben wie die SVB, droht ein massiver Einlagenabfluss, wenn auch dort Anleger ihr Geld in Sicherheit bringen wollen.

"Nächste Woche könnte es ein Blutbad geben, denn die Leerverkäufer sind da draußen und werden jede einzelne Bank angreifen, vor allem die kleineren", warnte sogar Christopher Whalen, Vorsitzender von Whalen Global Advisors.

Die meisten Experten allerdings prophezeien, dass die Auswirkungen auf den restlichen Bankensektor begrenzt sein dürften. Größere Institute verfügen über vielfältigere Portfolios und Einlagenkunden als die SVB. Außerdem war die SVB in hohem Maße auf den Start-up-Sektor angewiesen. "Wir glauben nicht, dass es ein Ansteckungsrisiko für den restlichen Bankensektor gibt", sagt daher David Trainer, CEO von New Constructs, einem Investment Research-Unternehmen. "Die Einlagenbasis der großen Banken ist viel breiter gefächert als die der SVB, und die großen Banken sind finanziell gesund."

Ähnlich sieht es auch Bankenexperte Rainhard Schmidt von der Goethe-Universität in Frankfurt. Die Ereignisse in Kalifornien stellten ein "Musterbeispiel für eine unangemessene Panikreaktion der Aktienmärkte" dar, sagte der Ökonomie-Professor der Deutschen Presseagentur. Es bestehe kein Systemrisiko. Denn die Silicon Valley Bank habe ein sehr spezielles Geschäftsmodell verfolgt, "das wirklich keine Ähnlichkeiten zu denen fast aller Banken der meisten Länder aufweist".

Suche nach Käufer läuft, Regulierer erwägen Notfall-Fonds

Für die Reste der kollabierten SVP sollen Käufer gefunden werden. Während der Finanzkrise war den US-Behörden ein solches Kunststück über das erste Wochenende gelungen. Auch jetzt soll es Interessenten für Teile der Bank geben.

Die US-Notenbank Fed hat für Montag eine Sitzung ihres Gouverneursrats unter Ausschluss der Öffentlichkeit angekündigt. Es werde dabei in erster Linie um Vorschuss- und Diskontsätze gehen, teilte die Fed am Sonntag mit. Die Fed und die FDIC erwägen derzeit auch die Einrichtung eines Fonds, der es den Regulierungsbehörden ermöglichen würde, mehr Einlagen bei Banken zu sichern, die nach dem Zusammenbruch der SVB in Schwierigkeiten geraten, so Bloomberg. Laut einem von der Agentur zitierten Insider, erörtern die Aufsichtsbehörden das neue Sonderinstrument in Gesprächen mit Führungskräften der Banken und hoffen, dass eine solche Maßnahme die Anleger beruhigen wird.

SVB-Chef Greg Becker indes wandte sich am Freitag per Videobotschaft an seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Es seien "unglaublich schwierige" 48 Stunden gewesen, die zum Zusammenbruch der Bank geführt hätten. Er überbringe diese Nachricht mit "unglaublich schwerem Herzen".

Er selbst verkaufte Ende Februar, wenige Tage für dem Kollaps, übrigens noch Aktien. Illegal war das nicht, Becker hatte den Deal bereits im Januar bei den Behörden angekündigt. So schlug er wenige vor der Pleite seiner Bank noch eigene Papiere im Wert von 3,6 Millionen Dollar los.

lhy/Reuters, dpa
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