Thomas Piketty bei Sigmar Gabriel Besuch des Umverteilers

Der Besuch von Thomas Piketty kam Wirtschaftsminister Gabriel gelegen. Der ökonomische "Rockstar" setzt auf Umverteilung, um Verschuldung und ungleiche Verteilung von Vermögen zu beenden. Nun kann die Politik mit akademischem Segen in fremde Taschen greifen - statt sich mit starken Lobbygruppen anzulegen. Zum Beispiel mit Rentnern und den Banken.
Thomas Piketty (rechts), Wirtschaftminister Sigmar Gabriel: Für die Regierenden spielt weniger eine Rolle, ob eine Theorie richtig oder falsch ist, sondern vielmehr, ob sie ihnen nützt

Thomas Piketty (rechts), Wirtschaftminister Sigmar Gabriel: Für die Regierenden spielt weniger eine Rolle, ob eine Theorie richtig oder falsch ist, sondern vielmehr, ob sie ihnen nützt

Foto: AFP

Berlin - Große Bühne für den von der Financial Times zum "Rockstar" der Ökonomen gekürten Franzosen Thomas Piketty am Freitag in Berlin. Im Wirtschaftsministerium durfte er seine Thesen vortragen und mit dem Hausherrn, Vizekanzler und Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel diskutieren. Als Berater des französischen Präsidenten François Hollande ist Piketty einer der Köpfe hinter der deutlichen Erhöhung der Spitzensteuersätze in Frankreich - so verwundert es wenig, dass der SPD-Vorsitzende Gabriel voll des Lobes war.

Gabriel sprach zwar die Zweifel an der Theorie von Piketty an. Doch wie bei der rückblickenden falschen Theorie anhaltend fallender Löhne des Sozialdemokraten Ferdinand Lasalle käme es weniger darauf an, dass die Theorie stimmt, als darauf, dass sie die politische Diskussion beeinflusst. Dies sei bei Piketty zweifellos der Fall.

Womit sich die Erkenntnis des italienischen Nationalökonomen Vilfredo Pareto erneut bestätigt, wonach es für die Regierenden weniger eine Rolle spielt, ob eine Theorie richtig oder falsch ist, sondern vielmehr, ob sie ihnen nützt.

Denn beide, Piketty und Gabriel, blieben mit ihren Argumenten im bestehenden System gefangen: Glauben an die Allmacht des Staates und die Möglichkeit, durch Umverteilung und staatliche Ausgaben Wohlstand zu schaffen. Ein Irrtum, der uns noch teuer zu stehen kommen wird.

Interessante Daten, schwache Theorie

Mit seinem erst vor einigen Wochen auch auf Deutsch erschienenen Buch Das Kapital im 21. Jahrhundert hat Piketty perfekt den Zeitgeist getroffen. Müde von der ständigen Diskussion um Krise und Sparen können Politik und Öffentlichkeit sich einem anderen Problem zuwenden: den (vermeintlich) unbegrenzt wachsenden Vermögen und vor allem der Ungleichverteilung derselben. Der Ruf nach höheren Steuern und Umverteilung wird lauter, wenngleich die wenigsten das Buch, das in der deutschen Fassung immerhin 816 Seiten hat, gelesen haben.

Pikettys Buch beeindruckt durch eine Fülle an Fakten. Historische Daten werden aufbereitet, um die Entwicklung von Vermögen und Vermögensverteilung über Jahrhunderte nachzuvollziehen - für Großbritannien und Frankreich immerhin zurück bis ins Jahr 1700. Das ist ein großes Verdienst.

Weniger überzeugend ist das theoretische Gebäude, das Piketty auf diesen Daten errichtet. Wenn er feststellt, dass die Einkünfte aus Vermögen schneller wachsen als die Wirtschaft, dann ist das durch die historischen Daten seit 1980 tatsächlich gedeckt. Aber eine daraus abgeleitete "Weltformel", die quasi gesetzmäßig erklären soll, warum die Reichen immer reicher würden, hält einer genaueren Untersuchung nicht Stand.

So betrachtet er die Daten vor Steuern und Transferleistungen. Bezieht man diese Umverteilung mit ein, stellt sich die Entwicklung weitaus weniger dramatisch dar. Zum anderen ist die von ihm angenommene nachhaltige Kapitalverzinsung von vier bis fünf Prozent im Umfeld tiefer Zinsen und aufgeblähter Vermögenspreise völlig illusorisch. Heutige Investoren können froh sein, wenn sie in den kommenden Jahren eine Rendite von zwei Prozent vor Steuern erwirtschaften. Und, drittens: läge die Kapitalrendite wirklich dauerhaft über dem Wachstum der Wirtschaft, müsste die Gewinnquote auf 100 Prozent des BIP steigen. Auch dies ist nicht der Fall.

Vermögenszuwachs der Reichen ist unstrittig

Dennoch bleibt die Frage, wie es sein kann, dass die Vermögen und damit die Vermögenskonzentration über mehrere Jahrzehnte seit 1980 so ansteigen konnten. Hier hilft ein Blick in die Wirtschaftsgeschichte.

Als der Nachkriegsboom in den 1970er Jahren auslief, gingen die Wachstumsraten in den westlichen Ländern zurück. Mit dem Ziel, die Wirtschaft wieder zu beleben, kam es ausgehend von den USA (Reagan) und Großbritannien (Thatcher) zu umfangreichen Reformen, Steuersenkungen und einer immer weitergehenden Liberalisierung der Finanzmärkte.

Nachdem bereits 1971 die letzte Bindung zum Gold aufgehoben wurde, konnten die Banken in den Folgejahren mit immer geringeren Eigenkapitalanforderungen immer großzügiger Kredite vergeben. Politisch war letzteres durchaus gewollt, sollte doch auf diese Weise die Wirtschaft stimuliert werden.

Mit dem Fall der Mauer und dem Eintritt Chinas in den Weltmarkt stieg quasi über Nacht das weltweite Arbeitskräfteangebot. Immer mehr Produktion wurde nach Osteuropa und China verlagert, immer mehr kamen die Löhne der breiten Mittelschicht unter Druck.

Einkommen der US-Mittelschicht stagnieren seit 30 Jahren

So stagnieren die Einkommen des amerikanischen Mittelstandes seit nunmehr 30 Jahren. Da war es höchst willkommen, durch zunehmende Verschuldung die stagnierenden Einkommen aufzubessern. In den USA über den Traum vom eigenen Haus, von dem man glaubte, es könne immer nur im Preis steigen und in Europa über die schuldenfinanzierten Wohltaten des Sozialstaats.

Die Notenbanken spielten mit und senkten bei jeder kleinen Krise die Zinsen weiter, drohte doch wegen des anhaltenden Lohndrucks aus China und Osteuropa weit und breit keine Inflation. Zusätzlichen Schub bekam der Trend ständig steigender Verschuldung durch die Einführung des Euro, der den heutigen Krisenländern über Nacht deutsche Zinsen bescherte und einen wahren Verschuldungsboom auslöste.

Die Gegenüberstellung der Entwicklung von Vermögen und Schulden seit 1980 zeigt eine eindrucksvolle Parallelität: überall stiegen Vermögen und Verschuldung deutlich. Dabei geht es nicht nur um die Staatsverschuldung sondern besonders auch um die deutlich gestiegene Verschuldung des privaten Sektors. Unternehmen haben billiges Geld dazu genutzt, die Eigenkapitalrendite zu steigern, private Haushalte um Immobilien zu kaufen und zu konsumieren.

Schulden treiben Vermögenswerte - jeder vierte Milliardär nutzt den Kredithebel

Schulden führen auf verschiedenen Wegen zu steigenden Vermögenswerten und Vermögenskonzentration, wie ich in meiner Piketty Replik "Die Schulden im 21. Jahrhundert"  erläutere. Zunächst haben Schulden einen direkten, Nachfrage erhöhenden Effekt. Ohne weitere Verschuldung hätten Staaten und Private nicht in diesem Maße nachfragen können, die Wirtschaft wäre also langsamer gewachsen, und die Unternehmen hätten weniger Gewinne gemacht.

Viel wichtiger ist jedoch die direkte Wirkung von Schulden auf die Preise von Vermögenswerten. So führt der jedem Betriebswirt geläufige "Leverage-Effekt" zu einem erheblichen Nachfrageanstieg: Liegt die Gesamtkapitalrendite eines Vermögenswertes über den Zinskosten, so lässt sich durch einen vermehrten Einsatz von Fremdkapital die Eigenkapitalrendite erheblich "hebeln".

Jeder vierte US-Milliardär nutzt den Kredithebel

Ein Rechenbeispiel: Wenn ein Vermögenswert, den Sie für 100 Euro kaufen, 10 Euro jährlichen Ertrag abwirft, verzinst sich der Einsatz mit 10 Prozent. Wenn Sie sich die Hälfte des Kaufpreises zu einem Zinssatz von 5 Prozent leihen können, steigt die Rendite auf Ihren Kapitaleinsatz von 10 Prozent (10/100) schon auf 15 Prozent (7,5/50), weil Sie der Kredit nur 2,50 Euro kostet. Können Sie sich 80 Euro zu 5 Prozent leihen, steigt Ihre Rendite auf 30 Prozent (6,0/20). Zugleich können Sie insgesamt für 500 Euro Aktien kaufen.

Folge: die Nachfrage nach dem Vermögensgegenstand nimmt zu, und der Preis steigt. Dieser Preisanstieg führt zu einem generell höheren Bewertungsniveau von Vermögenswerten und erlaubt damit wiederum eine weitere Verschuldung.

Wie erfolgreich diese Strategie in den letzten Jahrzehnten verfolgt wurde, lässt sich am Anteil des Finanzsektors an den Unternehmensgewinnen ablesen. Hatten Banken und Finanzdienstleister in den 1980er Jahren einen Anteil von rund 10 Prozent an den Gewinnen der US-amerikanischen Unternehmen stieg der Anteil auf über 40 Prozent im Jahre 2007.

Immerhin jeder vierte auf der Forbes Liste der reichsten Amerikaner hat sein Geld mit "Investments" gemacht, also dem kreditfinanzierten Kauf von Vermögenswerten.

Dies alles sieht Piketty nicht. Für ihn sind Schulden neutral. Von einem gegebenen Bruttovermögen zieht er die Schulden ab, um zum Nettovermögen zu gelangen. Dieses steht dann im Fokus seiner Analysen. Dass das Nettovermögen ohne die Möglichkeit des Leverage deutlich tiefer liegen würde, blendet er aus.

Umverteilung hilft nicht weiter - aber ein Systemwechsel

Mit Blick auf die Staatsschuldenkrise in Europa hält Piketty fest, dass diese nur ein Ausfluss falscher Vermögensverteilung zwischen Staat und Privaten sei und demzufolge einfach zu lösen: über drastische höhere Besteuerung und eine Vermögensabgabe von 15 Prozent. Auf alles: Immobilien, Geldvermögen, Unternehmensbeteiligungen - "ohne Ausnahme" wie er betont.

Dabei kann er sich auch vorstellen, Beträge bis 100.000 Euro von einer solchen Abgabe freizustellen und dafür den Satz bei großen Vermögen weiter zu erhöhen. Zugleich favorisiert er einen weiteren Ausbau des Sozialstaates und kann sich einen Staatsanteil von zwei Drittel bis drei Viertel am Bruttoinlandsprodukt gut vorstellen.

Eine grundlegende Reform des Sozialstaats hält er für überflüssig. Mit Blick auf das umlagefinanzierte Rentensystem hält er zudem fest, dass dieses den größten Anreiz bietet, Kinder zu bekommen und diese gut auszubilden. Dass diese These offensichtlich in der Praxis nicht zutrifft, kümmert ihn nicht. Wie auch die erheblichen ungedeckten Versprechen für Renten und Krankenversorgung einer zunehmend alten Gesellschaft, die in Deutschland immerhin auf rund 400 Prozent des BIP geschätzt werden.

Pikettys Problem sind die Vermögen und seine Lösung ist einfach: Reduktion durch Umverteilung und nebenher die Lösung der Staatsschuldenkrise.

Der Charme dieser Lösung für die Politik liegt auf der Hand: Besitzstand und vor allem Einfluss wahren. Zugleich bietet es die Möglichkeit vom eigenen Versagen abzulenken. Denn ohne die fehlgeleitete Wirtschaftspolitik der letzten Jahrzehnte wäre es gar nicht zu Rekordschulden, Rekordvermögen und Ungleichverteilung gekommen.

Besteuerung von Vermögen ist nötig - und eine Diskussion zum Thema "Vollgeld"

Ein "weiter so" ist jedoch fatal. Zum einen haben wir es nicht nur mit einem Staatschuldenproblem zu tun, sondern in vielen Ländern auch mit einer Überschuldung des Privatsektors. Zum anderen stehen wir vor enormen Kosten einer alternden Gesellschaft, für die keine Rücklagen gebildet wurden.

Die Antwort auf diese Herausforderungen ist nicht die Umverteilung bestehenden Wohlstands sondern die Bewahrung und Schaffung von weiterem Wohlstand. Zwar werden wir um Vermögensbesteuerung zur Lösung der Schuldenkrise nicht herumkommen, wie ich schon 2011 geschrieben habe.

Danach brauchen wir aber ein Programm für Wachstum: Investitionen in Bildung und Innovation, Deregulierung und Entbürokratisierung, Liberalisierung von Arbeitsmärkten und eine aktive Einwanderungspolitik nach kanadischem Vorbild. Und einen kleineren Staat, keinen größeren. Angesichts der demografischen Entwicklung sollten so viele Menschen wie möglich zur Wohlstandsmehrung beitragen, statt nur zur Umverteilung.

Abkehr von der Politik auf Pump - die Vollgeld-Diskussion macht Mut

Zugleich brauchen wir eine Abkehr von der Politik auf Pump. Ungebremstes Kreditwachstum führt nicht nur zu Schulden und (Schein-)Vermögen sondern, wie wir in den letzten Jahren leidvoll erlebt haben, zu existenziellen Finanzkrisen.

Das Wiederaufleben der Diskussion um das Thema "Vollgeld", auch getrieben über die dazu anstehende Volksabstimmung in der Schweiz, ist ein ermutigendes Zeichen. Selbst die Kommentatoren der Financial Times befürworten die Idee einer Unterscheidung in Geld als Zahlungs- und Wertaufbewahrungsmittel (100% Zentralbankgeld) und Investitionen in renditegenerierende aber dafür risikobehaftete Assets.

In der Folge hätten die Banken nicht mehr die Möglichkeit, quasi unbegrenzt Geld zu schöpfen und müssten sich auf die effiziente Allokation einer vorgegebenen Geldmenge konzentrieren.

Was Gabriel und Piketty verbindet - und was Gabriel eigentlich tun müsste

Leider gab die Diskussion zwischen Piketty und Gabriel wenig Anlass zur Hoffnung. Zwar erteilte Gabriel der Forderung nach einer Wiedereinführung der Vermögenssteuer bedauernd mit Blick auf verfassungsrechtliche Probleme eine Absage. Stattdessen müsste die Abgeltungssteuer abgeschafft und die Schlupflöcher für Unternehmen gestopft werden.

Auch forderte er dringend mehr Ausgaben für Bildung und Infrastruktur. Was die Regierung daran hindert, diese zu tätigen, ließ er dagegen offen. Schließlich hat die Regierung mit ihren Rentengeschenken genau das Gegenteil von dem getan, was Gabriel hier einfordert. Und zwar auch auf Betreiben der SPD.

Reformen wie wir sie eigentlich bräuchten sind entweder unpopulär oder widersprechen den Interessen einer wichtigen Lobbygruppe, im Fall von Vollgeld den Banken.

Wie viel leichter es ist, mit dem Ruf nach Gerechtigkeit in fremde Taschen zu greifen, wird sich spätestens in der nächsten Rezession zeigen. Und nun kann das die Politik sogar mit akademischem Segen.

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