Börsenrat Wolfgang Gerke "VW muss raus aus dem Dax"
mm.de: Herr Gerke, auf die Stammaktie von Volkswagen ist eine regelrechte Jagd ausgebrochen. Die Aktie notierte am Dienstag zeitweise über 1000 Euro und hat sich binnen zweier Handelstage fast verfünffacht. Wie erklären Sie sich diese aberwitzige Kursentwicklung?
Gerke: Ein Erklärungsansatz ist, dass eine sehr hohe Nachfrage auf eine sehr geringe Zahl noch frei handelbarer VW-Aktien trifft. Porsche besitzt bereits rund 42 Prozent der Stammaktien und hat über Tauschgeschäfte, so genannte "cash gesettelte Optionen", Zugriff auf weitere 31,5 Prozent. Das ergibt rund 74 Prozent. Da das Land Niedersachsen weitere rund 20 Prozent an VW hält, sind offenbar nur noch rund 6 Prozent der VW-Aktien frei handelbar. Dem gegenüber steht offenbar eine hohe Zahl von Investoren, die auf fallende Kurse gewettet und Aktien leer verkauft haben. Sie wurden von der Kursrally der Aktie auf dem falschen Fuß erwischt, und mit jeder weiteren Kurssteigerung steigen ihre Verluste. Wenn diese Investoren jetzt versuchen, die Aktien nachzukaufen und ihre Positionen zu schließen, trifft zwangsläufig eine extrem hohe Nachfrage auf ein limitiertes Angebot: Und so etwas treibt den Preis.
mm.de: Die Marktkapitalisierung des VW-Konzerns ist heute zeitweise auf 300 Milliarden Euro gestiegen - VW war damit vor Exxon Mobile für einen Moment das wertvollste Unternehmen der Welt. Gleichzeitig beherrscht VW den gesamten Aktienindex Dax: Die Entwicklung des Deutschen Aktienindex hängt derzeit in hohem Maße von der Kursentwicklung einer einzigen Aktie ab. Ist das noch gesund?
Gerke: Ein Index wie der Dax sollte eine gesamtwirtschaftliche Entwicklung abbilden. Wenn ein Index wie derzeit so stark von einer einzigen Aktie bestimmt wird, ist das sicherlich weder wünschenswert noch gesund. Es entsteht der Eindruck, dass hier der Schwanz mit dem Hund wackelt.
mm.de: Händler fordern bereits, den Handel mit der VW-Aktie auszusetzen, damit die Performance eines Gesamtindex nicht mehr von den Kurskapriolen einer offenbar völlig überbewerteten, von technischen Faktoren getriebenen Aktie bestimmt wird.
Gerke: Den Handel mit VW-Aktien einzustellen, halte ich für keine gute Idee. Damit würden die Probleme derjenigen, die auf dem falschen Fuß erwischt worden sind, noch größer. Eine Handelsaussetzung würde mehr Probleme schaffen als lösen. Die Deutsche Börse muss als Indexanbieter jetzt anders reagieren.
mm.de: Am Montagabend, bei einem Kurs von 520 Euro, hatte die Volkswagen-Stammaktie bereits ein Gewicht von knapp 17 Prozent im Dax. Dies liegt klar über den 10 Prozent, welche die Deutsche Börse als Obergrenze vorsieht. Gleichzeitig nähert sich der Bestandteil der real frei handelbaren Aktien offenbar der Marke von 5 Prozent - wenn man die 31,5 Prozent der Aktien, die Porsche über Optionen kontrolliert, herausrechnet.
Gerke: Das ist in der Tat ein großes Problem, dem wir nicht untätig zuschauen können. Die Deutsche Börse muss meiner Meinung nach jetzt eingreifen und die Gewichtung von Volkswagen auf Grund des stark gesunkenen Freefloats kurzfristig reduzieren.
mm.de: Nach Auskunft der Deutschen Börse sind für eine solche Neugewichtung die so genannten Verkettungstermine vorgesehen: Viermal pro Jahr trifft sich der Arbeitskreis Aktienindizes der Deutschen Börse, um die einzelnen Unternehmen im Index neu zu gewichten. Der nächste Verkettungstermin ist allerdings erst am 3. Dezember.
Gerke: Es reicht nicht aus, auf den 3. Dezember zu warten, um die VW-Aktie dann turnusmäßig neu zu gewichten. Als Mitglied des 18-köpfigen Börsenrates der Deutschen Börse meine ich: Die Deutsche Börse muss jetzt handeln. Die Gewichtung von VW ist inzwischen weit oberhalb der vorgesehen Obergrenze von 10 Prozent, und der reale Free Float ist möglicherweise bereits heute unter die Marke von 5 Prozent gefallen. Darauf muss die Deutsche Börse reagieren.
mm.de: Fällt der Free Float unter die Marke von 5 Prozent, greift die Fast-Exit-Regel der Deutschen Börse: Die Aktie von Volkswagen würde auf Grund ihres zu geringen Bestandes frei handelbarer Aktien binnen zwei Tagen aus dem Dax entfernt. Sollte Porsche seine Optionen für 31,5 Prozent der VW-Aktien ziehen, kann dieses Szenario sehr rasch eintreten. Damit würde letztlich Porsche über den Verbleib von VW im Dax entscheiden.
Gerke: Die Fast-Exit-Regel ist klar formuliert: Wenn der Free Float unter die 5-Prozent-Marke fällt, muss Volkswagen raus aus dem Dax. Das Problem ist jedoch, dass die 31,5 Prozent der VW-Aktien, die Porsche derzeit über Optionen kontrolliert, von der Deutschen Börse noch dem Free Float zugerechnet werden. Aber auch für den Fall, dass Porsche seine Optionen noch nicht zieht und der Bestand frei handelbarer Aktien damit weiterhin offiziell über 5 Prozent bleibt, muss die Deutsche Börse jetzt tätig werden. Sie muss kurzfristig zumindest die Gewichtung von VW im Dax verringern. Es kann nicht angehen, dass eine einzige Aktie den Deutschen Aktienindex so stark bestimmt, wie das derzeit der Fall ist.