
Die nächste Disruption Rechnung mit sieben Unbekannten für die deutsche Autoindustrie


Deutsche Autoindustrie: Der Wechsel zur Elektromobilität ist nur einer von sieben Trends, den die Autobauer berücksichtigen müssen
Foto: Christoph Soeder / picture alliance/dpaPutins Krieg gegen die Ukraine ist eine Zeitenwende – nicht nur gesellschaftlich und politisch, sondern auch ökonomisch. Die Automobilbranche, die mitten in einer grundlegenden Transformation steckt und noch immer mit den Folgen der gerissenen Lieferketten aufgrund der Covid-Pandemie kämpft, ist dabei besonders gefordert. Klar ist schon jetzt: Ein Weiter so wird es nicht geben. Die Unternehmen müssen sieben Herausforderungen gleichzeitig lösen. So könnte es gehen:
1. Krieg in der Ukraine
Die Versorgung mit Bauteilen war zuvor schon schlecht, jetzt schlägt der Ukraine-Krieg die nächste Lücke in die brüchigen Lieferketten: Kabelsysteme für Pkw und Nutzfahrzeuge wurden bisher bevorzugt an Low-Cost-Standorten wie der Ukraine gefertigt. Allein der Zulieferer und Kabelspezialist Leoni beschäftigt circa 7000 Mitarbeiter in ukrainischen Werken. Der durch die Kampfhandlungen verursachte zeitweilige Lieferstopp führte unter anderem in Fabriken von BMW und Volkswagen zu erneuter Kurzarbeit.
Zwar verfügt die Zulieferindustrie über weitere Standorte in Osteuropa, unter anderem in Tschechien, Serbien, Ungarn und Rumänien, auch in Nordafrika. Doch selbst zusammengenommen können diese die fehlenden Kapazitäten nicht auffangen. Hier sind kurzfristige und flexible Maßnahmen gefragt: vom Dreischicht- und Wochenendbetrieb an den verbliebenen Standorten bis zur schnellen Umsetzung von Neubauprojekten an geeigneten Standorten.
2. Corona und kein Ende
Dank immer neuer Virusvarianten ist Covid-19 zur rollierenden Pandemie mit ständigen, unkalkulierbaren Personalausfällen mutiert. In Changchun (China) sind gerade wieder fünf große Autofabriken geschlossen worden, darunter das Werk von FAW-Volkswagen. Auch in Deutschland fallen immer wieder Produktionsschichten aus, da zu viele Beschäftigte erkrankt sind oder sich in Quarantäne befinden.
Covid-19 wird – entgegen aller Hoffnungen - die Industrie noch jahrelang beschäftigen. Abhilfe wird wohl nur ein umfassend wirksamer Impfstoff schaffen, der eine Erkrankung wirksam verhindert und nicht nur die Symptome mildert. Bis dahin dürften ein präventiver Schutz der Beschäftigten und eine Fortführung der Homeoffice-Praxis die einzigen Instrumente bleiben, die zumindest das Ausmaß der Ausfälle begrenzen helfen.
3. Der Chipmangel und die Folgen
Ausgelöst durch die Pandemie kam es zu weitreichenden Marktveränderungen: Die Rohstoffpreise und Transportkosten stiegen, Chips für Steuergeräte waren plötzlich Mangelware. Die Unternehmensberatung Roland Berger geht davon aus, dass der globale Halbleitermangel noch mehrere Jahre fortbestehen wird. Einige Hersteller haben die wertvollen Chips für die margenträchtigeren Mittel- und Oberklassefahrzeuge zu reserviert und auf diese Weise trotz Krise ihre Gewinnmargen gesteigert.
Um derartige Engpässe künftig zu vermeiden, müssen über alle Branchen hinweg die benötigten Produktionskapazitäten besser austariert werden. Langfristige Verträge würden eine höhere Liefersicherheit ermöglichen. Die Abhängigkeit von Asien und den USA ist zu verringern, was bedeutet, dass zusätzliche Produktionskapazität in Zentraleuropa aufgebaut werden muss.
4. Lieferketten als Risikomanagement
Laut einer Analyse des Bundesverbandes Materialwirtschaft, Einkauf und Logistik (BME) berichten 56 Prozent der befragten Unternehmen von 20 Lieferkettenunterbrechungen pro Jahr. 41 Prozent dieser Ausfälle passieren dabei in der Sublieferantenstruktur, also jenseits der eigenen Systemzulieferer.
Angesichts der großen und weiter wachsenden weltweiten Unsicherheitsfaktoren bleiben die globalen Handelsströme fragil. Risikoprävention und Lieferkettensicherung sind daher das Gebot der Stunde. Sie gehören ab sofort zu den zentralen Aufgaben innerhalb eines jeden Unternehmens. Dem Versicherer Zurich Insurance zufolge spart jeder Euro, der in Prävention investiert wird, das Fünffache an Kosten für Krisenreaktion und Firefighting ein. Das Risikomanagement wird somit zum entscheidenden Faktor für die Überlebensfähigkeit von Unternehmen.
5. Energiekosten als Insolvenzrisiko
Der Anstieg der Energiekosten gefährdet die Existenz zahlreicher kleiner und mittlerer Betriebe in der Zulieferindustrie. Laut einer Umfrage des BDI betrachten 88 Prozent der deutschen Industrieunternehmen die steigenden Energiepreise als starke oder sogar existenzbedrohende Herausforderung. Jeder fünfte Betrieb erwägt eine Verlagerung von Produktion ins Ausland. Rund ein Drittel der 400 befragten Mitgliedsunternehmen gab an, deswegen Investitionen in die Transformation zur Klimaneutralität zurückstellen zu müssen. Sollte es zusätzlich zu Ausfällen bei Energielieferungen kommen, etwa durch ein Öl- und Gasembargo gegen Russland, ist ein schnelles Ende vieler Unternehmen abzusehen.
Die Politik sollte daher rasch Konzepte entwickeln, insbesondere kleine und mittlere Zulieferbetriebe bei den Energiekosten zu entlasten. Deren Arbeitsplätze gilt es zu erhalten. Ihr Wegfall hätte nicht nur eine soziale Belastung für die Gesellschaft zur Folge, sondern auch eine weitere Schwächung der Lieferketten in der Automobilindustrie.
6. Engpass Elektrizität
In Deutschland droht in den kommenden Jahren der Strom knapp zu werden. Während Frankreich einen massiven Ausbau der Atomenergie beschließt und Belgien die Laufzeit seiner Kernkraftwerke um zehn Jahre verlängert, hält die Bundesrepublik am Atomausstieg fest, ohne nachhaltige Alternativen vorweisen zu können. Sollte es kurz- bis mittelfristig zu einem Lieferstopp von Kohle, Öl und Gas aus Russland kommen, wird Elektrizität hierzulande zur Mangelware und zum noch teureren Importgut. Bereits heute ist Deutschland Spitzenreiter im weltweiten Preisvergleich – und damit auf der Attraktivitätsskala der Investoren im unteren Drittel angekommen.
Wenn wir im Sinne der Nachhaltigkeit die Energie- und Mobilitätswende schaffen wollen, wird der Strombedarf in den kommenden Jahren weiter steigen und nicht etwa sinken. Die Bundesregierung muss daher schnell Klarheit und Fakten schaffen: Wenn Deutschland am Atom- und Kohleausstieg festhalten will, geht das nur, wenn gleichzeitig die Investitionen in alternative Energieträger massiv angeschoben werden. Dies darf dann nicht an langwierigen Genehmigungs- und Einspruchsverfahren scheitern.
7. Das löchrige Ladenetz
Das Interesse der deutschen Autofahrer an Elektroautos wächst, doch ein flächendeckendes Ladenetz für die Stromer liegt nach wie vor in weiter Ferne. Wöchentlich werden bundesweit nur etwa 250 neue Ladepunkte eingerichtet. Soll das politische Ziel, bis 2030 rund 15 Millionen E-Autos auf deutschen Straßen zu haben, erreicht werden, bräuchte man allerdings 2000 neue Ladesäulen pro Woche. Dann könnten sich – rein rechnerisch – 15 Autos eine Steckdose teilen, was unter Experten als realistischer Wert für eine flächendeckende Versorgung gilt. Derzeit wächst die Zahl der E-Autos jedoch schneller als die Zahl der öffentlichen Ladesäulen, von denen es jetzt schon viel zu wenige gibt.
Hilfe kommt von den zahlreichen Bürgern, die ihre Dächer derzeit mit Solarzellen pflastern und damit – theoretisch – ihre E-Mobile zu Hause laden könnten. Da gleichzeitig die Wärmepumpe als Heizform der Zukunft angepriesen wird, hat der Bürger zukünftig die Wahl: Entweder er tankt mit dem Solarstrom vom Dach sein E-Auto oder leitet ihn in die Wärmepumpe, damit das Zuhause warm bleibt. Beides wird – Stand heute – wohl nicht gehen.
Um das Problem zu lösen, bedarf es einer Taskforce aus Politik, Autoherstellern und Infrastrukturanbietern. Nur so ist eine sinnvolle, weil abgestimmte Planung möglich. Vor allem sind die vielen administrativen Hürden abzubauen, damit möglichst schnell einheitliche und schnelle Lade- und Bezahlsysteme auf breiter Front installiert werden können.
Zeitenwende auch in der Autobranche - und ein sorgenvoller Blick nach China
Der Anteil der in Russland verkauften Fahrzeuge am Gesamtabsatz ist bei den meisten westlichen Autobauern gering, selbst ein vollständiger Wegfall dieses Marktes wäre für sie verkraftbar. Doch eines hat die veränderte weltpolitische Lage mehr als deutlich gemacht: Autokratisch geführte Länder sind offensichtlich gewillt, zur Durchsetzung ihrer politischen Interessen auch Wege einzuschlagen, die man bisher nicht für möglich hielt.
Die Branche sollte daher gewarnt sein: Falls sich China eines Tages aufmacht, einen ähnlichen Weg zu gehen wie heute Russland, wären die Auswirkungen auf die deutsche Automobilindustrie verheerend: Etwa 40 Prozent des Absatzes der deutschen Premiumhersteller ging einer Studie des Center Automotive Research (CAR) – zufolge 2020 bereits nach China. Tendenz steigend.
Politik wie Industrie müssen daher den Faktor "Erpressbarkeit" mehr denn je im Blick behalten und einkalkulieren. An welchem Ort auf der Welt ein neues Werk errichtet wird oder an welchem ausländischen Unternehmen man sich beteiligt, sollte im Lichte potenzieller Abhängigkeiten wohl durchdacht sein. Niedrige Personalkosten oder attraktive Absatzmärkte allein können für strategische Entscheidungen nicht mehr das Maß aller Dinge sein.
Auch die ökonomische Welt kann und wird auch nach dem Ende des Ukraine-Kriegs nicht mehr dieselbe sein. Ein Zurück in die Vorkriegszeit wird es nicht geben. Sowohl die politisch Verantwortlichen als auch die Unternehmenslenker müssen diese zum Teil langfristigen Herausforderungen als real erkennen und entsprechend handeln. Anders ausgedrückt: Krisenmodus ist angesagt. Zum Glück hat die Branche diesbezüglich schon viel Erfahrung.
Stefan Randak ist Mitglied der MeinungsMacher von manager-magazin.de. Trotzdem gibt diese Kolumne nicht notwendigerweise die Meinung der Redaktion des manager magazins wieder.