Robert Solow "Armut ist etwas anderes"

Wirtschaftsnobelpreisträger Robert Solow hat Neuigkeiten für die Bundesregierung: Im Gespräch mit manager-magazin.de erklärt er, dass Mindestlöhne keine Massenarbeitslosigkeit provozieren, sich hierzulande amerikanische Lohnverhältnisse ausbreiten - und warum europäische Tarifverträge ihn nicht mehr schockieren.
Von Karsten Stumm

mm.de: Professor Solow, was läuft schief in Deutschland? Im Einzelhandel hierzulande arbeiten etwa ein Drittel aller Beschäftigten zu Niedriglöhnen, ganze Branchen wie etwa das Hotelgewerbe scheinen zu folgen - trotz mittlerweile passablem Wirtschaftswachstum. Verliert die Bundesrepublik ihr Gleichgewicht?

Solow: Wissen Sie, ich forsche jetzt schon Jahrzehnte. Und ich bin bisher immer davon ausgegangen, dass die Zahl und Qualität schlecht bezahlter Jobs vom technologischen Stand einer Wirtschaft und den generellen Marktbedingungen der Weltökonomie abhängt. Aber das stimmt nicht.

Die Sozialgesetzgebung spielt eine gewaltige Rolle. Selbst unter vergleichbaren Staaten wie den USA, Deutschland, Frankreich oder Dänemark gibt es deshalb gewaltige Unterschiede. Und Deutschland bewegt sich mit großen Schritten auf amerikanische Verhältnisse zu. Das läuft schief.

mm.de: Bitte? Dabei hat die Bundesrepublik einen der höchsten Sozialetats weltweit.

Solow: Das ist richtig. Dennoch: Vor 15 oder 20 Jahren hatte die Bundesrepublik noch einen Niedriglohnsektor, vergleichbar mit dem heutigen in Dänemark; etwa 8 Prozent der Beschäftigten dort sind für die jeweiligen Landesverhältnisse schlecht bezahlt. Deutschland aber liegt mittlerweile bei nahezu jenen 25 Prozent, die wir auch in Amerika haben.

mm.de: Das heißt, dass sich in der Bundesrepublik Armutsarbeit ausbreitet?

Solow: So weit würde ich nicht gehen, nein. Die Löhne in Deutschland sind überdurchschnittlich hoch, verglichen mit denen in vielen Staaten. Wer in Deutschland weniger als zwei Drittel des Durchschnittslohns verdient, zählt deshalb zwar zu den Angestellten im Niedriglohnsektor. Armut aber ist etwas anderes.

"Tarifverträge für alle"

mm.de: Wer ist besonders betroffen von dieser Entwicklung?

Solow: Egal, welchen Niedriglohnsektor welches Staats auch immer Sie analysieren würden, Sie finden immer die gleichen Bevölkerungsgruppen: Frauen, junge Leute, Einwanderer und schlecht ausgebildete Menschen. Und ob Sie höhere Gefahr laufen, betroffen zu sein, hängt auch davon ab, in welcher Branche Sie einen Job gefunden haben - überraschenderweise in diesem Fall unabhängig vom formalen Qualifikationsniveau.

mm.de: Sie meinen, ein Nobelpreisträger wie Sie würde im Hotelgewerbe auch nur ein paar Euro in der Stunde verdienen?

Solow: Genau so ist es, junger Mann. Weil ich kein bisschen produktiver beim Bettenmachen wäre als die schlecht ausgebildete, weibliche Immigrantin. Die Jobs in diesen Branchen bleiben schlecht bezahlte Jobs, egal wer sie macht. Wer den Anteil der Angestellten im Niedriglohnsektor senken möchte, muss deshalb für Tarifverträge sorgen, die für alle Beschäftigten gelten. Als Amerikaner müsste ich eigentlich reflexhaft schockiert sein, das jemand so etwas überhaupt erwägt.

mm.de: Die Bundesregierung erwägt, noch weiterzugehen und einen Mindestlohn einzuführen. Halten Sie das für eine gute Idee?

Solow: Das ist zumindest eine weitere Möglichkeit, möglichst viele Menschen einzubeziehen. Und sie ist weniger gefährlich, als wir erwartet hatten. Wir haben vielmehr herausgefunden, dass folgende Gleichung zumeist nicht stimmt: Niedrige Mindestlöhne bedeuten wenige Arbeitslose, aber hohe Mindestlöhne verursachen hohe Arbeitslosigkeit.

"Ich war überrascht"

mm.de: Sie würden also sofort Mindestlöhne per Gesetz vorschreiben, wenn Sie Deutschlands zuständiger Minister wären?

Solow: Nein, denn ich wüsste nicht, welche Höhe diese Löhne haben sollten, und das ist ein großes Problem mit diesen Mindestlöhnen. Und die lösen auch ein anderes nicht: Sie gaukeln den Menschen in den betroffenen Branchen mehr Sicherheit vor, als sie ihnen geben können. Denn jedes Unternehmen, das in Schwierigkeiten gerät, wird auch in Zukunft versuchen, als Erstes seine weniger qualifizierten Angestellten zu feuern. Mindestlöhne garantieren also eigentlich nur in guten Zeiten ein auskömmlicheres Einkommen.

mm.de: Aber großen Schaden richten Mindestlöhne dann auch nicht an?

Solow: Der vielfach in Amerika - aber auch in Deutschland - verbreitete Glaube, dass vergleichsweise hohe Mindestlöhne gemessen an den ursprünglichen Einkommen eine Vielzahl von Arbeitsplätzen vernichten, scheint zumindest falsch zu sein. Sie bergen die Gefahr, Jobs zu vernichten, nicht aber Massenarbeitslosigkeit heraufzubeschwören.

mm.de: Hat Sie diese Erkenntnis persönlich überrascht?

Solow: Ich war überrascht, ja. Allerdings noch mehr davon, welche Auswirkungen institutionelle Vorgaben auf den Arbeitsmarkt für jeden Einzelnen haben.

mm.de: Aus Deutschlands Sozialkassen fließen schon heute mehr als vier Milliarden Euro direkt an Angestellte im Niedriglohnsektor, um deren Gehaltsschecks aufzubessern. Werden künftig noch Milliarden hinzukommen?

Solow: Wenn sich die aktuelle Tendenz fortsetzt, dann ja. Aber Sie sollten nicht so sehr auf die Summe schauen, sondern auf den Anteil des Bruttoinlandsprodukts, der dafür aufgewendet wird. Und dann muss jede Gesellschaft für sich entscheiden, wie groß ihr Appetit auf Geldgeschenke an andere ist. In Amerika dürfte er weniger ausgeprägt sein als in Deutschland.

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