Goldman-Sachs-Kolumne Kurzsicht-Politik
Frankfurt am Main - Schon seit einiger Zeit melden die Demoskopen ein generelles Unbehagen unter den Wählern über die ungleiche Verteilung der "Reformrendite". In weiten Teilen der Bevölkerung scheint die Ansicht verbreitet zu sein, nicht ausreichend oder gar nicht am Aufschwung teilzuhaben und stattdessen mit immer neuen Belastungen konfrontiert zu werden. Angesichts dieser weitverbreiteten Stimmung ist es letztlich erstaunlich, wie lange die SPD fest zur Schröder'schen Agenda 2010 gestanden hat.
Wund gerieben durch fortdauernde Umfragetiefs, den Erfolg der Linkspartei und hämische Beileidsbekundungen vieler Kommentatoren, hat der SPD-Vorsitzende Kurt Beck nun den Kurs geändert und plant, die Agenda 2010 deutlich zurückstutzen. Zwar nennt die offizielle Lesart der SPD die geplanten Änderungen eine "Weiterentwicklung", doch machen die bekannt gewordenen Vorschläge klar, dass letztlich eine deutliche Umkehr gewünscht ist.
Nun ist das Aufnehmen von Stimmungen in der Bevölkerung und die entsprechende Adjustierung der politischen Position nichts Ehrenrühriges, zumal für einen Politiker, der sich rühmt, nah dran "an die Leut" zu sein. Dennoch gibt es in der Kehrtwende Becks ein zynisches Element, das man zu Recht kritisieren muss.
Problematisch ist dabei weniger die Tatsache, dass Beck vor noch nicht allzu langer Zeit jede Änderung als populistisch abgelehnt hat. Diese doch recht schnelle Kehrtwende kann als eine lässliche Sünde im Politikbetrieb gelten (dennoch eine Sünde). Bedenklich ist vielmehr der Mangel an echter Diskussion über die Vor- und Nachteile einer Änderung der Agenda. Ohne eine solche Diskussion ist aber keineswegs klar, was letztlich die sozialere Politik ist.
Im Denken der Kritiker der Agenda ist ein Zurückschneiden des Sozialstaates gleichsam per Definition eine unsoziale Tat. Mehrausgaben, an welcher Stelle und durch welchen staatlichen Kanal auch immer, sind demnach stets ein Schritt hin zu mehr sozialer Gerechtigkeit. Dass der Sozialstaat aber seine ganz eigene Dialektik hat, und weniger mittel- und langfristig auch mehr sein kann, wird in der SPD unter dem Druck der Umfragen nicht mehr diskutiert.
Entscheidende Lohnzurückhaltung
Entscheidende Lohnzurückhaltung
Am Rande sei erwähnt, dass in Großbritannien diese eigene Dialektik des Sozialstaats zu Beginn der Amtszeit von Tony Blair unter dem Stichwort "Kultur der Abhängigkeit" diskutiert wurde und dort zu einer Neuausrichtung der Sozialpolitik geführt hat.
Welchen Anteil hat die Agenda 2010 am momentanen Aufschwung? Redlicherweise kann man dies nicht in Prozentzahlen angeben und wird dies auch in Zukunft wohl nicht sagen können. Es spricht allerdings einiges dafür, dass die Agenda keine geringe Rolle gespielt hat. Lohnzurückhaltung in den vergangenen Jahren, darin stimmen die meisten Ökonomen überein, war entscheidend für den starken Anstieg der Investitionen und der Beschäftigung.
Die Bereitschaft der Gewerkschaften zu Lohnzurückhaltung hat aber auch mit der Agenda 2010 zu tun. In der Vergangenheit haben die Gewerkschaften oft wenig Rücksicht auf die Arbeitslosen genommen, da diese im alten System finanziell einigermaßen versorgt waren (die Lohnverhandlungen in Ostdeutschland nach der Wende bleiben ein besonders trauriges Beispiel an Rücksichtslosigkeit).
Mit den Kürzungen der Agenda 2010 ist aber die Furcht vor den finanziellen Folgen der Arbeitslosigkeit unter den Beschäftigten und Gewerkschaftsmitgliedern gestiegen - und damit waren die Gewerkschaften gezwungen, die negativen externen Effekte zu hoher Lohnabschlüsse in einem stärkeren Maß zu berücksichtigen als in der Vergangenheit. Dieser indirekte Effekt der Agenda 2010 scheint mir ein wesentlicher Beitrag zum jetzigen Aufschwung zu sein.
Der größere finanzielle Druck auf die Arbeitslosen hat sicher auch zu einer größeren Bereitschaft geführt, einen Arbeitsplatz zu suchen. So legt eine Untersuchung der Bundesagentur für Arbeit nahe, dass gerade der starke Rückgang der Arbeitslosigkeit bei älteren Arbeitslosen auch auf die Kürzungen bei der Bezugsdauer des Arbeitslosengelds zurückzuführen ist.
Mögliche Szenarien
Mögliche Szenarien
Zugegebenermaßen klingen Lohnzurückhaltung und Kürzung von Arbeitslosengeld nicht sozial ausgewogen. Aber für die Beurteilung, ob eine Maßnahme sozial ist oder nicht, müssen die Alternativszenarien - wie wäre die Lage ohne diese Maßnahmen - benannt werden. Hier sollte sich niemand einer Illusion hingeben: Die dauerhafte Gesundung des Arbeitsmarkts ist der entscheidende Maßstab. Der Sozialstaat steht und fällt, gerade in der globalisierten Wirtschaft, mit dem Arbeitsmarkt.
Der kategorische Imperativ einer langfristig orientierten Sozialpolitik muss deshalb lauten: Handele stets so, dass die angestrebten Maßnahmen den Beschäftigungsaufbau fördern. Denn dann steigen auch die Löhne, wie dies jetzt bereits geschieht, und das hat den Sozialstaat zukunftssicherer gemacht. Das Zurückdrehen der Agenda 2010 wird aber der Beschäftigung schaden und damit auch mittel- und langfristig dem Sozialstaat.
Kurzfristig wird dem Gerechtigkeitsempfinden großer Teile der SPD und der Bevölkerung Genüge getan, bis der nächste Abschwung wieder seine Spuren hinterlässt. Dies soll nicht ausschließen, Änderungen an der Agenda vorzunehmen. Es sollte nur klar sein, was der Preis in entgangener Beschäftigung ist.
Es gibt übrigens noch ein Korrelar zum kategorischen Imperativ der Sozialpolitik: Vermeide Mehrwertsteuererhöhungen, wenn dir am finanziellen Wohlergehen der unteren Einkommensschichten gelegen ist.