Renaults Billigauto-Zar lehrt VW das Fürchten Der echte Umstürzler der Autobranche ist ein 71-jähriger Ex-Mathelehrer

Renault Kwid
Foto: Renault
Bertel Schmitt machte 35 Jahre lang Werbung, vor allem für Volkswagen. 40 Jahre lang war er der Kopf hinter dem "Merkheft" von Zweitausendeins. Der gebürtige Bayer lebt in Tokio, arbeitet für das Onlineportal TheDrive und betreibt zusammen mit seinem Partner Ed Niedermeyer den Industrie-Blog Dailykanban.com.
Glaubt man sich den atemlosen Kommentaren aus Amerika, dann ist der kalifornische Autobauer Tesla (Kurswerte anzeigen) drauf und dran, die weltweite Autoindustrie auf den Kopf zu stellen. Tesla gehört die Zukunft, sagt der allwissende Aktienmarkt, der Tesla höher bewertet als Amerikas größten Autobauer General Motors. Silicon Valley und Wall Street sind fest davon überzeugt, dass die Dinosaurier aus Detroit, Wolfsburg und Toyota City dem Tod geweiht sind, demnächst weggefegt von dem milliardenschweren Zukunftspropheten Elon Musk. Die Wahrheit sieht anders aus.
Die Zukunft der Autoindustrie liegt nicht in Palo Alto, sondern an einer staubigen Straßenkreuzung in Indien. 40 nervenaufreibende Kilometer südlich von Chennai, dem einstigen Madras, sitzt in einem zum Glück gut klimatisierten Raum der Mann, der die Autoindustrie wirklich revolutioniert. "Und das seit 20 Jahren", sagt er mit einer Mischung aus Stolz und Zynismus.
Vom Stalinistenauto zur Pioniermarke

Indien mit seinen 1,3 Milliarden meist autolosen Einwohnern ist der vorletzte Wachstumsmarkt der Erde. Dann kommt noch Afrika, und dann nichts mehr. Gerard Detourbet ist Renaults Mann für die große Zukunft. Er war es, der für Renault die rumänische Stalinistenmarke Dacia in ein Angebot für Einsteiger verwandelte. Autos zum halben Preis, zum Schrecken der Autobranche. "Jeder sagte damals, dass damit kein Geld zu verdienen sei, und dann wurden die bestverkauften Auto draus." Für Indien, wo das Durchschnittseinkommen bei 1400 Euro pro Kopf liegt, musste der Dacia-Preis noch einmal um die Hälfte runter.

Gérard Détourbet
2011 war Detourbet, Jahrgang 1946, pensionsreif. Der neue Logan kam 2012 raus, also hängte er noch ein Jahr dran. Danach war der Wohnsitzwechsel von Paris zu in sein Haus bei Cannes geplant. Doch dann machte ihm Carlos Ghosn einen Strich durch die Rechnung. Der Renault-Chef forderte ein echtes Low-Cost-Auto. Und nur Detourbet konnte es liefern.
Der Franzose ist die wandelnde Antithese zu Elon Musk. Detourbet ist 71, arbeitet für einen 118 Jahre alten Autokonzern und rollt den Automarkt nicht mit Luxuskarossen auf, sondern mit dem 3700 Euro billigen Renault Kwid. Das Auto ist ungefähr so groß wie ein VW Polo und technisch gesehen sogar etwas moderner als der Kleine aus Wolfsburg: Für den Kwid, und viele Fahrzeuge danach, wurde eine völlig neue modulare Architektur namens CMF-A entwickelt. Der neue Polo auf Basis von Volkswagens berühmtem MQB-Querbaukasten kommt erst später in diesem Jahr auf den Markt.
3700 Euro für einen Neuwagen

Industrien kommen ins Wanken, wenn jemand plötzlich das gleiche Produkt um Größenordnungen billiger produzieren und verkaufen kann. So gesehen, ist der Kwid ein Erdbeben für die Branche. In Indien kostet das Billigmobil 3700 Euro - weniger als die Hälfte des günstigsten Polo. Der wird auf dem Subkontinent ab rund 8000 Euro verkauft, in Deutschland liegt der Einstiegspreis bei 12.750 Euro. Ob Volkswagen mit dem Polo in Indien die Kosten deckt, ist nicht bekannt. Gerard Detourbet schwört, dass der Kwid Geld verdient.
Das fing bereits bei der Entwicklung an. Volkswagen (Kurswerte anzeigen) investierte zweistellige Milliardenbeträge in den MQB-Baukasten, bei Renault schlug die Entwicklung mit nur 400 Millionen Euro zu Buche. "Dafür bekamen wir eine CMF-A Plattform, ein neues Getriebe, einen neuen Motor, eine neue Produktionsanlage für 300.000 Einheiten pro Jahr und zwei völlig neue Autos", schwärmt Detourbet. Zum Renault Kwid gesellte sich inzwischen der Datsun Redi-Go des Renault-Partners Nissan. Der Datsun ist 30 Zentimeter kürzer, und kostet noch einmal 400 Euro weniger.
"Die Investitionen sind allein mit dem Volumen in Indien wieder drin, und wenn dann die Produktion in Brasilien erst anläuft ". Detourbet hält an sich, nur nicht zu viel verraten. Am Nachmittag entschuldigt er sich, er habe eine Telefonkonferenz mit Ghosn, es gehe da um das nächste Projekt. Auf die Frage am nächsten Morgen, wie die Konferenz gelaufen sei, reckt Detourbet den Daumen hoch. Das nächste Auto auf der CMF-A Plattform werde etwas größer, lässt er anklingen, und es werde noch mehr Geld verdienen, "weil wir bei den Teilen noch größere Volumina und noch günstigere Preise bekommen."
Das Geheimnis: Rückwärts rechnen

Nachfrage bei drei verschiedenen Zulieferern: Können sie angesichts solcher Preise auch nur annähernd profitabel arbeiten? Doch alle drei sind zufrieden. "Wir verdienen nicht die Welt an dem Geschäft," sagt Srinivas Reddy, Chef des Kunststoffteile-Lieferanten Motherson, "aber wir legen bestimmt nichts drauf."
Detourbet war ursprünglich Mathematiklehrer. Das merkt man noch, wenn er in irrwitziger Geschwindigkeit mathematische Formeln an eine Tafel zaubert, um das Geheimnis des unglaublichen Niedrigpreises zu erklären. "Normalerweise entwickeln Ingenieure ein Fahrzeug, und dann geht das in die Kostenabteilung. Die schaut sich an, wie viel Blech und Plastik verbaut wird und so weiter. Am Ende kommt ein Preis heraus, der vom Einkauf noch mal gedrückt wird. Das war's idann üblicherweise."
Bei Detourbet fängt das Auto nicht bei den Ingenieuren an, sondern beim Zielpreis. Solange Entwicklung und Einkauf über diesem Ziel liegen, geht das Projekt nicht weiter. Ist das Ziel erreicht, setzt es Detourbet noch einmal um 20 Prozent niedriger.
In wöchentlichen Planungsrunden wird das Auto Bauteil für Bauteil neu durchkalkuliert, normalerweise steigt der Preis mit zunehmender Kostentransparenz. "Dann kommt immer der Punkt, an dem meine Leute die Nerven verlieren." Sie flehen, den Zielpreis höher zu setzen, weil sonst das ganze Projekt scheitere. "Ich denke nicht dran. Und plötzlich fängt der Preis an, runterzugehen. Das ist jedes mal das Gleiche."
Ungeheure Machtposition
Vielleicht ist es die Furcht vor dem Scheitern, die bei den Entwicklern für weiche Knie und später für ebensolche Preise sorgt. Und Detourbet hat noch einen zweiten Trick: Er lässt sich nicht auf den Produktionsanlauf festlegen. Der Beginn der Fertigung ist normalerweise Jahre im Voraus in Stein gemeißelt. Ein schlauer Lieferant macht seine Marge kurz vor Produktionsanlauf. Nicht bei Detourbet. "Solange wir über dem Kostenziel liegen, fangen wir nicht an."
Und dann ist da noch die Sache mit den Werkzeugen. Die werden meistens in Nissans Prototypenfertigung in Japan gemacht, der Preis ist nicht verhandelbar. Also drückt Detourbet die Anzahl der benötigten Werkzeuge. "Für die Außenteile des Autos braucht man normalerweise vier Presswerkzeuge pro Teil, manchmal fünf. Ich habe das auf drei runtergebracht. Schon wieder 25 Prozent gespart."
Tiefer lässt sich der Low-Cost-Experte nicht in die Karten schauen."Niemand weiß genau, wie ich das mache," sagt Detourbet mit einem Augenzwinkern. "Ich habe das schon oft gemacht und ich werde das noch öfters machen, das ist alles, was Sie wissen müssen."
Seine Erfahrung und sein Insiderwissen verleihen dem 71-Jährigen eine ungeheure Macht innerhalb des Renault-Konzerns. Den Plan, sich endlich in seinem Haus nahe Cannes zur Ruhe zu setzen, scheint Detourbet vorerst begraben zu haben. Derzeit arbeitet der Über-Disruptor gerade an der Krönung seiner Karriere: an der Entwicklung eines Low-Cost-Elektroautos.
Bertel Schmitt machte 35 Jahre lang Werbung, vor allem für Volkswagen und schreibt als Meinungsmacher für manager-magazin.de. Wie bei den anderen Meinungsmachern auch, gibt seine Meinung nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder.