Nach dem Votum Die Angst der Schweizer vor den billigen Deutschen

Schweizer Grenze: "Die Deutschen sind schneller im Reden und effizienter in der Präsentation"
Foto: DPANeunkirch - Die Gemeinde Neunkirch im Kanton Schaffhausen zählt 2010 Einwohner und ist von Deutschland umzingelt. Im Süden grenzt die südbadische Gemeinde Jestetten unmittelbar an die Gemarkung und im Norden ist es Stühlingen mit seinem Schloß Hohenlupfen.
Die Beziehung zu Düütschland ist eng - historisch wie geographisch. Früher gehörte der Klettgau mit seinen ausladenden Weinlagen den Konstanzer Bischöfen. Wenn heute die Neunkircher ins 60 Kilometer entfernte Zürich wollen, müssen sie über deutsches Gebiet. Man sieht sich, man kennt sich.
Trotz dieser Nähe fiel die Gemeinde Neunkirch bei der Volksabstimmung über die SVP-Initiative "Stopp Masseneinwanderung" überhaupt nicht aus dem Rahmen. Eine deutlich Mehrheit - 56,79 Prozent der Stimmbürger - votierten in der Liberalen-Hochburg für die von den Rechtskonservativen lancierte Initiative. Allenfalls die relativ hohe Wahlbeteiligung von 74,3 Prozent (Schweiz: 56 Prozent) lässt auf einen hohen Mobilisierungsgrad schließen.
Zu teuer und zu langsam?
"Wenn Sie am Stammtisch sitzen, dann merken sie schon bald, dass es den Leuten hier steht", sagt Franz Ebnöther, 61. Der Gemeindepräsident, Mitglied der FDP, hebt dabei die rechte Hand bis zur Nasenwurzel.
Es ist die Furcht vor Arbeitslosigkeit, die hier ihre Triumpfe feiert. Ebnöther, der pensionierte Elektroingenieur, könnte jetzt, wie er sagt, viele Beispiele zitieren. Er belässt es aber nur bei einem: "Aus meinem Bekanntenkreis hat sich ein hochqualifizierter Ingenieur bei einer Firma in Neuhausen beworben und wurde deshalb nicht genommen, weil er 55 Jahre alt und damit zu teuer war. Ein Deutscher hat die Stelle bekommen." Beispiele dieser Art gäbe es in letzter Zeit immer häufiger, nicht nur im Kanton Schaffhausen. Der Gemeindepräsident hat's eilig, er muss noch nach St. Gallen.
"Ein Deutscher hat die Stelle bekommen"
Mehr als 150.000 Arbeitslose - Tendenz steigend - hat die Eidgenossenschaft in ihrer Statistik. Das entspricht einer Quote von 3,5 Prozent. International ist das ein positiver Spitzenwert. Trotzdem geht die Angst um. "Qualität ist wichtiger als Wachstum", ruft Ebnöther noch zwischen Tür und Angel und meint damit die Helvetische Gleichung "Wohlstand ist gleich sichere Arbeitsplätze".
Die Angst, seinen gut bezahlten Arbeitsplatz an einen Konkurrenten aus Deutschland zu verlieren, ist weit verbreitet. "Die Deutschen sind schneller im Reden und effizienter in der Präsentation" hat Walter Jehli beobachtet. Der Treuhänder aus Winterthur, der in vielen Betrieben herumkommt, berichtet von der "sympathischen Einfalt" seiner Landsleute, wenn es um Bewerbungen geht. "Wenn der Deutsche drei Tage bei einem Kurs war, legt er dieses Zertifikat in der Mappe ganz nach oben, während der Schweizer es irgendwo versteckt."
SVP: Das gekonnte Spiel mit der Angst
Ängste, die letztlich zum Erfolg der SVP-Initiative beigetragen haben. Schon am frühen Nachmittag hatte sich am Sonntag die Überraschung abgezeichnet. "Es wird wohl ein historischer Sonntag", prophezeite gegen 14 Uhr Claude Longchamp, Wahlanalytiker und Chef des Berner Demoskopie-Instituts gfs. Zu diesem Zeitpunkt wechselten bereits hauchdünne Mehrheiten hin und her. Von einem "Stadt-Land-Gefälle" ist die Rede - und von regionalen Besonderheiten sowieso.
In der französischsprachigen Westschweiz votierten zum Beispiel alle Kantone mehrheitlich gegen die Initiative der rechtskonservativen und oft populistisch agierenden SVP. Einen Grund dafür nennt Longchamp: Die Frankophonen würden die Zuwandererfrage von Haus aus entspannter betrachten als die Mehrheit hinter dem Röstigraben.
Tessin: Sogar die Grünen fürchten Einwanderer aus Italien
Interessant auch die Abstimmung im Tessin, wo 68,2 Prozent für die SVP-Initiative votierten - darunter auch die Grünen, obwohl diese auf nationaler Ebene zusammen mit Sozialdemokraten, Liberalen, Christlicher Volkspartei und Bürgerliche Demokraten eine große Allianz mit Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden gegen die SVP eingegangen waren.
Die Tessiner Grünen begründeten ihre spezielle Haltung mit der Angst vor der Jugendarbeitslosigkeit, die im Kanton immer größer werde, weil der Druck aus dem gebeutelten Italien von Monat zu Monat stärker wird. Schon jetzt arbeiten 65.000 Pendler und italienischstämmige rund um den Lago Maggiore. Sie sorgen für niedrigere Löhne und eine Arbeitslosenquote von 4,6 Prozent.
So hat sich das neue Schweizer Staatsoberhaupt seinen Dienstbeginn nicht vorgestellt. Didier Burkhalter, 53, seit 1. Januar Bundespräsident und damit Vorsitzender des Bundesrates, hat jetzt alle Hände voll zu tun. Schon kurz nachdem der knappe Sieg der Initianten bekannt wurde, forderte der FDP-Politiker aus Neuchatel, der im Hauptberuf Außenminister ist, einen "Runden Tisch".
Ob dies der Königsweg ist, lässt sich noch nicht sagen. In Brüssel jedenfalls wird ab sofort jeder Schritt auch von nur halbwegs zuständigen schweizerischen Politikern mit Argusaugen beobachtet. Dabei fällt auf, dass sich - jedenfalls am Tag danach - die Eurokraten relativ zurückhaltend über den Donnerschlag aus Bern äußern.
Ob in Brüssel allerdings ein Minister Christoph Blocher reüssieren würde, darf bezweifelt werden. Diesen überraschenden Vorschlag machen jetzt die Liberalen. Ausgerechnet Blocher, der als der "Mann im Hintergrund" gilt, soll im Range eines "Sonder-Staatssekretärs" die Verhandlungen mit Brüssel führen. Als ehemaliger Justizminister verfüge er über Verhandlungserfahrung mit der EU. Die FDP: "Nun steht er in der Pflicht, zusammen mit den anderen Parteien eine für unser Land gute Lösung zu finden." Für Beobachter ist das eine abenteuerliche Vorstellung.
Das Ende des Rosinenpickens - alle EU-Verträge mit der Schweiz stehen zur Debatte
Die Eidgenossenschaft wird ihr Verhältnis zur Europäischen Union nun auf eine völlig neue Basis stellen müssen. Alle bereits bestehenden und geplanten Abkommen werden neu ausgehandelt. Dabei ist die wohlhabende Schweiz in einer nicht gerade komfortablen Situation, weil sie nach dem Plebiszit das Freizügigkeits-Abkommen kündigen und damit die Guillotine-Klausel aktivieren muss.
Dieser Mechanismus wird eingesetzt, um zu verhindern, dass eine der Vertragsparteien sich lediglich die Rosinen aus dem Kuchen pickt - in der Causa EU/Schweiz bedeutet dies, dass alle in einem Paket enthaltenen Verträge akzeptiert werden müssen. Wird nur ein Vertrag abgelehnt, sind alle anderen Verträge hinfällig.
Wie sich die Schweiz aus dieser Situation herausdrehen will, ist völlig unklar. Kommentatoren in Bern und Zürich geben ohnehin der Regierung einen Großteil der Schuld an diesem Desaster. Zu schlecht vorbereitet, zu leidenschaftslos sei die Kampagne geführt worden.
Das Boulevardblatt "Blick" geht in die Offensive. Es attackiert Bundespräsident Burkhalter, da dieser eine Woche lang von der Bildfläche verschwunden und nach Japan "verduftet" war, statt zu Hause gegen die Initiative in den Ring zu steigen. "Hat er die Abstimmung vergeigt?", fragt das Blatt aus dem Hause Ringier.
Verträge auf Eis - und niemand hat einen Plan B
In der Öffentlichkeit konkurriert die Suche nach den Schuldigen mit der Suche nach dem "Plan B". Den hat aber keiner. Da nutzt es auch wenig, wenn die Berner Regierung nun drei Jahre Zeit hat, um "Neuverhandlungen mit der EU erfolgreich abzuschließen". Schon jetzt steht fest, dass eine Reihe neuer Verträge auf Eis gelegt wird, darunter auch das geplante Strommarkt-Abkommen.
Hinzu kommt die Unsicherheit in der Wirtschaft. Investoren werden sich künftig fragen, ob denn die nötigen Fachkräfte angeworben werden können. Und auch der mächtige Finanzsektor könnte Probleme bekommen, weil die Banken beispielsweise beim angestrebten Marktzugang auf klare rechtliche Verhältnisse mit der EU angewiesen sind.
Burckhardt AG: Wie Schweizer Unternehmen vom Konjunkturmotor EU profitieren
Wie sich die Freizügigkeit als Konjunkturmotor darstellt, zeigt das Beispiel des Maschinenbauers Burckhardt Compression AG in Winterthur. Das Unternehmen, das 2002 von der maroden Sulzer AG übernommen wurde, machte damals mit seinen 330 Mitarbeitern 120 Millionen Schweizer Franken Umsatz.
2004 kam die Personenfreizügigkeit mit der EU, die das Unternehmen in neue Märkte führte. Heute beschäftigt Burckhardt Compression 550 Mitarbeiter und macht einen Umsatz von über 700 Millionen Schweizer Franken.
Einen Grund für diese rasante Entwicklung nennt Valentin Vogt, Verwaltungsratspräsident von Burckhardt: "Um so stark wachsen zu können, deckten wir einen Teil des Bedarfs an neuen Fachkräften aus dem Ausland ab, weil in der Schweiz nicht genügend zu finden waren."
Solche Beispiele verhallen jedoch weitgehend ungehört zwischen Erzingen und Schaffhausen. Hier sieht man vor allem die gefährdeten Arbeitsplätze. "Es war zu befürchten, dass es so kommt", sagt Gemeindepräsident Ebnöther aus Neunkirch. "Die Deutschen arbeiten halt zu günstigeren Konditionen."