
Flugzeugbauer gerät immer stärker in die Defensive "Boeing lieferte keine Handbücher"
Das FBI hat sich strafrechtlichen Ermittlungen im Kontext mit der Zulassung von Boeings Unglücksflieger 737 Max angeschlossen. Die US-amerikanische Bundespolizei soll mit ihrem großen Apparat die Untersuchung des Verkehrsministeriums unterstützen, schreibt am Donnerstag die "Seattle Times" unter Berufung auf Insider.
Die Ermittlung werde vom Verkehrsministerium durchgeführt, aber von der strafrechtlichen Abteilung des Justizministeriums überwacht. Strafrechtliche Ermittlungen in der US-Luftfahrtindustrie, einschließlich der Aufsicht über die Flugzeugherstellung sind extrem selten, berichtet die über die Luftfahrtindustrie mit großer Expertise ausgestattete Zeitung. Sie dürfen als Indiz dafür gelten, welch hohen Stellenwert die Politik mittlerweile dem Thema einräumt. So sollen Boeing-Manager jetzt auch vor einem entsprechenden Ausschuss des US-Senats aussagen.
Ein Bericht derselben Zeitung vom vergangenen Sonntag hatte die Öffentlichkeit offenbar derart aufgeschreckt, dass sich US-Verkehrsministerin Elaine Chao am Dienstag zu dem ungewöhnlichen Schritt entschloss, die Sicherheitszertifizierung der neuen Boeing 737 Max-Flugzeuge im Jahr 2017 durch ihre Behörde überprüfen zu lassen.
US-Luftfahrtbehörde gab offenbar Zertifizierungsprozesse an Boeing ab
Nach zwei Abstürzen des Flugzeugtyps Boeing 737 Max in weniger als einem halben Jahr sieht sich vor allem die Luftverkehrsaufsicht FAA steigendem Misstrauen ausgesetzt. Die "Seattle Times" hatte in dem Bericht von Sonntag ausführlich beschrieben, wie hohe Beamte der Bundesbehörde ihre Ingenieure dazu gedrängt haben sollen, mehr Zertifizierungsprozesse an Boeing selbst zu delegieren.
Misstrauen ruft vor allem die Freigabe der umstrittenen Flugkontroll-Steuerungssoftware MCAS hervor, die eine entscheidende Rolle beim Absturz einer 737 Max 8 Oktober 2018 in Indonesien und auch beim jüngsten Crash einer solchen Maschine in Äthiopien gespielt haben soll. Bei den beiden Abstürzen waren insgesamt 346 Menschen ums Leben gekommen. Die Ermittlungen in beiden Fällen sind noch nicht abgeschlossen.
MCAS soll verhindern, dass der Schub der Triebwerke im Steigflug derart stark wird, dass sich die Maschine nicht mehr ausrichten lässt. Beide Unglücksmaschinen waren nach dem Start mit äußerst unregelmäßiger Flugkurve und Fluggeschwindigkeit aufgestiegen, sanken anschließend unkontrolliert ab und schlugen steil auf dem Boden auf.
Hat Boeing bei der Zertifizierung bewusst geschlampt?
Die "Seattle Times" hatte an anderer Stelle berichtet, dass Boeing der US-Flugaufsicht FAA nicht alle Informationen zu dem MCAS-System habe zukommen lassen. In den FAA-Unterlagen werde erklärt, dass das System das Ruder maximal um 0,6 Grad korrigieren könne. Boeing habe aber nachträglich einen Winkel von bis zu 2,5 Grad erlaubt, so die Zeitung.
Dies sei die Hälfte der überhaupt maximalen Ruderbewegung und hätte massive Auswirkungen auf den Flugverlauf. Auch sei nicht bekannt gewesen, dass sich die Wirkung der Software verstärke, je mehr die Piloten versuchten gegenzusteuern.
Stellen sich diese Informationen als richtig heraus, würde damit offensichtlich, dass das MCAS-System einen ausgesprochen hohen Einfluss auf die Maschine hätte, für manche Kommentatoren gar einen "bedrohlichen" Einfluss.
Sind Piloten über die Wirkungsweise dieses Softwaresystems nicht gut oder gar nicht informiert - was im Kontext mit den Unglücksmaschinen nach wie vor nicht auszuschließen ist -, könnte das zu fatalen Entwicklungen führen.
Unglückspiloten offenbar nicht am Simulator geschult - "Boeing lieferte keine Handbücher"
Mit Blick auf das kritisierte System MCAS bleibt unklar, wie Boeing letztlich so ein Flugkontrollsystem durch die Zertifizierung bekommen hat und warum die US-Flugaufsichtsbehörde FAA hier umfangreiche Schulungen offenbar nicht zur Auflage gemacht hatte.
Die "Seattle Times" weist in diesem Kontext darauf hin, dass die FAA schon seit vielen Jahren Boeing an der Zertifizierung beteilige. Die Praxis sei keineswegs neu. So sei die FAA bereits Mitte der 1990er Jahre heftig dafür kritisiert worden, weil Boeing die Sicherheitszertifizierung für die 777, quasi die erste Generation computergesteuerter Flugzeuge, habe weitgehend kontrollieren können.
Im Zuge der Zusammenarbeit und durch den hohen Druck für Boeing, schnell mit einem eigenen Flugzeugtyp auf den A320 von Airbus zu antworten, seien im Fall des neuen Mittelstreckenjets Boeing 737 Max große Teile auch sicherheitsrelevanter Zertifizierungen ganz auf Boeing übertragen worden. Boeing erklärte zu dem Bericht lediglich, dass die Zertifizierung des Flugzeugs streng nach den Vorschriften erfolgt sei.
Boeing kündigt neue Software und Schulungen für Besatzungen an
Boeing kündigte am Donnerstag nun an, für die 737 Max schnell eine bessere Software zu entwickeln. Auch sei ein entsprechendes Ausbildungsprogramm für Flugzeugbesatzungen vorbereitet worden. Die Behörde betrachte die Installation der Software und die Ausbildung als "Priorität".
Offensichtlich sieht sich Boeing hier durch neue Berichte stark unter Druck. So schreibt die Nachrichtenagentur Reuters am Mittwoch unter Berufung auf einen Piloten der Ethiopian Airlines, dass der Flugkapitän der Unglücksmaschine nicht auf einem 737-Max-Simulator geschult worden sei. Die Schulung hätte Ende März stattfinden sollen, die 737 Max 8 stürzte am 10. März kurz nach dem Start ab.
Unklar sei auch, ob der Co-Pilot der Unglücksmaschine an dem neuen Simulator geschult wurde. Ethiopian Airlines hatte den 737 Max-Simulator zwei Monate zuvor angeschafft - zählt damit aber gleichwohl zu einer Minderheit der Fluggesellschaften.
"Boeing lieferte keine Handbücher zu MCAS"
Treffen diese Informationen zu, würden der Flugzeughersteller Boeing und die FAA entlastet. Allerdings erklärte derselbe Informant gegenüber Reuters auch:
"Boeing lieferte keine Handbücher zu MCAS. Eigentlich wissen wir mehr über das MCAS-System aus den Medien als von Boeing."
Wo letztlich die entscheidenden Fehler und Versäumnisse begangen wurden, die zum Absturz der beiden Boeing 737 Max-Maschinen führten, wird die Ermittler noch lange beschäftigen und dürfte auch für kontroverse Diskussionen und Streit sorgen. Schließlich muss Boeing mit erheblichen Schadenersatzforderungen nicht nur von Fluggesellschaften rechnen, die diese Maschinen einsetzen und die jetzt am Boden bleiben. Einzelne Airlines erwägen zudem, ihre 737 Max-Bestellungen zu stornieren.