Superkapitalismus "Moral ist ein Produktionsfaktor"

Steuerrazzien, Finanzkrise, Korruption: Wenn Manager und Politiker so weitermachen, gerät unsere Gesellschaft aus den Fugen, fürchtet Ingo Pies. Der Wirtschaftsethiker sagt, welche Lehren wir aus der aktuellen Krise des Turbokapitalismus ziehen sollten, wieso Manager eine andere Ausbildung brauchen – und warum es gut ist, wenn wir wieder die Systemfrage stellen.

mm.de: Herr Professor Pies, erst die Korruptionsaffäre bei Siemens, dann die Kreditkrise, dann die Debatte über das Nokia-Werk in Bochum, dann die Zumwinkel-Liechtenstein-Affäre - es scheint, als sei die global agierende Topmanagerelite auf Crash-Kurs zum Rest der Gesellschaft. Beunruhigend, oder?

Pies: Die Zuspitzung ist in der Tat explosiv. Unternehmen müssen mehr in ihre Glaubwürdigkeit investieren. Sonst erodiert nicht nur das Vertrauen in Unternehmen, sondern auch das Vertrauen in die Marktwirtschaft als System. Die empirischen Daten hierzu sind besorgniserregend.

mm.de: In unserer aktuellen Titelgeschichte der Printausgabe des manager magazins, Heft 03/2008, stellen wir die Frage: "Gefährdet der Superkapitalismus die Demokratie?" Wie beantworten Sie die Frage?

Pies: Wenn wir so weitermachen, dann geraten Demokratie und Marktwirtschaft gemeinsam in eine sich selbst verstärkende Abwärtsspirale.

mm.de: Sie haben eben gesagt, Unternehmen müssten in Glaubwürdigkeit investieren. So etwas kostet Geld. Viele Unternehmen glauben, sie könnten sich das nicht leisten.

Pies: Das Bemühen um Glaubwürdigkeit ist kein Selbstzweck, sondern eine Investition mit Rendite. Moral ist ein Produktionsfaktor. Richtig eingesetzt, sind moralische Bindungen von zentraler Bedeutung für jede Art von Wertschöpfung. Für eine produktive Zusammenarbeit benötigt man das Vertrauen der Interaktionspartner. Ohne ein solches Vertrauen wird es im Geschäftsleben schwierig.

mm.de: Wie soll eine solche Theorie praktisch werden? Wie stellen Sie sich die Umsetzung vor?

Pies: Das fängt bei der Ausbildung an. Traditionell lernen BWL-Studenten an der Uni vornehmlich eines: zu optimieren - innerhalb eines gegebenen Rahmens die quantitativ besten Ergebnisse zu erzielen. Das genügt aber heute nicht mehr. Führungskräfte müssen zusätzlich lernen, den Rahmen zu gestalten. Die traditionelle Kompetenzvermittlung muss also ergänzt werden. Strategisches Management ist als Beziehungsmanagement aufzufassen: Es geht um moralische Bindungen, mit denen ein Unternehmen den für die Wertschöpfung wichtigen Partnern glaubwürdig signalisiert, dass es deren Vertrauen verdient.

"Ordnungspolitik zweiter Ordnung"

mm.de: Und wie bringen Sie das Ihren Studenten bei?

Pies: Meine Erfahrung ist: Studierende und Manager haben etwas gemeinsam. Sie wollen sich moralisch verhalten. Deren gemeinsame Horrorvision ist: in ein fragwürdiges Unternehmensumfeld zu geraten und dann in einem unerträglichen Konflikt leben zu müssen zwischen einer unmoralischen Alltagspraxis auf der einen Seite und ihrem normativen Selbstverständnis auf der anderen Seite.

Insofern besteht bei etablierten wie bei angehenden Führungskräften ein gesundes Eigeninteresse, genau jene Gestaltungskompetenzen zu erwerben, mit denen man solche Konflikte vermeiden oder auflösen kann. Jedenfalls gilt: Mit schlechtem Gewissen kann man keine guten Geschäfte machen.

mm.de: Nehmen wir mal das Beispiel der Siemens-Affäre. Wie muss man gegen Korruption vorgehen?

Pies: Das Management ist für die Integrität des Unternehmens verantwortlich. Es hat dafür zu sorgen, dass die Anreize stimmen. Hierfür gibt es eine breite Palette von Instrumenten. Die reicht von den Kriterien für die Entlohnung von Mitarbeitern über sanktionsbewehrte Verhaltenskodizes bis hin zu anonymen Hinweissystemen (Whistleblowing).

Damit das funktioniert, benötigen Manager aber auch Argumentationskompetenz: Eine wirksame Korruptionsprävention ist darauf angewiesen, dass den Mitarbeitern verständlich gemacht wird, diejenigen, die Missstände im Unternehmen melden, nicht als Verräter zu sehen.

Wer sich moralisch richtig verhält, darf nicht als Verlierer dastehen. Sonst erodiert die Moral. In der Managerausbildung müssen wir deshalb deutlicher machen, dass es nicht nur darum geht, Spielzüge innerhalb eines gegebenen Rahmens zu optimieren. Aufgabe des Managements ist es, die Spielregeln zu verbessern.

mm.de: Spielregeln verbessern - das klingt nach Gesetze beugen, wie die mutmaßlichen Steuerhinterzieher in der Liechtenstein-Affäre.

Pies: Dass Gesetze eingehalten werden müssen, versteht sich von selbst. Mir geht es um die firmeninternen Spielregeln, die von den Managern zu setzen sind. Von diesen Regeln hängt es ab, ob die Gesetze gegen Korruption nur auf dem Papier stehen.

Ich bezeichne das als Ordnungspolitik zweiter Ordnung: Wir müssen die Unternehmen ermutigen und in die Lage versetzen, aus ihrem wohlverstandenen Eigeninteresse heraus gegen Korruption präventiv vorzugehen. Einer intelligenten Ordnungspolitik geht es um Anreize zur Anreizsetzung in und durch Unternehmen.

"Systemfrage legitim und wichtig"

mm.de: Was Sie fordern, setzt eine langfristige Perspektive voraus. Dax-Vorstände sind im Schnitt nicht mal mehr fünf Jahre im Amt.

Pies: Da deutet sich eine Fehlentwicklung an, in der Tat. Hier kommt eine Kurzfristigkeit ins Kalkül, die dem Ziel widerspricht, langfristig Vertrauen aufzubauen.

mm.de: Und das legt letztlich die Axt an unser Wirtschaftssystem?

Pies: Die Gefahr besteht. Unternehmen sind Wertschöpfungsagenten im gesellschaftlichen Auftrag. Wenn die Gesellschaft den Eindruck gewinnt, dass dieser Auftrag nicht ordentlich erfüllt wird, dann kann sie den Firmen die Geschäftsgrundlage auch wieder entziehen.

mm.de: Durch Verstaatlichung?

Pies: Das wäre nur die extreme Form. So weit sind wir noch nicht. Aber dass marktfeindliche Reglementierungen zunehmen, sieht man doch schon allenthalben. Denken Sie nur an die Mindestlohndebatte - da vermitteln Politiker in der Öffentlichkeit den Eindruck, sie könnten dem Markt verordnen, Beschäftigte mit niedriger Produktivität deutlich höher zu bezahlen. Das ist Unfug.

So wird das nicht funktionieren. Und diese Debatte bricht über uns herein, nachdem wir nun über Jahre hinweg eine anspruchsvolle Diskussion zum Kombilohn geführt haben, die den Blick darauf gelenkt hat, dass man zum Abbau der strukturell verfestigten Arbeitslosigkeit den Markt wieder stärker in Kraft setzen sollte, anstatt ihn immer weiter außer Kraft zu setzen. Aber es ist, als hätte man in all den Jahren nichts gelernt. Im Gegenteil: Wir schaffen uns hier sehr gefährliche Interventionsspiralen. Mich macht das nervös.

mm.de: Warum? Weil die Marktwirtschaft als System in Frage gestellt wird?

Pies: Nein, gar nicht. Die Systemfrage ist wichtig und legitim. Es wäre dumm, sie nicht zu stellen. Ich ermutige die Studierenden jeden Tag dazu. Aber mich stört der Populismus der gängigen Antworten, die in den Medien kursieren. Wir leisten uns eine öffentliche Diskussion unter Niveau. Jedenfalls schwebt da ein Damoklesschwert über der Marktwirtschaft, auch über der Demokratie, weil staatliche Direktiven am Ende nicht das gewünschte Resultat - mehr Wohlstand für alle - liefern werden. So erzeugt man nicht Inklusion, sondern neue Exklusion. Die Situation ist fragil. Das macht mir Sorgen.

"Bunkermentalität und Populismus"

mm.de: Ganz simpel gefragt: Wer ist schuld daran - die Manager, die Politiker?

Pies: Beide Seiten tragen zum Problem bei. Wir haben es hier mit einem spezifisch deutschen Phänomen zu tun: einer zunehmenden Kluft zwischen zwei Funktionseliten, die mittlerweile lieber übereinander als miteinander sprechen. Bei den Managern dominiert eine Art Bunkermentalität: Für die Marktwirtschaft zu streiten, ist ihre Sache nicht. Viele fühlen sich einfach überfordert, sobald es über das eigene Unternehmen hinausgeht.

mm.de: Ist diese Distanz zwischen Wirtschaft und Politik das eigentlich ein typisch deutsches Phänomen? In anderen Ländern stehen sich die Eliten näher.

Pies: In Deutschland hatte es Tradition, dass die Wirtschaft von der Politik mit Legitimation fremdversorgt wird. Jetzt stellt man fest, dass diese Fremdversorgung zunehmend ausfällt. Nun käme es auf eigenständige Legitimationsanstrengungen an. Aber stattdessen reagieren viele Manager mit offenkundiger Orientierungs- und Hilflosigkeit.

Viele Politiker wiederum verstehen die ökonomischen Zusammenhänge nicht oder versuchen opportunistisch, wider besseres Wissen, den Eindruck zu erwecken, sie könnten mit abstrusen Regulierungen die Lage der Bürger verbessern. So hangelt man sich von Wahlkampf zu Wahlkampf. Aber das ist Taktik ohne Strategie. Auf Dauer tun sich die Politiker damit keinen Gefallen.

mm.de: Derzeit verschlechtert sich das Verhältnis weiter im Zuge der Liechtenstein-Affäre.

Pies: Ja, und das ist eine schlimme Entwicklung. Denn da geht es ja nicht nur um dicke Luft. Es geht um Einbußen gesellschaftlicher Selbststeuerungsfähigkeit.

Die aufgeheizte Stimmung durch die Liechtenstein-Razzien macht das sehr deutlich: Die Rede von den "Neuen Asozialen" ist kein Schritt nach vorn, sondern ein Schritt zurück auf dem Weg, die vor uns liegenden Herausforderungen gemeinsam anzupacken.

Wie aber wollen wir den Berg unerledigter Strukturprobleme in Deutschland jemals abtragen, wenn die führenden Personen in Wirtschaft und Politik kaum mehr aus der Haltung herausfinden, sich wechselseitig zu beschimpfen?

Zerstört der Superkapitalismus die Demokratie? Diskutieren Sie mit!

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