@Home in Europe Ein freiwilliges Soziales Jahr für mehr Integration

Flaggen vorm Europäischen Parlament in Luxemburg: Europa braucht eine neue identitätsbildende Idee
Foto: imago/Westend61Europa ist anders als Amerika - das zeigt sich in der aktuellen Flüchtlingskrise ganz deutlich. Einige Länder nehmen Flüchtlinge auf, andere bauen einen Grenzzaun, die nächsten kündigen die Solidarität innerhalb der Staatenunion auf, indem sie sich Quoten für die gerechte Verteilung der vor Krieg und Zerstörung flüchtenden Menschen strikt verweigern. In Amerika wäre es undenkbar, dass die einzelnen Bundesstaaten so widersprüchlich handeln - und es wäre undenkbar, dass nicht eine ordnende Hand aus Washington eingreifen würde, um der Krise Herr zu werden.
Ein Amerikaner sieht sich in erster Linie als Amerikaner und definiert sich nicht über den Bundesstaat, in dem er wohnt. Europa hingegen ist immer noch ein Flickenteppich aus Nationalstaaten. Es gibt keine echten Europäer, sondern nur Deutsche, Franzosen, Griechen, Italiener oder Ungarn. Eine gemeinsame Identität haben sie noch nicht entwickelt - und so wird auch nicht nach europäischen, sondern nach nationalstaatlichen Interessen gehandelt

Der Amerikaner Dennis Snower ist ehemaliger Präsident des Instituts für Weltwirtschaft in Kiel - einem der führenden deutschen Wirtschaftsforschungsinstitute und Think Tanks. Er leitet zudem das Think-Tank-Netzwerk Council for Global Problem Solving, das den G20-Prozess wissenschaftlich begleitet.
In der Euro-Krise rund um die Griechenland-Rettung hat sich dieses Problem schon in Ansätzen gezeigt, in der derzeitigen Flüchtlingskrise tritt es nun offen zutage.
Um die Identitätsbildung zu verstehen, braucht man eine interkulturelle Perspektive. Es gibt keine Werte und Normen, die für alle Gesellschaften gleichermaßen geeignet sind - aber es lassen sich Umstände kreieren, in denen die Menschen die Welt in einem ausreichend gemeinsamen Licht sehen, um sich miteinander zu verbinden und ein gemeinsames Ziel zu erkennen. Welche politischen und ökonomischen Implikationen diese Erkenntnis hat, werden wir unter anderem beim Global Economic Symposium Mitte Oktober in Kiel erörtern. Europa braucht eine neue identitätsbildende Idee - eine, die ihren Bewohnern eine neue Form von Sinn vermittelt und Vertrauen untereinander erzeugt.
Euro-Krise, Flüchtlingsfrage: Europa ist von tiefem Misstrauen geprägt
Derzeit ist das Gegenteil der Fall: Die Euro-Krise war von tiefem Misstrauen der EU-Länder untereinander geprägt. Jeder ging davon aus, der andere wolle ihn über den Tisch ziehen und übervorteilen - und handelte entsprechend. Das gleiche Muster lässt sich im Zuge der Flüchtlingskrise beobachten. Über kurz oder lang führt das zum Scheitern von Kooperation und kann sogar in Konfrontation und Konflikt münden.
Der einzige Ausweg ist, eine europäische Identität zu etablieren. Ziel ist nicht, die derzeitigen nationalen, regionalen, religiösen und kulturellen Identitäten verschwinden zu lassen, sondern sie durch eine europäische Identität zu ergänzen. Dazu muss die EU ihren Mitgliedern mehr bieten als nur das Versprechen möglichen Wohlstands, basierend auf freien Märkten und internationaler Wettbewerbsfähigkeit. Ein gemeinsamer Markt und Freihandel reichen dabei zur Identitätsbildung nicht aus, denn die Gesellschaft ist mehr als nur ein Marktplatz.
In einer erfolgreichen Gesellschaft entsteht ein grundlegendes Verständnis von sozialer Zugehörigkeit, die auf zwischenmenschlichen Beziehungen basiert und von einer gemeinschaftlichen Vergangenheit und einer kollektiven Zukunft herrührt. Früher sind Gesellschaften einfach aus dem Alltag heraus entstanden - die Menschen waren schließlich ortsgebunden. Heutzutage sind sie viel mobiler, was seit Ende des Kalten Krieges zu einem weit verbreiteten Wiederaufleben kultureller, ethnischer und religiöser Identitäten geführt hat. Diese haben eine breitere Vielfalt an Zugehörigkeiten innerhalb vieler Länder kreiert, auch in Europa. Die derzeit ankommenden Flüchtlinge werden dies noch verstärken: Sie haben ihre Heimat hinter sich gelassen auf der Suche nach einem besseren Leben - und bringen ihre kulturelle und religiöse Identität mit.
Schulabgänger sollten ein Jahr lang in einem anderen EU-Land leben
Doch wie kann man es schaffen, eine Vision zu entwickeln, die die Europäer gleich welcher Nationalität willens macht, füreinander einzustehen, Probleme gemeinsam zu lösen und sich gegenseitig zu unterstützen - einem gemeinsamen Ziel zuliebe? Wie kann man es schaffen, Millionen von Neuankömmlingen zu integrieren und Europa zu einem echten Ziel ihrer Träume zu machen?
Eine Möglichkeit wäre ein freiwilliges Europäisches Soziales Jahr für alle Schulabgänger oder andere Interessierte. Nennen wir es @Home in Europe Year (@HEY). Die Teilnehmer würden in einem anderen EU-Land bei Menschen leben, die einer anderen Kultur, Religion und sozialen Klasse angehören als sie selbst und dabei an gesellschaftlich relevanten Projekten arbeiten. Finanziell unterstützt würde das von der EU.
Wer die Erfahrung macht, bei Menschen zu Gast zu sein, die anders sind als man selbst, kann einen anderen, neuen Ausblick auf Europa gewinnen.
Ein einheitlicher europäischer Arbeitsmarkt würde einen wichtigen Impuls für die soziale Integration Europas geben. Schließlich nimmt man Gesellschaften ernster, in denen man eines Tages arbeiten wollen könnte. Genauso wichtig wäre die Implementierung einer gemeinsamen europäischen Finanzpolitik: Eine gemeinsame europäische Steuerbehörde und ein gemeinsames öffentliches Beschaffungswesen sowie die Implementierung von Fiskalregeln innerhalb der Euro-Zone würden ebenfalls dazu beitragen, eine gemeinsame europäische Identität zu schaffen.
Natürlich entsteht eine neue Identität nicht von heute auf morgen. Es wird Zeit brauchen, sie aufzubauen. Aber es gibt keinen besseren Zeitpunkt als jetzt, um damit anzufangen und entsprechende Initiativen zu starten. Das würde dem europäischen Projekt neues Leben einhauchen.
Dennis Snower ist Mitglied der MeinungsMacher von manager-magazin.de. Trotzdem gibt diese Kolumne nicht notwendigerweise die Meinung der Redaktion des manager magazins wider.