Aufschlussreiches Experiment in Brandenburg Das passiert, wenn Busfahren plötzlich kostenlos ist

Stadtbus in Templin
Foto: Uckermärkische Verkehrsgesellschaft
Liniennetz von Templin (zum Vergrößern bitte auf das Bild klicken)
Foto: VBBAuf den ersten Blick wirkt Templin in der Uckermark wie eine typische Kleinstadt in Brandenburg. Bürgerhäuser gruppieren sich um den quadratischen Marktplatz, darauf ruht das rote, barocke Rathaus von 1751. Umgeben ist die Stadt gut 100 Kilometer nördlich Berlins von Wald und Wasser.
Und doch wartet die 16.000-Einwohner-Kommune mit einer Besonderheit auf, die in diesen Tagen bundesweit Bedeutung hat. In Templin war der öffentliche Nahverkehr von 1998 bis 2002 kostenlos zu benutzen, und noch heute ist Busfahren spottbillig: Für 3,67 Euro im Monat gibt es freie Fahrt im gesamten Stadtgebiet.
Etwas Ähnliches schwebt jetzt offenbar auch der Bundesregierung vor - in weitaus größerem Maßstab. Am Dienstag wurde ein Papier bekannt, in dem Berlin in Brüssel die kostenlose Nutzung des Nahverkehrs als Mittel gegen die hohe Abgasbelastung preist. Die Maßnahme soll auch helfen, lästige Fahrverbote zu vermeiden. Losgehen soll es mit Tests in Reutlingen, Bonn, Essen, Herrenberg und Mannheim.
Der Vorstoß erhitzte sofort die Gemüter. Unbezahlbar sei das Ganze, wand der überraschte Städte- und Gemeindebund ein. "Das ist in etwa eine Elbphilharmonie pro Jahr", schätzte ein Sprecher des Hamburger Verkehrsverbunds die Kosten mit Blick auf das knapp 800 Millionen Euro teure Konzerthaus. Tübingens Bürgermeister Boris Palmer (Grüne) hingegen zeigte sich begeistert - und brachte seine Stadt als weiteres Testgebiet ins Spiel.
Wenig wird bisher allerdings von den Erfahrungen gesprochen, die Templin gemacht hat. Die Stadt, in der Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) aufwuchs, hatte nach der Wende ein Problem wie viele Kommunen in der Gegend: Die Arbeitslosigkeit nahm zu, Bewohner zogen fort. Die, die blieben, fuhren zunehmend mit dem eigenen Auto statt mit dem Bus.
Ganze 41.360 Passagiere nutzten 1997 noch den öffentlichen Nahverkehr - im gesamten Jahr. Tag für Tag begrüßten die Fahrer somit im Schnitt 112 Fahrgäste. Das entspricht 56 Menschen, die zu einem Ziel hin - und wieder zurück gefahren sind. Gleichzeitig erstickte die adrette Innenstadt im wachsenden Autoverkehr. Auf den Pkw entfielen 90 Prozent des Verkehrsaufkommen.
Da die Einnahmen aus dem Fahrkartenverkauf ohnehin nicht viel mehr als 10 Prozent der Kosten deckten, entschlossen sich die Stadtverordneten zusammen mit der Uckermärkischen Verkehrsgesellschaft für eine Radikallösung. Busfahren sollte künftig kostenlos sein.
Als es losging, brach die Hölle los

Bürgermeister Tabbert (r.), Fahrgäste
Foto: Uckermärkische VerkehrsgesellschaftSo wollten die Beteiligten mehrere Probleme auf einmal lösen: Die Gratis-Politik sollte unter anderem Abgase und Lärm reduzieren, Tourismus und Gewerbe stärken und die Einwohner mobiler machen.
Bevor es losging, planten Stadt und Verkehrsgesellschaft ein völlig neues Busnetz mit 24 neuen überdachten Haltestellen und passenden Fahrzeugen. Etwa 90 Prozent der Einwohner fanden fortan eine Haltestelle vor, die höchstens 150 Meter von ihrer Wohnung entfernt war.
Als es 1998 dann schließlich losging, brach in Templin eine kleine Verkehrs-Revolution los. Die Fahrgastzahlen schossen in die Höhe - innerhalb eines Jahres um das Achtfache auf 350.000 Passagiere. Drei Jahre nach dem Projektstart fuhren bereits mehr als 600.000 Fahrgäste mit - 15-mal so viele wie 1997. "Daran lässt sich belegen, dass das Konzept von den Bürgern gut angenommen wurde", hält die Stadt in einer Chronik bescheiden fest.
Leicht zurückhaltend beschreiben die Templiner den Erfolg wohl auch deshalb, da sich das Konzept in der Form nicht aufrechterhalten ließ. "Weil die Fahrt kostenlos war, waren die Busse permanent voll", sagt die Marketingverantwortliche der Verkehrsbetriebe, Steffi Pohlan.

Busfahrgäste in Templin pro Jahr
Foto: manager magazin onlineUnd nicht jede Fahrt schien für die Passagiere unvermeidlich gewesen zu sein. "Bei Regen sind die Kinder aus Langeweile Bus gefahren", sagt Templins Bürgermeister Detlef Tabbert (Die Linke) gegenüber manager-magazin.de. Auch Männergruppen mit einem Kasten Bier dabei seien keine Seltenheit gewesen. "Wenn etwas umsonst ist, wird es genutzt - ob es sinnvoll ist oder nicht", sagt Pohlan.
Während die Templiner mit wachsender Begeisterung ihre Stadt vom Sitz im warmen Bus erkundeten, wuchsen für die Stadt die Nahverkehrs-Kosten von 24.000 Euro (1998) auf mehr als 85.000 Euro im Jahr 2000. Dabei sollte der Zuschuss rund 75.000 Euro nicht übersteigen.
Zum Kostenproblem geriet, dass der Fahrplan aufgrund der hohen Nachfrage auf einen 15-Minuten-Takt verdichtet wurde. Auf der anderen Seite entwickelten sich die Einnahmen aus Werbung und von Sponsoren viel schlechter, als Optimisten erwartet hatten.
Unerwartete Nebenfolgen des Billig-Busses

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Seit 2003 müssen Fahrgäste in Templin deshalb wieder für Busfahrten zahlen, wenn auch extrem wenig. Zunächst 29 Euro kostete eine Jahreskurkarte, die die unbegrenzte Busnutzung umfasste. Inzwischen kostet das übertragbare Ticket 44 Euro. Knapp 1000 Kurkarten verkauft die Stadt im Jahr.
Auf diese Weise will die Stadt den Zuschuss in etwas engeren Grenzen halten, dennoch liegt er inzwischen bei 150.000 Euro. Die Fahrgastzahlen haben sich nach zwischenzeitlichem Einbruch auf etwa 280.000 erholt und sind allein 2017 um knapp 10 Prozent gestiegen. Damit sind Stadt und Verkehrsgesellschaft ganz zufrieden. Jede Fahrt wird allerdings mit gut 50 Cent subventioniert.
"Das ist gut angelegtes Geld", sagt Bürgermeister Tabbert. "Wir leisten uns das ganz bewusst." In der Stadtverordnetenversammlung stimmen seinen Angaben zufolge regelmäßig etwa zwei Drittel der Kommunalpolitiker für die Subvention.
Diese erhöhe die Lebensqualität, mache Templin bundesweit etwas bekannter und nütze somit dem Tourismus. Und ja, die billige Flatrate helfe auch dabei, die Luftqualität zu verbessert, ist Tabbert überzeugt. Mit zuletzt wieder ansteigenden Fahrgastzahlen hätten sich die gemessenen Stickoxidwerte in zehn Jahren um 25 Prozent reduziert. Etwa 20 Prozent weniger Autos fahren laut Tabbert durch Templin als ohne Billig-Bus.
Manche Untersuchungen zeichnen jedoch ein eher gemischtes Bild vom Templiner Experiment. Etwa 35 bis 50 Prozent der Bus-Passagiere würden weniger zu Fuß gehen, 30 bis 40 Prozent das Fahrrad stehen lassen und gerade mal 10 bis 20 Prozent auf das Auto verzichten, schrieb im Jahr 2000 der Recklinghäuser Wissenschaftler Stephan Keuchel .
Templins Bürgermeister Tabbert ficht das nicht an: "Ich würde mich freuen, wenn andere Städte unser Beispiel kopieren."