Die Ära der Knappheiten Wir haben keine Zeit mehr zu verlieren
Ganz am Anfang hatte der Mensch Zeit, viel Zeit. Denn Gott, so erzählt die Bibel die frühe Menschheitsgeschichte, "pflanzte einen Garten in Eden gen Osten hin und setzte den Menschen hinein", sodass für alles gesorgt war.
Adam und Eva konnten sich nach Herzenslust bedienen. Arbeit, Krieg und Streit gab es nicht. Anstrengung war überflüssig. Paradiesische Zeiten, in der Tat.
Doch dann kam der Sündenfall, die Vertreibung aus dem Garten Eden, und seither hat der Mensch keine Zeit mehr: Er muss arbeiten und für seine Sicherheit sorgen. "Auf deinem Bauch sollst du kriechen und Erde fressen dein Leben lang", ruft der zürnende Gott Adam nach.
In der Geschichte vom Paradies und der Vertreibung aus demselben sehen heutige Bibelforscher ein großes Gleichnis, das eine fundamentale Menschheitserfahrung überliefert. Es ist eine Parabel auf die Sesshaftwerdung des Menschen - sie beschreibt den Übergang zur heutigen Form des Wirtschaftens.
Die Geschichte spielt in einer Zeit, als die Bewohner des Mittleren Ostens aufhören, als Jäger und Sammler zu leben - die gewachsene Zahl von Menschen lässt sich nicht mehr auf derart ungezähmte Art ernähren. Die Menschen damals müssen diesen Übergang als traumatisch erlebt haben: Aus dem wilden, freien Leben im relativen Überfluss, das die jagenden und sammelnden Nomaden zuvor führten, ist eine mühevolle Existenz geworden. Von nun an müssen die Menschen als Bauern ihr Brot - wortwörtlich - im Schweiße ihres Angesichts erarbeiten.
So erzählt es die Bibel: Als der eine Sohn von Adam und Eva den anderen erschlägt, geht die Mühsal erst richtig los. Der Schäfer Abel stirbt, und der "Ackermann" Kain muss fürderhin noch schwerer schuften. Kain, der Bauer, ist der Archetypus der neuen Zeit. Seine Arbeit ist hart, der Ertrag ist karg. Kein Wunder, denn die gerade sesshaft gewordenen Menschen müssen die Techniken des Landbaus erstmal erfinden. Noch mal Mose: "Verflucht seist du auf der Erde, die ihr Maul hat aufgetan und deines Bruders Blut von deinen Händen empfangen. Wenn du den Acker bebauen wirst, soll er dir hinfort seinen Ertrag nicht geben. Unstet und flüchtig sollst du sein auf Erden " Und so weiter und so fort. Alles hochgradig symbolisch.
Kains Leben ist hart, er ist streitbar, neidisch und gewalttätig, all das gehört zur neuen Epoche. Denn im Zentrum der Existenz des Bauern steht nun das Eigentum: an Boden und an Saatgut. Während in den vorherigen - den paradiesischen - Zeiten Eigentum nur eine begrenzte Bedeutung hatte, wird es nun überlebenswichtig.
Zeit ist knapp, Zeit ist Geld
Muße und Friedfertigkeit haben in dieser Welt kaum noch Platz. Der Mensch kämpft ums Überleben, gegen die Natur, gegen andere Menschen.
Und doch versinkt die Menschheit nicht in Chaos und Hunger. Im Gegenteil: Die Vertreibung aus dem Paradies löst eine Explosion an Produktivität und Kreativität aus.
Kain, der mit dem Schandmal Gezeichnete, schafft wahrhaft Großes: Nachdem er "von dem Angesicht des Herrn" weggehen musste, geht er ins Land Nod, "jenseits von Eden, gegen Osten". Und schon kommt die Kulturgeschichte mächtig in Schwung: "Kain erkannte sein Weib; die ward schwanger und gebar den Henoch. Und er baute eine Stadt, die nannte er nach seines Sohnes Namen Henoch." So geht es weiter, Schlag auf Schlag: Kain wird Stammvater mehrerer Stämme und mehrerer Berufe. Er begründet, wie es bei Mose heißt, den Stamm derjenigen, "die in Zelten wohnen und Vieh halten" (also Nomaden). Unter seinen Nachfahren finden sich "alle Zither- und Flötenspieler" (die schönen Künste). Und außerdem "alle Erz- und Eisenschmiede" (das Handwerk). Eine stolze Leistung für einen Menschen: eine Stadt gegründet, mehrere Stämme und Berufe begründet. Wer kann das schon von sich sagen!
Zeit ist knapp. Deshalb ist Zeit Geld. Das Leben besteht aus Arbeit, aus der Erringung von Besitz und aus der Verteidigung desselben. So ist die Welt, jenseits von Eden.
Jenseits von Eden? In gewisser Weise erleben wir in der Gegenwart etwas ähnlich Schockierendes. Es ist, in stark abgeschwächter Form, eine erneute Vertreibung aus dem Paradies - ein Hinausgestoßenwerden in eine risikoreichere Welt, in der es rauer und reichlich stressig zugeht. Natürlich sind die Lebensbedingungen heute nicht mit denen im Zweistromland Jahrtausende vor der Zeitenwende zu vergleichen.
Aber wir erleben eine fundamentale Umwälzung, die viele Zeitgenossen als Verschlechterung wahrnehmen. Eine Ära der Muße und Behaglichkeit endet, es beginnt eine Phase des harten Wettbewerbs und der multiplen Knappheiten, von denen dieses Buch handelt.
Die Globalisierung und der demografische Wandel beenden eine in gewisser Weise paradiesische Epoche. Nach der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs und den ersten harten Jahren des Wiederaufbaus begann eine Phase, in der nicht nur die materiellen Möglichkeiten der Bürger in den westlichen Ländern rasch stiegen, sondern auch ihre verfügbare Zeit.
Golden Sixties - Rückgang der Arbeitszeit
Die Arbeitszeiten gingen zurück. Die 40-Stunden-Woche wurde eingeführt, später mancherorts gar die 35-Stunden-Woche. Arbeitsfreie Samstage und vier bis sechs Wochen Jahresurlaub wurden in Westeuropa Standard. Mehr noch: Immer längere Lebensphasen wurden komplett von Arbeit befreit.
Die Ausbildungszeiten, zumal für Akademiker, dehnten sich immer weiter aus. Der Ruhestand wurde immer länger, ohne dass die Rentner ihren Lebensstandard nennenswert hätten einschränken müssen. Zeitweise gingen die Deutschen mit durchschnittlich 59 Jahren in den Ruhestand.
Wer es geschickt anstellte, konnte mit Ende 20, nach langem Studium, in den Beruf einsteigen und sich mit Ende 50 schon wieder in die Rente verabschieden - rund 30 Jahre Erwerbstätigkeit bei einer Lebenserwartung von knapp 80 Jahren. Wurde er zwischendurch arbeitslos, bekam er eine relativ großzügige Unterstützung, die ihm zumindest halbwegs den gewohnten Lebensstandard sichern sollte.
Es kam noch besser. Hausarbeit wurde in einem zuvor unvorstellbaren Maß rationalisiert. Die automatische Waschmaschine ersetzte Waschbrett, Kochzuber und Mangel; der elektrische Staubsauger trat an die Stelle von Teppichklopfer und Besen; der Geschirrspülautomat löste händisches Spülen und Abtrocknen ab; die Zentralheizung entband vom Kohlenschleppen und vom Anheizen des Ofens; Mikrowellengeräte und Fertiggerichte ermöglichten das Zubereiten ganzer (wenn auch nicht sonderlich schmackhafter) Malzeiten binnen Minuten statt Stunden; die Versorgung mit Essensvorräten konnte man nun in ein und demselben Supermarkt erledigen statt auf Märkten oder mühsam in eigenem Anbau.
Um nur die augenfälligsten zeitsparenden Neuerungen zu nennen. Frühere Generationen brauchten täglich Stunden, um Kleidung und Wohnung sauber zu halten, um zu heizen, um Essen zu beschaffen und zuzubereiten - jetzt war all das in einem Bruchteil der Zeit möglich. Eine enorme Ersparnis.
Und bei all diesen Entlastungen brauchten die Menschen sich nur noch vergleichsweise wenig um Kinder und Alte zu kümmern. Denn sie hatten weniger Nachwuchs.
Und auf die großen Kohorten mittleren Alters kam nur eine relativ geringe Zahl alter, pflegebedürftiger Menschen. Pflege und Betreuung übernahmen zunehmend Profis in staatlich finanzierten Einrichtungen.
Freizeitgesellschaft als Auslaufmodell
Auch wenn es uns heute nicht so vorkommt: Die Welt, aus der wir kommen und die die Mehrheit der heute Lebenden geprägt hat - die Welt der sechziger bis achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts -, kam dem innerweltlichen Äquivalent zum Garten Eden ziemlich nahe.
Nie zuvor hatten die Menschen so viel Zeit. Keine vorangegangene Generation genoss eine vergleichbare Sicherheit. Und es ist nicht absehbar, dass es nachfolgende Generationen je wieder so leicht haben werden. Schluss mit lustig? Jedenfalls ist die "Freizeitgesellschaft", in der die anstrengenden Teile des Lebens eher Nebensache sind und die sich vor allem ums Vergnügen kümmert, ein Auslaufmodell.
Denn: Zeit wird knapper, weil die offene Weltwirtschaft einen harten Wettbewerb um höhere Produktivität und niedrigere Kosten entfacht hat, dem sich jeder Einzelne stellen muss - durch mehr Arbeit, Fortbildung und Fortentwicklung.
Zeit wird knapper, weil die Globalisierung einen permanenten und häufig schwer vorhersehbaren Wandel vorantreibt, der Individuen und ganze Gesellschaften dazu zwingt, sich immer wieder auf neue Bedingungen einzustellen - ein zeitraubendes, aufwändiges und häufig nervenaufreibendes Geschäft.
Zeit wird knapper, weil die demografische Wende zu einer ungünstigeren Alterszusammensetzung der Bevölkerung führt, was nur durch höhere Produktivität und längeren Lebensarbeitszeiten abgefedert werden kann - der "Ruhestand" wird deutlich kürzer.
Zeit wird knapper, weil die immer größere Zahl der hilfebedürftigen Alten so stark steigen wird, dass ihre Unterstützung die öffentlichen Systeme überfordert - nur private Hilfsleistungen, informell unter Freunden, Verwandten und Nachbarn oder formell in Ehrenämtern, werden in den kommenden Jahrzehnten die Lücke schließen können.
Zeit wird knapper, weil die staatlichen Sicherungssysteme für viele nur noch ein Minimum an Unterstützung bieten können und kein Niveau, das den Lebensstandard sichert - Erwerbsarbeit wird für viele Menschen zur Notwendigkeit.
Kurz: Das Leben füllt sich wieder mit Pflichten an. Aber ist das schlimm? Eigentlich nicht. Dieses Urteil drängt sich jedenfalls auf, wenn man sich anschaut, wie die Deutschen bislang ihre Lebenszeit verbringen.
China: Das Wirtschaftswunder erreicht seine Grenzen