Volkswagen-Abgasskandal: Vom Vorbild zum Buhmann Warum wir alle ein bisschen VW sind

Ex-VW-Chef Martin Winterkorn: Stolz auf Autos - wie die meisten Deutschen
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Es war ein Absturz im öffentlichen Ansehen, wie man ihn selten erlebt hat: 2014 galt Volkswagen (Kurswerte anzeigen) einer Umfrage zufolge noch als das Unternehmen mit der höchsten Reputation in der Welt, heute wird es als "Nordkorea ohne Arbeitslager" verhöhnt. Gestern noch spielte Martin Winterkorn in der Champions League der internationalen Vorstandschefs, jetzt gilt er als ein autokratischer Tyrann, der eine Kultur der Angst kultivierte, als eine Persona non grata.
Das ging schnell. Etwas zu schnell vielleicht? Warum löst die Abgasaffäre bei VW derart heftige Reaktionen aus? Weil wir in Wahrheit alle irgendwie mitgespielt haben. Weil wir alle uns den Spiegel vorhalten müssen. Weil wir alle … ein Stück weit VW sind.
Der Skandal um gefälschte Abgastests bei Europas größtem Autobauer geht in Wahrheit weit über VW hinaus. Um zu verstehen, was in Wolfsburg passiert ist, und welche Lehren man aus der Affäre ziehen kann, führt kein Weg daran vorbei, einen Schritt zurückzutreten und das größere Bild ins Auge zu nehmen. Dann verstehen wir besser, was wir selbst damit zu tun haben.
Ebene 1: Stolz auf deutsche Autos
332.000 Euro lässt sich der Durchschnittsdeutsche sein Auto im Leben kosten. Die Deutschen geben mehr Geld für ihr Auto als für ihre Ernährung aus - anders als die Franzosen, bei denen ist es umgekehrt. Abgesehen vielleicht von den Millennials und Intellektuellen der Großstädte spielt für die meisten Deutschen das Auto eine zentrale Rolle im Leben, für viele ist es (immer noch) sinnstiftend. Eine besondere Rolle spielen dabei die deutschen Hersteller. Kein anderes Land beheimatet so viele Premiumhersteller wie Deutschland, auf den Straßen dieser Welt wird man als Deutscher auf immer die gleichen drei Dinge angesprochen: Fußball, Bier - und Autos.

Georg Vielmetter berät und coacht Vorstände und Geschäftsführer und publiziert und spricht regelmäßig zu Führungsthemen. Er war fünf Jahre im europäischen Managementteam der Unternehmensberatung Hay Group, zuständig für den Geschäftsbereich Leadership. Er ist (zusammen mit Yvonne Sell) Autor des bei AMACOM erschienen Hay Group-Buches "Leadership 2030. The Six Megatrends You Need to Understand to Lead Your Company into the Future."
Viele Deutsche macht das stolz. Und es ist ja auch wirklich schöner, auf Audi, BMW oder Porsche angesprochen zu werden, als auf Panzer, Flaks und Stechschritt. Brauhäuser auf der ganzen Welt, das Sommermärchen und Autos made in Germany - all das hat einen erheblichen Anteil am neuen, positiven Image Deutschlands. Und natürlich freuen wir uns in Wahrheit alle darüber. Wir sind stolz auf unsere Autos.
Jens Jessen hat in der "Zeit" argumentiert, dass sich die "Reste des angeschlagenen deutschen Nationalstolzes" in den "Produktstolz" hinübergerettet haben. Und was versinnbildlicht den Aufstieg der Deutschen besser als der VW-Konzern, der ebenfalls aus Ruinen auferstanden ist? Anders als Mercedes und BMW, die schon lange Premiummarken waren, mussten sich Audi und VW erst hocharbeiten. Insofern ist VWs Aufstieg auch der der Deutschen: harte Arbeit, gute Technik, kein Schnickschnack, nüchtern und direkt. Mehr Identifikationspotential lässt sich kaum denken.
Ebene 2: Die Macht der Hersteller
Die Autoindustrie spielt für die deutsche Wirtschaft und damit auch für den Wohlstand in Deutschland in etwa die Rolle wie der Finanzsektor in Großbritannien. Unverzichtbar. Geht es den Banken im Vereinigten Königreich schlecht, müssen sich die Briten warm anziehen. Das gleiche gilt für die Autoindustrie in Deutschland.
Zugleich befindet sich die deutsche Politik in einem Zielkonflikt: Sie muss Anspruchsberechtigte mit unterschiedlichen, ja gegensätzlichen Interessen zufrieden stellen. Die Autofahrer, die bezahlbare Autos wollen, die Umweltbewussten, die an das Klima und den Ressourcenverbrauch denken, die EU-Kommission, die schärfere Regularien fordert, die Autoindustrie, die an niedrigen Standards interessiert ist.
Diese Zielkonflikte werden vom Politiksystem zwar berücksichtigt, zugleich aber bleibt die Automobilindustrie der mächtigste Akteur. Die Folge: Regierungen jeglicher Couleur sind vorsichtig und nachsichtig zugleich mit den Herstellern. Herr Cameron kämpft für die Banken, Frau Merkel für die Autobauer. Man sägt nicht an dem Ast, auf dem man sitzt. Das ist in Deutschland genauso wie in Frankreich, Italien und Schweden - zufällig die Länder mit den letzten relevanten Fahrzeugherstellern in Europa. Eine Konsequenz daraus - und die ist für den Fall VW relevant - zeigt sich auf der nächsten Ebene: eine bizarre Testkultur im Automobilsektor.
Ebene 3: Ausblenden der Realität
Es gibt also Regularien und standardisierte Tests, aber man legt die Dinge bewusst lax aus und verlässt sich gern auf Aussagen der Industrie. Niemanden stört es, dass der offiziell angegebene und standardisiert getestete Benzinverbrauch schon immer vom tatsächlichen massiv abwich. Dass die Laborwerte mit realen Emissionen wenig zu tun haben. Psychologisch entwertet das natürlich die Tests. Ein Test, der nicht einmal versucht, eine valide Aussage über die Realität zu machen, ist eigentlich kein Test mehr. Und jede Behörde, jeder Automanager, ja sogar jeder Laie weiß, dass die gesetzlichen Tests nicht die Realität abbilden. Das Zukleben des Kühlergrills, das Ausbauen der Sitze, das Aufziehen von Leichtlaufrädern geschieht im Einverständnis mit den Behörden.
Das ist der Unterschied zwischen einem realitätsverzerrenden Eingriff und einer realitätsverzerrenden Manipulation: Der Eingriff findet im Einvernehmen, gar in Zusammenarbeit mit den Behörden statt. Die Manipulation hinter ihrem Rücken. In beiden Fällen entsteht eine Kultur der Realitätsausblendung. Diese wiederum wird von der Bevölkerung gerne mitgetragen.
Unter einer ethisch-psychologischen Perspektive kann man argumentieren, dass die Akzeptanz realitätsverzerrender, nicht-valider Tests durch das Gros der Bevölkerung, der Politik und der Wirtschaft einen Dammbruch darstellt. Von der (legalen) Motorensteuerung durch Chiptuning zum (illegalen, von VW durchgeführten) Einbau eines Softwareschalters ist es wahrlich keine lange Wegstrecke.
Und selbst die illegale Manipulation stellt ja keine Ausnahme in der Autoindustrie dar. Wenigstens neun Fahrzeughersteller wurden in den letzten zwanzig Jahren von der amerikanischen Umweltbehörde EPA wegen vorsätzlicher Emissionsmanipulationen, ganz ähnlich denen von VW, zu Strafzahlungen gezwungen. Das also ist der Kontext, vor dem der VW-Skandal stattfindet: Wir Deutschen sind stolz auf unsere Autos und identifizieren uns hochgradig mit den heimischen Herstellern. Die deutsche Politik tut, was sie kann, um diesen das Leben leicht zu machen. Die Testkultur der Industrie ist gekennzeichnet durch Realitätsverzerrung, womit weder Politik noch Bevölkerung ein Problem haben. Wir wissen ja sowieso, dass die deutschen Autos überlegen sind.
Und an dieser Stelle kommen zwei Besonderheiten von Volkswagen ins Spiel.
Ebene 4: Inkonsistente Anforderungen der Hauptakteure
Die erste ist das eigentümliche Corporate-Governance-Modell von VW. Es gibt drei Hauptakteure, die unterschiedliche, zum Teil inkonsistente Interessen haben und der Führung das Leben schwer machen.
- Das Land Niedersachsen, das in erster Linie an Arbeitsplätzen in Niedersachsen und hoher Dividende interessiert ist (schon das ist ein Widerspruch in sich).
- Die extrem starke und einflussreiche Gewerkschaft, der es vor allem um die Arbeitsplätze der Festangestellten und um hohe Löhne geht (und die einen Organisationsgrad erreichen, wie man ihn sonst nur aus sozialistischen Ländern kannte).
- Die Eigentümerfamilien Porsche und Piëch, die zwar ihre Probleme miteinander haben, die aber das Ziel eint, der weltgrößte Autobauer zu werden.
Diese drei großen Stakeholder haben über die Jahre eine Form des Zusammenlebens gefunden, die man - in Anspielung auf eine französische Regierungsform - als Kohabitation bezeichnen könnte. Man gehört unterschiedlichen Lagern an; keiner ist stark genug, sich allein durchzusetzen, also findet man Mittel und Wege, sich zu arrangieren. Interessant ist auch, dass es sich um eine Kohabitation großenteils nicht-unternehmerischer Unternehmer handelt, da nur die Eigentümerfamilien echte unternehmerische Interessen vertreten.

Für das Management von Volkswagen ist das eine schwierige Situation. Es bedeutet nämlich, inkonsistente Anforderungen erfüllen zu müssen, denen vor allem eines gemeinsam ist: Sie treiben die Kosten. VW hat viel mehr Mitarbeiter als der ähnlich große Toyota-Konzern, produziert an wesentlich teureren Standorten (wie in Niedersachsen), hat viel mehr "Hobby"-Marken (wie etwa Bugatti und Ducati) - all dies geht auf Forderungen der Hauptakteure zurück. Ebenso wie der überstarke Fokus auf die Dieseltechnologie: Ferdinand Piëch, der langjährige Vorstandsvorsitzende und Aufsichtsratschef, hatte 1989 stolz den ersten Audi TDI vorgestellt.
Das Management von Volkswagen steht also - auch wegen inkonsistenter Anforderungen der Hauptakteure - unter enormem Kostendruck, soll aber gleichzeitig der größte Autohersteller der Welt werden.
Was also macht das Management?
Ebene 5: Angst als Führungsinstrument
Es gibt den Druck weiter. Hier kommt die spezifische Führungskultur von Volkswagen ins Spiel. Intuitiv verständlich wird diese sofort, wenn man sich ein Youtube-Video anschaut, das Martin Winterkorn vor wenigen Jahren auf der Frankfurter Automobilmesse IAA am Stand von Hyundai zeigt, wo er den Golf-Konkurrenten i30 inspiziert. Ingenieursköniggleich, mit Taschenlampe und Zollstock bewaffnet, checkt der damalige VW-Chef Details, seine Entourage in gebührendem Abstand. Dann stellt er fest, dass sich das Lenkrad des Hyundai verstellen lässt, ohne zu scheppern. "BMW kann's nicht, wir können's nicht, wieso kann der's?" Er "bittet" den Chefdesigner hinzu ("Bischoff!"), der kniet vor dem Wagen und versucht, sich zu verteidigen. "Wir hatten ja mal eine Lösung gehabt, die war aber zu teuer..." Winterkorns einzige Reaktion: "Warum kann's der?"
Es gibt hier eine interessante Parallele zu dem in den USA inkriminierten Dieselmotor. Auch für dessen Abgasprobleme hatte VW eine Lösung, aber auch die war zu teuer. Die ursprüngliche Idee des erheblich moderner agierenden früheren VW-Markenchefs Wolfgang Bernhard, für diesen hochkomplexen Motor eine Entwicklungspartnerschaft mit Mercedes einzugehen, kam natürlich für Piëch und Winterkorn auch nicht infrage.
Hier zeigt sich das gesamte Problem von Volkswagen in nucleo: Der Kostendruck ist enorm, dem Top-Management werden extreme Ziele gesetzt, dieses wiederum setzt den Mitarbeitern Ziele, die sie nicht einhalten können. Es wird auf traditionellste Alphamännchen-Weise geführt, es gibt keinen Dialog, nicht einmal die Offenheit, den anderen anzuhören, sinnvolle Partnerschaften werden nicht eingegangen, der Umgang scheint von Aggression, Kontrolle und Angst gekennzeichnet zu sein.
Ist es da verwunderlich, dass einzelne Akteure verzweifelt zu (Software-) Manipulationen greifen? Wissend - und hier kommen all die vorher analysierten Ebenen als notwendige Randbedingungen ins Spiel -, dass das vorher schon etliche andere gemacht haben, die mit vergleichsweise geringen Strafen davon kamen? Wissend, dass die meisten Tests sowieso nicht valide sind und es bis auf ein paar Umweltschützer keinen wirklich kümmert? Dass die Politik ein Freund ist, der den Betrug bis heute, auch nach der Ausweitung des Skandals, als "Unregelmäßigkeiten" bezeichnet, so als handele es sich um eine verspätete U-Bahn? Wissend, dass es in China - VWs wichtigstem Absatzmarkt - niemanden ernsthaft interessiert und die Deutschen wahrscheinlich genauso nachsichtig oder vergesslich sein werden wie beim Lopez-Skandal um gestohlene Firmengeheimnisse oder dem um die Bordellbesuche der Betriebsräte?

Wir Deutschen sind jetzt vielleicht ein bisschen sauer. Aber so leicht lassen wir uns unseren "Produktstolz" dann doch nicht nehmen. Erst recht nicht, wenn jetzt einige von "Volks"-Wagen auf den "Volks"-Charakter schließen zu können glauben. Aber wenn man genauer darüber nachdenkt: Ist das nicht eigentlich ganz richtig? Sind wir Deutschen nicht ein bisschen wie VW: nüchtern, technikbegeistert und detailverliebt? Es sind schließlich gute Autos! Und Unregelmäßigkeiten kommen doch in den besten Familien vor. Oder?