Goldman-Sachs-Kolumne Wie neoliberal ist Deutschland?
Fragen nach der richtigen Balance zwischen Staat und Markt, der Verteilung des Einkommens und der Chancengleichheit sind drängende Fragen. Keine dieser Fragen ist leicht zu beantworten, ist man bereit zuzugestehen, dass oft zwangsläufig eine Güterabwägung enthalten ist. Anders formuliert: es ist nicht immer leicht zu sagen, was denn nun die sozialere Politik ist.
Spätestens wenn man den Kreis der Betroffenen nicht nur innerhalb der nationalen Grenzen sieht man also auch Interessen von Arbeitnehmern jenseits der deutschen Grenzen mit einbezieht wird die Sache kompliziert. Aber auch wenn man die längerfristigen Konsequenzen berücksichtigt, zeigt sich oft, dass etwas, was kurzfristig sozial aussieht, langfristig das Gegenteil sein kann.
Von Kritikern neoliberaler Umtriebe in der Politik dass der Begriff neoliberal sich mittlerweile sehr weit von seiner ursprünglichen Bedeutung entfernt hat, sei hier nur am Rande erwähnt wird oft der Eindruck erweckt, der Staat sei in seinem Einfluss auf das Wirtschaftsgeschehen auf breiter Front im Rückzug.
Staatseinnahmen stabil
Tatsächlich ist der Anteil der Staatseinnahmen am Bruttoinlandsprodukt inklusive der sozialen Sicherungssysteme seit Jahren stabil. Seit 2002 schwankt der Anteil um die 44 Prozent (im vergangenen Jahr betrug der Anteil 44.2 Prozent oder 1.018 Mrd. Euro). Den Höhepunkt erreichte der Staatsanteil 1999 mit 47 Prozent. Das jetzige Niveau entspricht damit dem Wert nach der Wiedervereinigung (42 Prozent). Mit einigem Recht kann man also das jetzige Ausmaß der Staatsaktivität als Normalisierung bezeichnen.
Bei den Staatsausgaben ist in der Tat ein signifikanter Rueckgang zu sehen. Hier lag der Anteil bei 45.9 Prozent in 2006 verglichen mit dem Höhepunkt von 49.9 Prozent in 1996 und 47.1 Prozent in 1991. Nun kann man sich trefflich darüber streiten, wie hoch der Anteil sein sollte. In der Tat gibt es Anzeichen dafür, dass es im Bereich der öffentlichen Investitionen Nachholbedarf gibt. Gleichzeitig scheint mir das jetztige Niveau aber nicht ein Indiz für einen 'abgemagerten' Staat zu sein.
Einkommen werden ungleich verteilt
Ein anderer wichtiger Punkt ist die Einkommensverteilung. Hier zeigt sich ein Trend zu steigender Ungleichheit. So ist zum Beispiel der Gini-Koeffizient, ein oft verwandtes Maß zur Messung der Einkommensverteilung, seit der Wiedervereinigung angestiegen und signalisiert damit eine größere Ungleichheit bei den Einkommen (nach Steuern/Abgaben und staatlichen Transfers).
Selbst wenn man nur Westdeutschland anschaut, um einen Wiedervereinigungseffekt auszuschließen, zeigt sich ein ähnliches Bild. Bei genauerer Betrachtung der Daten zur Einkommensverteilung zeigt sich, dass vor allem das zweite und dritte Zehntel der Einkommensverteilung verloren haben, während das achte und neunte Zehntel an Einkommensanteil hinzugewinnen konnten. Der Anteil des untersten und obersten Zehntels ist hingegen von 1994 bis 2004 stabil geblieben.
Die tief greifende Restrukturierung des deutschen Unternehmenssektors als Reaktion auf den Umbau des deutschen Finanzsystems und die Globalisierung/EU Osterweiterung sind weitere wesentliche Faktoren hinter der Zunahme der Ungleichheit der Einkommensverteilung.
Stagnierende Löhne, steigende Kapitaleinkünfte
Stagnierende Löhne, steigende Kapitaleinkünfte
Im Zuge der Lohnzurückhaltung ist beispielsweise der Anteil der Löhne am Volkseinkommen von etwa 72 Prozent im Jahr 2000 auf 64.6 Prozent im ersten Quartal 2007 zurückgegangen. Spiegelbildlich ist der Anteil der Gewinne und Kapitaleinkünfte gestiegen. Die momentanen wirtschaftlichen Erfolge deutscher Unternehmen sind also nicht überall gleichmäßig angekommen.
Zweierlei ist allerdings zu berücksichtigen. Ersten hat sich das Wachstum bei den Löhnen mittlerweile wieder beschleunigt. Zwar ist der Anstieg über die gesamte Volkswirtschaft hinweg nach wie vor moderat, aber den Wendepunkt beim Lohnwachstum dürften wir überschritten haben. Mit dem starken Anstieg der Beschäftigung wird sich das Wachstum sicher noch etwas beschleunigen.
Lohnzurückhaltung ist Grundstein für den Aufschwung
Zweitens ist immer die Frage zu stellen, was gewesen wäre, hätte es keine Lohnzurückhaltung, Hartz-Reformen und Restrukturierungen gegeben? Deutschland ist als Standort in den letzten Jahren deutlich attraktiver geworden. Ohne die Phase der schmerzvollen Anpassung würde es kein starkes Wachstum bei den Investitionen und der Beschäftigung geben. Dies ist jedoch letztlich eine notwendige Voraussetzung dafür, dass sich die Einkommensverteilung auf die mittlere Sicht wieder in die andere Richtung entwickelt.
Zu einem gewissen Grade ist es tragisch, dass die SPD nicht ihren Frieden mit den Schröder-Reformen und dem zurückliegenden strukturellen Wandel machen kann und stattdessen einen neo-liberalen Popanz aufbaut. Eigentlich sollte sie in einer komfortablen Lage sein und könnte den Aufschwung, zumindest mit mehr Recht als die CDU/CSU, für sich reklamieren.
Da aber im Denken eines großen Teiles der SPD ein Abbau von Sozialleistungen und Flexibilisierung des Arbeitsmarktes nur Schlechtes bringen kann, muss sie Opposition zu ihrer eigenen Politik machen. Was letztlich sozialer ist, ist schwieriger zu beantworten als die reflexhafte Kritik einer vermeintlichen neo-liberalen Politik suggeriert.