Die Tyrannei von Integrität und Compliance Warum allzu moralische Unternehmen ein Albtraum sind

Taugen Banditen als Vorbilder? Markus Pohlmann meint, eine vollkommen moralische Welt wäre schrecklich.
Foto: mammuth via Getty ImagesMutmaßliche Industriespionage bei Lanxess, Abgasmanipulation bei Volkswagen, Preisabsprachen bei Wurstherstellern: Immer wieder machen Unternehmen oder deren Mitarbeiter durch gesetzeswidriges und unmoralisches Verhalten von sich reden. Und immer wieder folgen anschließend Appelle, dass wir dringend mehr Integrität, Moral und Tugend in der Wirtschaft und den Köpfen der handelnden Personen brauchen. Besonders Unternehmen scheinen derzeit sehr eingenommen von der Idee einer moralischen Vervollkommnung ihrer Mitarbeiter zu sein.
Aber mal ehrlich: Gäbe es in dieser Welt der Heiligen tatsächlich keine Kriminalität mehr und keinen Machtmissbrauch? Wäre sie wirklich eine bessere Welt?

Markus Pohlmann ist Professor an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen die Analyse von Management und Arbeitsorganisation in Industrieunternehmen. Aktuelle Texte zu diesen und anderen Themen veröffentlicht er auf seinem Blog Corporate Crime Stories.
Freizügigkeit weicht der Tyrannei
Der Soziologe Emile Durkheim hat bereits vor vielen Jahrzehnten Antworten auf diese Frage gegeben: Da es auch unter Heiligen keine vollkommene Gleichschaltung der Personen geben kann, käme es aufgrund der Individualität von Personen immer wieder zu Abweichungen. Gleichzeitig würden aber in einer Welt voller Heiliger auch kleine Abweichungen zu großen Verbrechen und würden entsprechend geahndet. Moral ist nach Niklas Luhmann immer ein zweischneidiges Schwert: die Kommunikation von Achtung und Missachtung. Und Missachtung gäbe es genug. Die Wahrheit ist: Eine vollkommen moralische Welt, wäre eine schreckliche Welt.
Nicht nur, weil die Exekution von Moral mit der Exekution der Andersdenkenden einherginge. Sondern grundsätzlich, weil - ähnlich wie unter dem Reformator Johannes Calvin in Genf - jede Freizügigkeit für uns verloren ginge. Das Freiraum schaffende Legalitätsprinzip, das erlaubt, was nicht verboten ist, würde durch die Tyrannei der Moral ersetzt. Ganz davon abgesehen, dass Unternehmen in dieser moralischen Welt schnell Bankrott gehen würden. Moral fordert unbedingte Geltung - egal wie hoch die Kosten und ökonomischen Verluste sein mögen. Wer kann dies wollen? Was also soll die neue Betonung von Moral und Integrität in der Unternehmenswelt?
Das wahre Ziel von Compliance
Um diese Frage zu beantworten, müssen wir uns die Funktion von Compliance vor Augen führen. Compliance-Abteilungen versuchen sicherzustellen, dass die Unternehmen sich formal den wandelnden Rechtsvorschriften anpassen - dort, wo es notwendig ist. Deswegen sind diese Abteilungen in der Regel mit Juristen besetzt. Diese versuchen, die Unternehmenshaftung zu beschränken und mögliche Strafen sowie unnötige Risiken zu erkennen und zu vermeiden. Dies geschieht unter anderem dadurch, dass formal der Nachweis erbracht wird, dass das Unternehmen die notwendigen formalen Maßnahmen und Schritte ergriffen hat, um Rechtsbrüche zu vermeiden und allen Mitarbeitern klar zu machen, dass damit nicht zu spaßen ist. Das ist Legitimation durch Verfahren.
Die zweite Funktion ist es, im Falle von aufgedeckten Vergehen Zurechenbarkeit, Haftbarkeit oder Strafbarkeit zu organisieren. Hier kommt das Thema Integrität ins Spiel. Denn für diese Aufgabe ist das Konzept der "moral self-governance" gut geeignet. Man kann dann sagen: Wir haben die Mitarbeiter nicht nur trainiert und einen moralischen Kodex formuliert, sondern auch die individuelle moralische Selbststeuerung befördert. Wer dann noch die Regeln verletzt, ist nicht nur haftbar und strafbar, sondern auch moralisch diskreditiert. Eine Entscheidung gegen die Befolgung von formalen Regeln wird zu einer Entscheidung gegen das Unternehmen und - vermeintlich - gegen die Gesellschaft. Damit sind die schwarzen Schafe schnell ausgemacht und das Unternehmen ist "clean", sobald diese entlassen und gegebenenfalls der Justiz übereignet worden sind. Dies ist eine sehr alte Übung, um Systemvergehen in Individualvergehen zu transformieren - siehe Volkswagen.
Aber die Profis in den Compliance Abteilungen sind in der Regel nicht zynisch, sondern gehen davon aus, dass schon die Rede von Moral und Integrität Wirkung entfaltet. Die Frage ist nur welche.
Regelverstöße sind notwendig
In der Welt der "kleinen Banditen" gehören geringfügige Regelabweichungen nicht nur zum Alltag, sondern haben die Funktion, die Organisation am Laufen zu halten. Oftmals können im betrieblichen Alltag nicht alle internen und gesetzlichen Vorgaben eingehalten werden, ohne das Tagesgeschäft zum Kollabieren zu bringen. An der Notwendigkeit regelmäßiger Regelverstöße wird also auch die "zero tolerance" der Verhaltensprävention nichts ändern. Sie führt nur dazu, dass die Dunkelziffer größer wird und die Scheinheiligkeit weiter an Bedeutung gewinnt.
Das Weitertreiben der Verhaltensprävention und die Moralisierung lassen informelle Regeln weiter erstarken - eine Informalität, die sich dem Zugriff der Compliance-Abteilung immer weiter entzieht. Das könnte ihr egal sein, wäre sie nicht formal auch zur Prävention verpflichtet - eine Aufgabe, die sie faktisch ohnehin nicht alleine leisten kann. Denn die Vorstellung, durch Trainings und die Vermittlung von Grundsätzen - man könnte auch sagen: Erziehung - zur Sozialisation beizutragen, macht die Rechnung ohne den Wirt. Die eigentliche Sozialisationskraft liegt in den operativen Geschäftsfeldern, nicht in einer Querschnittsabteilung außerhalb der Linie.
Im Tagesgeschäft spielen informelle Regeln die zentrale Rolle: Hier agieren bei Regelbrüchen in den meisten Fällen keine kalkulierenden Kriminellen, sondern an der Organisation orientierte Macher, die während ihrer Laufbahn im Unternehmen mit funktionalen Regelabweichungen "groß geworden" sind. Jeder weiß dabei, wo die kulturell bedingten Grenzen für Regelabweichungen sind, wann man den Graubereich verlässt, wo der kleine Verstoß zum schwerwiegenden Gesetzesbruch wird. Diese unsichtbare rote Linie überschreiten nur wenige. Diese Welt der "kleinen Sünder" funktioniert nach dem Legalitätsprinzip - und sie funktioniert gut. Das Integritätsprinzip ist hier fehl am Platze. Warum also sollte man diese Welt mit ihren kleinen Regelabweichungen zerstören?
Drei bessere Wege der Prävention
Compliance-Abteilungen können und sollten sich nichtsdestotrotz Gedanken zur Prävention machen, Ideen anstoßen, die anschließend operativ umgesetzt werden müssen. Sonst besteht die Gefahr, dass aus informellen Praktiken fehlgeleitete unternehmensinterne Subkulturen werden, in denen einzelnen Personen oder Gruppen organisationale oder persönliche Ziele mit unzulässigen Mitteln verfolgen. Solche Strukturen können leicht außer Kontrolle geraten. Dann fügen sie nicht nur der Gesellschaft, sondern auch dem Unternehmen einen umfangreichen Schaden zu, wie der Abgasskandal bei VW oder das Schmiergeldsystem bei Siemens eindrucksvoll zeigen.
Gerade deswegen können und müssen Compliance-Abteilungen versuchen, Strukturveränderungen zu initiieren - vielleicht mit Hilfe von Abteilungen, die sich mit Änderungsdynamiken in den operativen Geschäftsfeldern auskennen, wie etwa der Organisations- oder Personalentwicklung. Hierzu drei einfache Beispiele:
- 1. Es ist wissenschaftlich belegt, dass Frauen vor gravierenden Regelabweichungen eher zurückschrecken als Männer. Die verstärkte Öffnung der Karrieresysteme für mehr Diversität, also für Frauenkarrieren, könnte daher ein Strukturbeitrag zur Kriminalitätsprävention sein.
- 2. Insider tendieren dazu, sich häufiger außerhalb der Grenzen akzeptierter Regelabweichungen zu bewegen. Werden bestehende Teams regelmäßig durch "Outsider", also neue Mitglieder von außen, aufgefrischt, ändern sich die Spielregeln sofort, zu starke Abweichungen werden korrigiert. Auch eine Öffnung insiderdominierter Karrieresysteme kann daher ein sinnvoller Beitrag zur Prävention sein.
- 3. Auch eine langjährige Betriebszugehörigkeit kann dazu führen, dass Abweichungen als "normal" empfunden und deren Grenzen immer weiter verschoben werden. Hier könnte die etwa in die Jahre gekommene Idee der Job-Rotation Abhilfe schaffen und - ganz im Sinne der im Zeitalter der Digitalisierung viel beschworenen "Agilität" - durch häufigere Abteilungs- und Funktionswechsel einen Strukturbeitrag zur Prävention zu leisten.
Dies sind nur einige Ideen, aber sie sind besser dazu geeignet, Toleranzgrenzen überschreitende Regelabweichungen einzudämmen als die andauernde Betonung von Moral und Integrität. Diese vergrößert nur das Dunkelfeld und die Scheinheiligkeit.
Markus Pohlmann ist Mitglied der MeinungsMacher von manager-magazin.de. Trotzdem gibt diese Kolumne nicht notwendigerweise die Meinung der Redaktion des manager magazins wieder.