Führen in China "Die westliche Lehre ist nicht mehr das Maß der Dinge"

Chinas Geschäftswelt: "Ich vermisse die chinesische Gesellschaft, die eine sehr weiblich geprägte ist"
Foto: CARLOS BARRIA/ REUTERSmm: Herr Cremer, Sie sind nun ein Jahr Präsident der EBS Universität für Wirtschaft und Recht in Wiesbaden und Oestrich-Winkel, nachdem Sie Jahrzehnte in China gelehrt haben. Vermissen Sie China?
Cremer: Ja, die weibliche Seite Chinas.
mm: Sie sind doch verheiratet...
Cremer: Ja - und zwar sehr glücklich. Meine Bemerkung zielte in eine andere Richtung. Ich vermisse die chinesische Gesellschaft, die eine sehr weiblich geprägte ist. Sie hat weniger Macho-Elemente, die unsere westlichen Gesellschaften teilweise prägen. In China geht es oft pragmatischer und nachgiebiger zu. Das macht das Arbeiten in chinesischen Organisationen weniger konfrontativ und menschlich deutlich angenehmer.
mm: Auch in chinesischen Unternehmen, die doch sehr hierarchisch geprägt sind?
Cremer: Es stimmt schon: Chinesische Firmen sind sehr stark von der einen Person an der Spitze geprägt und sehr hierarchisch aufgebaut. Aber innerhalb der Hierarchie werden viele Experten in Entscheidungen eingebunden. Es wird diskutiert und auf Konsens hingearbeitet. Das mag uns nicht immer als effizient erscheinen, aber es hält die Organisation zusammen.
mm: Der chinesische CEO ist nicht der Alleinherrscher?
Cremer: Nein, diese amerikanische Figur des CEO ist unchinesisch. Entscheidungen fallen dort nach langer Diskussion eher im Kollektiv. Man versucht, Verlierer zu vermeiden, so dass jeder sein Gesicht wahrt. Man ist auch nicht so hart, wie ich es nach meiner Rückkehr hier in Deutschland empfunden habe. Zum Beispiel, wenn es um den Abbau von Arbeitsplätzen geht.
mm: In China gibt es auch Entlassungen ...
Cremer: Ja, aber die Umgangsformen sind andere. Wenn Unternehmen in China oder auch in anderen asiatischen Ländern einen Mitarbeiter entlassen, dann in der Regel in einer so respektvollen Art und Weise, dass sie ihn in der nächsten Woche wieder einstellen könnten.
mm: Führen denn die Chinesen anders als im Westen? Gibt es denn eine chinesische Managementphilosophie?
Cremer: In den 80er und 90er Jahren konnte chinesischen Führungskräften das Management nicht westlich genug sein. An der China Europe International Business School (CEIBS) in Shanghai, wo ich bis 2011 tätig war, hatten wir damals fast nur westliches Lehrpersonal und nur westliche Curricula. Die wichtigste Frage der Studenten war damals:Ist das auch wirklich das, was ihr im Westen lehrt? Heute ist die westliche Managementlehre nicht mehr das Maß aller Dinge.
mm: Aber für viele Chinesen ist doch ein MBA nach wie vor das höchste Ziel?
Cremer: Richtig, aber nicht unbedingt ein MBA mit nur westlichen Inhalten. Wir an der CEIBS haben deshalb vor ein paar Jahren begonnen, die Curricula chinesisch zu formen. Und wir haben zunehmend chinesische Kollegen eingestellt. Als ich vor einem Jahr als Dekan die CEIBS verließ, war ich fast der einzige Ausländer in einer Leitungsfunktion. Die wissenschaftliche Führung hatten wir innerhalb von zehn Jahren in die Hände chinesischer Professoren, die im Ausland ausgebildet waren, legen können. Eine großartige Entwicklung.
mm: Was hat sich denn im Lehrplan geändert? Konfuzius statt Shareholder Value?
Cremer: Wir lehrten beides. Aber das kulturelle und historische Element ist verstärkt worden. China ist nicht völlig anders, aber es ist verschieden genug, um dies an allen Stellen zu berücksichtigen.
mm: Manche sprechen bereits von einer Renaissance des Konfuzianismus. Sie auch?
Cremer: Viele Chinesen - gerade auch die Manager - kommen in eine Sinnkrise. Sie haben jede Menge Geld und fragen sich zunehmend: Wozu das alles? Die Antwort finden viele in der Rückbesinnung auf konfuzianische Vorstellungen einer geordneten, harmonischen Gesellschaft, die Verbindungen und Orientierung für das Individuum schaffen.