
Brexit-Tristesse: Nach der Austrittsankündigung der Briten herrscht bei vielen Firmen Beratungsbedarf
Foto: AFPAuf der Straße ist die Schlacht geschlagen. Die ersten Leave- und Remain-Plakate sind bereits verschwunden. Im "Operations room" der Kanzlei Clifford Chance in London hat die Schlacht indes gerade erst begonnen. Im Minutentakt klingelt dort das Telefon. Dutzende Experten stehen den Kunden der Kanzlei Frage und Antwort, von denen viele bis zum Donnerstag nicht wirklich an einen Brexit geglaubt hatten. Nun sind die unsicher, wie es weiter geht. Und wie sie auf die aktuelle Entwicklung reagieren sollen.
Noch ist vollkommen unklar, wann und ob die britische Regierung tatsächlich einen Austritt nach Artikel 50 der EU-Verfassung beantragen wird. Und falls ja, wie dann eine mögliche Kooperation zwischen Großbritannien und der EU aussehen wird.
Sicher erscheint allerdings, dass sich etwas ändern wird - und genau damit müssen sich sämtliche Unternehmen, die ihren Sitz in Großbritannien haben oder auch nur mit der Insel Geschäfte machen, nun auseinandersetzen. Dabei gilt es, so gut es geht Vorkehrungen zu treffen.
Der Beratungsbedarf ist enorm. So enorm, dass Experten der Beraterbranche einen regelrechten Boom voraussagen.
Der erste Ansturm ist bereits in vollem Gange. Nicht nur Clifford Chance hat eine fachübergreifende Brexit-Notfall-Hotline eingerichtet. Auch die Konkurrenz von K&L Gates bis zu Dechert LLP sind mit Kunden-Hotlines am Start. Ende offen. "Wir lassen die Hotline auf, so lange wie nötig", sagte ein Sprecher von Clifford Chance manager-magazin.de.
Auch ein Webcast der Unternehmensberatung PwC vom Freitag zeigt, wie hoch der Beratungsbedarf nach dem Brexit ist. Laut einem Bericht der "Financial Times" wurde der Artikel, der Kunden die wichtigsten Punkte und Konsequenzen des anstehenden Brexit vermittelt, fast 15.000 Mal geklickt.
"Zahltag für britische Juristen"
Wie immer bei Scheidungen gibt es mindestens einen Gewinner. Und das ist im Zweifel der Rechtsanwalt, zumindest für eine gewisse Zeit. Denn wie auch immer eine Trennung aussehen wird, es wird dauern, bis sie ausgehandelt ist. Zwei Jahre mindestens dürften die Exit-Verhandlungen dauern, schätzen der Unternehmensrechtsexperte Jonathan Macey von der Universität Yale und seine Kollegin Anu Bradford von der Columbia Universität.
Die Aushandlung eines neuen Handelsabkommens zwischen Großbritannien und der EU dauern womöglich bis zu zehn Jahre, schätzen die Experten von CMS Hasche Sigle.
Was das bedeutet, ist klar: "Zahltag für britische Juristen", so Macey.
Bereits jetzt gibt es bei den Firmen offenbar enormen Beratungsbedarf, wie die Clifford-Chance-Hotline und viele andere zeigen.
Die Rechtsunsicherheit ist groß: Wie geht es weiter mit dem freien Kapital- und Zahlungsverkehr? Was an EU-Regulierung bleibt erhalten? Was passiert mit in Großbritannien beschäftigten EU-Ausländern? Welche Zölle sind womöglich zu erwarten? Wird Großbritannien künftig steuerrechtlich bewertet wie jedes andere EU-Drittland? Wie sieht es aus mit der Zulassung von Wertpapierprospekten? Was passiert mit Patenten? Muss ich meine Unionsmarken künftig in Großbritannien noch einmal separat schützen lassen?
Auch die Lobby-Firmen dürften jubeln
Jede Menge Fragen, in denen Rechtsanwälte ihren Klienten zur Seite stehen können. Und in deren Neuregelung sie sich beratend einzumischen versuchen werden. Weshalb neben reinen Unternehmensberatungen und Rechtsanwälten auch Strategieberater und Lobbyfirmen auf goldenen Zeiten hoffen dürften.
Schließlich müssen hunderte Gesetze, Regeln und Übereinkommen aufgebrochen und neu geschrieben werden. Von Subventionsregeln für Fischerei und Landwirtschaft über Handelsgesetze bis hin zu Einwanderungsfragen.
Doch die Sache hat gleich mehrere Haken. Schon im Vorfeld des Brexit hatte - sicher auch aufgrund der damit verbundenen Unsicherheit - die M&A-Tätigkeit in Großbritannien stark abgenommen - laut Dealogic um ganze 65 Prozent im ersten Halbjahr 2016, und damit doppelt so stark wie weltweit.
Angesichts des nun zu erwartenden Feilscherei rechnen Experten damit, dass die Zahl der grenzüberschreitenden Übernahmen weiter sinken wird. Und nicht nur das. Auch die Zahl der Börsengänge in Großbritannien dürfte in Zukunft merklich sinken, glaubt der Jurist John Coffee von der Columbia Universität in New York. Entsprechend dürfte auch viele Juristen und Investmentbanker das Land verlassen um dorthin zu gehen, wo die Geschäfte gemacht werden.
Warum die Sache dennoch einen Haken hat
Auch manch andere global operierende Firma wird womöglich einen Umzug in Erwägung ziehen. Standorte wie der Finanzplatz Frankfurt sind jedenfalls schon in den Startlöcher und werben um neue Kunden.
Wirklich freuen kann man sich offenbar selbst bei Clifford Chance nicht über den neuen Kundenandrang. "Es ist als ob man ein Doktor in Zeiten der Pest ist", sagte Clifford-Chance-Partner Simon Gleeson, selbst eines der Kernglieder des Brexit-Operations- Rooms. "Man ist dann sehr sehr beschäftigt - aber auf lange Sicht ist es nicht wirkich gut."